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SPD-Innenexperte: "Merkel ist kausal für die Misere verantwortlich"


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SPD-Innenexperte zu Solingen
"Wir sind im Inneren und Äußeren bedroht"

  • Daniel Mützel
InterviewVon Daniel Mützel

Aktualisiert am 27.08.2024Lesedauer: 6 Min.
urn:newsml:dpa.com:20090101:240826-911-005949Vergrößern des Bildes
Olaf Scholz nach der Terrortat in Solingen: Zieht der Kanzler die richtigen Lehren aus dem Verbrechen? (Quelle: Thomas Banneyer/dpa)
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Was muss die Politik nach Solingen tun? Und wie lässt sich der Terror künftig verhindern? Der SPD-Innenexperte Sebastian Hartmann warnt vor voreiligen Schlüssen – und erhöht den Druck auf Union und FDP.

Nach dem islamistischen Terroranschlag von Solingen mit drei Toten sitzt der Schock tief. Die politischen Parteien liefern sich einen Überbietungswettbewerb an Vorschlägen, doch längst nicht alles davon erscheint sinnvoll oder umsetzbar.

Am Dienstag empfing Kanzler Olaf Scholz (SPD) CDU-Chef Friedrich Merz, der zuvor unter anderem die Abschaffung des Asylrechts im Grundgesetz ins Spiel gebracht hatte. Ist Merz damit zu weit gegangen? Oder hat er eine notwendige Debatte angestoßen?

Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Sebastian Hartmann, weist die Vorschläge des CDU-Chefs scharf zurück. Im Interview mit t-online fordert Hartmann pragmatische Lösungen statt "Parolen" und "billiger Schlagzeilen". Sonst drohe Merz und den Christdemokraten bald eine "brutale Entzauberung."

t-online: Herr Hartmann, nach der Bluttat von Solingen wirkt die Politik wie aufgeschreckt. Täglich werden neue Forderungen gestellt, von denen viele vermutlich nie umgesetzt werden. Was sind Ihre Lehren aus dem Anschlag?

Sebastian Hartmann: Es war bekannt, dass Deutschland im Fadenkreuz des islamistischen Terrorismus steht. In Solingen hat sich auf grausame Weise gezeigt, welche Gefahr von radikalisierten Einzeltätern ausgeht. Wir müssen diese Gruppe noch stärker in den Fokus nehmen. Für eine abschließende Bewertung ist es aber noch zu früh, zuerst müssen wir diesen Anschlag bis ins letzte Detail aufklären. Wie konnte es zu einem derartigen Anschlag kommen? Haben Behörden versagt? Warum hatte die Polizei den Mann nicht im Blick? Jetzt darf kein Stein auf dem anderen bleiben.

Der mutmaßliche Attentäter Issa al-Hassan hätte gar nicht mehr in Deutschland sein dürfen. Immer wieder scheitern Abschiebungen, allein im ersten Halbjahr 2024 waren es nach aktuellen t-online-Recherchen 14.600. Warum bekommen die Behörden das Problem nicht in den Griff?

Abschiebungen sind Ländersache. In Fall von Solingen haben offenbar die zuständigen Behörden in Nordrhein-Westfalen bestehende Möglichkeiten nicht genutzt. Entgegen dem, was die Union jetzt behauptet, waren nicht die bestehenden Gesetze das Problem, sondern ihre Anwendung. Die Landesbehörden hätten Issa al-Hassan abschieben müssen, taten dies aber nicht, weil er offenbar nicht auffindbar war. Laut bisherigen Erkenntnissen soll es nur einen einmaligen Abschiebeversuch gegeben haben. Das ist fatal. Auch wenn der Ruf nach härteren Gesetzen manchmal verlockend klingt: Wir brauchen keine schärferen Gesetze, wenn die bestehenden noch nicht mal angewandt wurden.

Regierung und Opposition sind sich uneins, welche Lehren aus Solingen gezogen werden sollen: Die SPD will die Konsequenzen aus dem konkreten Fall ableiten, die Union fordert gleich einen Kurswechsel in der Asyl- und Migrationspolitik. Lässt sich die SPD auf die Diskussion ein?

Ich warne Herrn Merz vor Ablenkungsdebatten. Dass er jetzt die Abschaffung des Asylrechts fordert, täuscht doch nur darüber hinweg, dass Behörden vor Ort möglicherweise nicht alle Möglichkeiten genutzt haben. Es gibt ein Aufenthaltsrecht, das in diesem Fall offenbar nicht vollzogen wurde. Ein Geflüchteter ist ja nicht per se Islamist, sondern ein Flüchtling flieht in der Regel vor Islamisten. Daher müssen wir auch nicht das Asylrecht abschaffen. Die Länder sind für die polizeiliche Gefahrenabwehr zuständig. Warum ist dieser islamistische Gefährder nicht in den Blick genommen worden?


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In Solingen hat sich auf grausame Weise gezeigt, welche Gefahr von radikalisierten Einzeltätern ausgeht.


SPD-Innenexperte Sebastian Hartmann


Aber ist es nicht legitim, angesichts dieser grausamen Tat auch grundsätzlichere Fragen zu stellen? Auch in der Bevölkerung setzt sich zunehmend der Eindruck durch, dass der Staat einen Teil seiner Kontrolle abgegeben hat, weil er gar nicht mehr weiß, wer alles nach Deutschland einreist.

Das, was die Union derzeit an angeblichen "Knallhart-Forderungen" in den Raum stellt, hat entweder nichts mit dem Fall zu tun oder ist schlicht unrealistisch. Leider agiert Merz als reiner Oppositionsführer auf der Suche nach der billigen Schlagzeile. Ich fordere etwa seit Jahren, dass wir Straftäter auch nach Syrien und Afghanistan abschieben. Und ich bin der Erste, der für Gesetzesverschärfungen ist, wenn sie Sinn machen. Aber der Vorschlag des CDU-Chefs ist eine Nebelkerze: Er versucht davon abzulenken, dass die CDU-geführte Landesregierung in NRW möglicherweise in Solingen erheblich versagt hat. Hinzu kommt: Er hat doch sicher keine Mehrheit in der schwarz-grünen Landesregierung für diese Vorstöße.

Sprechen wir über konkrete Vorschläge. Viele Polizeien klagen über Personal- und Ressourcenmangel, während zugleich die Aufgaben – Stichwort stationäre Grenzkontrollen – zunehmen. Muss der Staat mehr in seine innere Sicherheit investieren?

Die Friedensdividende haben wir seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation mehrfach verfrühstückt, ob im Bevölkerungsschutz, bei der Bundeswehr oder eben in der inneren Sicherheit. Die Schönwetterphase ist vorbei, daher muss jetzt etwas passieren. Die nötigen Investitionssummen sind riesig.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte im Zuge des Haushaltsstreits einen deutlich höheren Etat 2025 gefordert, am Ende bekam sie eine Milliarde Euro mehr. Bleibt es dabei oder werden Sie bei den anstehenden Haushaltsberatungen im Parlament für einen weiteren Zuwachs werben?

Nancy Faesers Etat ist beim Haushaltsentwurf der Ampel zwar privilegiert worden. Aber die eine Milliarde ist nur der Anfang. Wir sind im Inneren und Äußeren bedroht, und darum kann ich nicht nachvollziehen, dass Herrn Lindner die Einhaltung der Schuldenbremse wichtiger ist als die innere Sicherheit. Wir werden uns in den nächsten Wochen im Parlament genau damit beschäftigen, wo wir zusätzliche Mittel brauchen, um unsere Bürger zu schützen.

Sollte die Schuldenbremse ausgesetzt werden, um die innere Sicherheit zu stärken?

Wir sollten darüber nachdenken. Ich will aber nicht nur über neue Schulden reden. Ich erwarte auch, dass diejenigen mit den größten Einkommen und Vermögen einen höheren Beitrag dazu leisten, dass wir eines der stärksten und sichersten Länder der Welt bleiben. Wer glaubt, dass eine Konfrontation mit Putin nur in der Ukraine stattfindet, hat sich geschnitten. Wir erleben versuchte Anschläge auf unsere kritische Infrastruktur, wir sind bedroht durch den internationalen Terror. Sicherheit hat Vorrang, auch in der Haushaltspolitik.

Kanzler Olaf Scholz versprach vor einer Weile Abschiebungen "im großen Stil", jetzt hat ein Mensch, der längst nicht mehr hier sein sollte, eine solche furchtbare Tat begangen. Verstehen Sie, dass Bürger der Politik immer weniger Vertrauen entgegenbringen, dass sie in dieser Sache liefert?

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Wir brauchen weniger Parolen und mehr Ergebnisse. Wir haben die Zahl der Rückführungen erhöht und auch mehr Abschiebungen vollzogen. Das reicht noch nicht, hier müssen wir noch besser werden. Aber ich warne vor einem Überbietungswettbewerb im Wahlkampf, wie ihn die Union gerade veranstaltet. Am Ende wird das nur zur brutalen Entzauberung der Christdemokraten führen. Merz vergisst auch, dass die damalige CDU-Kanzlerin Angela Merkel kausal für die heutige Misere verantwortlich ist. Er kann sich also nicht einfach aus der Verantwortung stehlen.

SPD-Chefin Saskia Esken sagte einen Tag nach dem Solinger Anschlag bei "Caren Miosga", dass sich daraus "nicht allzu viel lernen" lasse, weil der Täter offenkundig nicht polizeibekannt gewesen sei. Sehen Sie das auch so?

Aus jedem Tatgeschehen kann etwas abgeleitet werden. Hier sind drei Menschen zu Tode gekommen, mehrere Personen sind schwer verletzt worden. Jeder muss sich hinterfragen, Bund und Länder. Was hat in der Zusammenarbeit nicht funktioniert? Wurden Erkenntnisse mit kommunalen Behörden nicht geteilt? Wie kann es sein, dass ein islamistischer, radikalisierter Einzeltäter durchs Raster fällt? Das ist man jedem Opfer schuldig. Daher müssen jetzt die Innenausschüsse auf Bundes- und Landesebene tagen. Ich will dem Ergebnis nicht vorweggreifen. Aber ich würde mich davor hüten, zu behaupten, dass man aus einem solchen schweren Terroranschlag keine Schlussfolgerungen ziehen kann.

Braucht die Polizei mehr Befugnisse?

Ich fordere seit Langem, dass wir eine europarechtskonforme Verkehrsdatenspeicherung einführen, um der Täter besser habhaft zu werden und Wege der Radikalisierung früher zu erkennen. Ich habe zudem seit Jahren verschiedene Vorschläge eingebracht, sei es ein verbesserter Datenaustausch oder eine Verschärfung des Waffenrechts. Das ist bisher beides an der FDP gescheitert.

Welche weiteren Ansätze gibt es, etwa im digitalen Bereich?

Ich habe immer wieder dafür geworben, dass wir die Behörden im digitalen Raum besser aufstellen, vor allem was Terrorabwehr und den Schutz kritischer Infrastrukturen betrifft. Die heutigen Datenmengen sind enorm, die potenziellen Gefahren aus dem Netz vielfältig. Dafür brauchen die Behörden mehr Ressourcen und die entsprechenden Mittel: Bei der Identifikation von Zielpersonen müssen Beamte auch auf Künstliche Intelligenz zurückgreifen dürfen. Ich will nicht, dass der Algorithmus entscheidet, aber es geht darum, Polizeibeamte etwa beim Durchsuchen großer Datenmengen zu unterstützen. Eine solche KI-gestützte Videoauswertung für unsere Polizei brauchen wir jetzt.

Auch das schien bisher mit der FDP nicht zu machen zu sein. Einen weiteren Vorschlag von Nancy Faeser zur heimlichen Durchsuchung von Terrorverdächtigen nannte Justizminister Buschmann (FDP) neulich gar einen "absoluten Tabubruch". Müssen sich die Liberalen bewegen?

Ja, das ist bitter. Die FDP muss sich jetzt kritische Fragen gefallen lassen. Die Liberalen unterliegen offensichtlich einem massiven Irrtum über den liberalen Rechtsstaat. Wer den Rechtsstaat so versteht, dass man Sicherheitsbehörden Befugnisse vorenthält oder sich hinter Datenschutzargumenten versteckt, hat einen wichtigen Grundsatz nicht verstanden.

Und der wäre?

Dass es um den Grundrechtsschutz von unbescholtenen Bürgern und potenziellen Verbrechensopfern geht. Das ist das große Missverständnis der FDP: Der Rechtsstaat ist nicht dann stark, wenn die Behörden schwach sind, sondern erst stark, wenn die Behörden durchsetzungsstark sind. Sicherheit ist die Voraussetzung einer freien und offenen Gesellschaft. Wer sich nicht sicher fühlt, kann auch nicht eine Freiheit ausleben. Hier muss die FDP den Kurs ändern. Das hätte sie ehrlicherweise schon vor der Tat tun müssen.

Herr Hartmann, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Sebastian Hartmann
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