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Gaskrise: Tiefe Beunruhigung, Hektik – und eine Ahnung


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Tagesanbruch
Tiefe Beunruhigung, Hektik – und eine Ahnung

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 30.09.2022Lesedauer: 5 Min.
Eines der Gaslecks in der Pipeline Nord Stream 2, fotografiert aus einem Flugzeug der schwedischen Küstenwache.Vergrößern des Bildes
Eines der Gaslecks in der Pipeline Nord Stream 2, fotografiert aus einem Flugzeug der schwedischen Küstenwache. (Quelle: Swedish Coast Guard/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Geld schießt keine Tore, heißt es im Fußball. Abseits des Bolzplatzes jedoch ist Geld eine wirksame Waffe. Glücklicherweise hat Deutschland genügend Zaster, um ihn in schlimmen Zeiten in eine Wumme umzuwandeln: Während Corona war es die Bazooka, mit der Olaf Scholz, damals noch als Finanzminister, auf die Lockdown-Schäden feuerte: Peng, 130 Milliarden! Nach Putins Angriff auf die Ukraine zückte er, mittlerweile als Kanzler, die Verteidigungswaffe, taufte sie "Sondervermögen" und drückte sie den Bundeswehrgenerälen in die Hand: Piff-paff, 100 Milliarden! Es folgte das erste, zweite und dritte Entlastungspaket gegen Inflation und steigende Energiepreise: Bäng, bäng, bäng, 95 Milliarden! Und weil das alles nicht reicht, um die Lage in den Griff zu kriegen, folgt nun auch noch die Geldkanone gegen die Gaskrise: Bumm-bumm, 200 Milliarden!

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Weil Putin uns den Hahn zudreht und womöglich auch die Ostsee-Pipelines sprengen ließ, gucken wir in die Röhre. Bis genug Flüssiggas LNG von den Amis und den Arabern bereitsteht oder gar Windkraft und Wasserstoff, werden noch Jahre vergehen. Bis dahin ist Gas das neue Gold: Die ganze Welt reißt sich wie Junkies um den Stoff, und wer ihn haben will, muss tief in die Tasche greifen. Schon jetzt ist absehbar, dass der astronomische Gaspreis die deutsche Industrieproduktion existenziell gefährden kann. Und damit auch unseren Wohlstand, unsere Sicherheit. In Vorstandsetagen von Chemie-, Auto- und Maschinenbaukonzernen feilt man bereits an Notfallmanövern, um überhaupt noch profitabel produzieren zu können: Deutsche Standorte könnten nach Indien, Indonesien, Südafrika abwandern, Zigtausende Arbeitsplätze wären futsch. Immer mehr Unternehmen schlagen Alarm, weil ihnen die Insolvenz droht, berichten unsere Reporter Johannes Bebermeier, Sven Böll und Fabian Reinbold. Zugleich springt die Inflation auf den höchsten Wert seit 1951.

Im Berliner Regierungsviertel herrscht seit dem Angriff auf die Ostseeröhren Aufregung, denn nun ist klar: Selbst wenn der Ukraine-Krieg absehbar enden sollte, selbst wenn der Verbrecher Putin irgendwann weg vom Fenster ist, wird sobald kein billiges Gas mehr in ausreichenden Mengen nach Deutschland strömen. Wir haben es jetzt nicht mehr mit einer akuten, sondern wohl mit einer jahrelangen Notsituation zu tun. Das deutsche Wirtschaftsmodell steht infrage. Das ist die Stimmung in Ministerien und Vorstandsetagen: tiefe Beunruhigung, Hektik und die Ahnung, dass die gute alte Zeit unwiederbringlich vorbei ist.

Deshalb ist es sinnvoll, dass der Kanzler und seine Stellvertreter Habeck und Lindner die ganz große Wumme auspacken. Wo Mangel herrscht, explodieren die Preise. Also muss der Staat dafür sorgen, dass Bürger und Firmen überleben können, und das ist angesichts des Winters durchaus wörtlich zu verstehen. Die Ampelregierung packt auf den Schuldenberg im Bundeshaushalt noch einen Mount Everest aus Euro-Münzen drauf und macht aus dem Jahr 2022 wohl das teuerste in der Geschichte der Bundesrepublik. Wer nun wie profitieren soll, lesen Sie hier. Dass die Schuldenbremse dann im kommenden Jahr trotzdem irgendwie hält, ist eher Hoffnung als Versprechen.

Sie wissen ja, liebe Leserin und lieber Leser, dass ich gern die hellen Seiten des Lebens betone. Ich bleibe dabei: Auch diese tiefe Krise werden wir überwinden, weil wir stark, kreativ und solidarisch sind. Aber den Realitäten ins Auge schauen müssen wir schon: Die kommenden Monate, vermutlich auch Jahre werden eine gewaltige Herausforderung. Haken wir uns also unter. Und begrüßen wir sogar als friedliebende Zeitgenossen die Geldkanone.


Putins perfides Manöver

Das Drehbuch erinnert an die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014: Schon damals besetzte Russland illegal Staatsgebiet der Ukraine, führte ein Scheinreferendum durch und verleibte sich dann die Halbinsel ein. So macht es Putin jetzt auch mit den besetzten Provinzen Saporischschja, Cherson, Donezk und Luhansk: Nachdem am Dienstag die mit Gewalt und Einschüchterungen durchgepeitschten Pseudo-Abstimmungen beendet waren, baten am Mittwoch die vom Kreml eingesetzten Separatistenführer offiziell um Aufnahme in die Russische Föderation.

In der Nacht erkannte Putin die Unabhängigkeit der besetzten ukrainischen Regionen Saporischschja und Cherson per Dekret an. Heute Mittag bringt der Kreml die Farce mit einer feierlichen Zeremonie zum Abschluss, bei der diese beiden Regionen sowie Luhansk und Donezk annektiert werden sollen. Dazu ist eine "umfangreiche Rede" Putins angekündigt. Was der Kriegsverbrecher mit diesem völkerrechtlich irrelevanten Schauspiel bezweckt, ist in vielerlei Hinsicht perfide: Intern kann er seine Untertanen mit der Behauptung in den Krieg schicken, sie verteidigten russisches Staatsgebiet. Nach außen kann er noch wirkungsvoller damit drohen, die eroberten Gebiete stünden nun unter dem russischen Atom-Schutzschirm. Zugleich hat er den Einsatz ein weiteres Mal erhöht: Aufgeben kann er das Terrain jetzt nicht mehr, ohne eine krachende Niederlage einzugestehen. Das macht die kommenden Tage und Wochen so heikel.


Tatort auf See

Die mittlerweile vier Lecks an den Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 sind auf einen Sabotageakt zurückzuführen: Das ist Konsens unter den EU- und Nato-Ländern. Wer der Täter war, ist weiter Gegenstand von Spekulationen – wenngleich auf der Hand liegt, dass es im russischen Interesse wäre, Europas Gasmärkte weiter zu destabilisieren und Unsicherheit zu stiften.

Bis Klarheit herrscht, wird es wohl dauern: Derzeit läuft die Auswertung der Radar- und Satellitendaten von Booten, Schiffen und U-Booten, die sich im fraglichen Zeitraum in dem Gebiet aufhielten. Was für den Einsatz von Kampftauchern spricht, erklären Ihnen meine Kollegen David Schafbuch und Frederike Holewik. Frühestens am Wochenende können Fachleute aus Dänemark und Schweden die Lecks untersuchen, denn erst muss das Gas komplett aus den Leitungen entwichen sein. So viel ist aber schon sicher: Nach Berechnungen der dänischen Energiebehörde wird das Klima durch das entweichende Gas massiv belastet.


Was lesen?

Die US-Regierung nimmt Putins Atomdrohungen sehr ernst. Das hat einen speziellen Grund, berichtet unser USA-Korrespondent Bastian Brauns.


Militärisch wird die Lage für Putin immer heikler: Während seine Armee im Osten der Ukraine eingekesselt wird, mündet die russische Teilmobilmachung in Chaos. Unser Auslandsredakteur Patrick Diekmann ordnet die Situation ein.

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Was amüsiert mich?

Man kann's nicht jedem recht machen.

Ich wünsche Ihnen einen zufriedenen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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