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"Wellenbrecher-Lockdown" – Angela Merkels Corona-Coup


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Was heute wichtig ist
Drei Lehren aus Merkels Corona-Coup

MeinungVon Sven Böll

Aktualisiert am 29.10.2020Lesedauer: 8 Min.
Immer schön aufsetzen: Angela Merkel zeigt sich in der Öffentlichkeit fast immer mit Maske.Vergrößern des Bildes
Immer schön aufsetzen: Angela Merkel zeigt sich in der Öffentlichkeit fast immer mit Maske. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

heute schreibe ich stellvertretend für Florian Harms für Sie den kommentierten Überblick über die Themen des Tages.

WAS WAR?

Wer montags bis samstags vorwiegend mit Einkaufen beschäftigt ist und an Sonntagen typischerweise Gottesdienste besucht, wird einen ziemlich normalen November verbringen können. Für alle anderen dürfte der Monat recht eintönig werden. Denn ab nächsten Montag wird Deutschland zum zweiten Mal in diesem Jahr heruntergefahren: In der Öffentlichkeit dürfen sich nur noch maximal zwei Haushalte treffen. Die meisten Veranstaltungen werden verboten, private Übernachtungen in Hotels weitgehend untersagt, Theater, Kinos und Fitnessstudios dicht gemacht.

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Darauf haben sich die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten gestern geeinigt. Weitreichende Maßnahmen, die im Konsens beschlossen werden – was vor kurzem noch illusorisch schien, ist nun möglich geworden.

Es ist ein Corona-Coup, aus dem sich drei Lehren ziehen lassen, die über die aktuelle Pandemie hinausreichen.

1. Die Meinung von Experten zählt am Ende eben doch

Man kann Prof. Dr. Dr. Karl Lauterbach anstrengend finden. Und Prof. Dr. Christian Drosten auch. Sie mahnen und warnen nicht nur einmal, sondern halten sich dran. Im Sommer, als die Pandemie verschwunden zu sein schien, wirkte das häufig übertrieben. Doch in den vergangenen Wochen zeigte sich eben erneut, was der abstrakt daherkommende Begriff des exponentiellen Wachstums konkret bedeutet: Innerhalb eines kurzen Zeitraums verliert man die Kontrolle über Corona. Das gilt für Europa insgesamt, aber eben auch für Deutschland.

Dass es so rasant geht, hat selbst die vorsichtige Kanzlerin nicht erwartet. Es ist gerade einmal vier Wochen her, dass sie davor warnte, dass es an Weihnachten mehr als 19.000 Infektionen pro Tag geben könnte. Das galt vielen als übertrieben. Nun könnte es bereits in wenigen Tagen 20.000 Infizierte geben und damit die Frage im Raum stehen: "Ja, is' denn heut' schon Weihnachten?"

Wohl auch deshalb zog die Kanzlerin vor kurzem die Professoren Lauterbach und Drosten zu Rate, wie es in Berlin heißt. Die beiden schilderten ihr das Konzept eines "Wellenbrecher-Lockdowns". Die Idee: Das öffentliche Leben so weit es irgendwie geht zurückfahren, dadurch die Kontakte zwischen den Menschen drastisch reduzieren und so das exponentielle Wachstum brechen.

Wenige Tage später hatte sich nicht nur die Bundesregierung die Idee zu eigen gemacht, sondern Merkel überzeugte auch die Ministerpräsidenten, die zuletzt eher dadurch aufgefallen waren, individuelle Lösungen vorzuziehen.

Der Beschluss vom Mittwoch zeigt deshalb, dass die Einschätzung von Experten für die deutsche Politik immer noch zählt. Natürlich wird manch ein Ökonom, Bildungsexperte und Digitalprediger nun sagen: "Schön wär's. Viel zu viele unserer Vorschläge landen im Papierkorb."

Doch dieser Eindruck beruht eben auch auf einem Missverständnis: Wissenschaftler können aufschreiben, was sie für richtig halten. Politiker brauchen für ihre Entscheidungen dagegen eine gesellschaftliche Akzeptanz. Und die nimmt in der Regel nur zu, wenn der Druck steigt. Die Agenda 2010 war nur möglich, weil es fünf Millionen Arbeitslose gab. Und die harten Einschränkungen bei Corona sind nur durchsetzbar, weil die Infektionszahlen jetzt im Herbst dramatisch steigen und die Bilder aus den Krankenhäusern in Bergamo vom Frühjahr im kollektiven Gedächtnis gespeichert sind.

Entscheidend ist, dass die Empfehlungen von Experten dann umgesetzt werden, wenn es wirklich darauf ankommt.

2. Unser politisches System funktioniert aller Kritik zum Trotz

Das Leben eines Ministerpräsidenten ist zu normalen Zeiten vergleichsweise angenehm. Ob man das eher beschauliche Bremen mit ein paar Hunderttausend Einwohnern regiert oder Nordrhein-Westfalen mit seinen rund 18 Millionen Einwohnern: In der Regel wird man fast überall liebevoll Landesvater oder -mutter genannt, kann hier Reden halten und dort Bänder durchschneiden – und notfalls nach Berlin zeigen. Denn dort fallen fast alle wichtigen Entscheidungen. Überspitzt formuliert wird in der Landespolitik in guten Zeiten vorwiegend darüber entschieden, wie viele Schulformen es gibt und welche Farbe die Polizeiuniformen haben.

In schlechten Zeiten wie einer Pandemie zeigt sich allerdings, dass die Länder eben doch mehr Kompetenzen besitzen und entsprechend mitzureden haben. Das Problem in einem föderalen Bundesstaat ist jedoch, dass die meisten Bürger in Krisenzeiten weniger auf die Landes- als die Bundeshauptstadt gucken. Dann gilt mehr denn je das Motto: Auf die Kanzlerin kommt es an.

Weil sich natürlich jeder Regierungschef auf seine Art profilieren und nicht nur Beschlussvorlagen aus Berlin abnicken will, kommt es immer mal wieder zu föderalen Selbstblockaden. Gestern hat sich allerdings gezeigt, dass wir eben nicht nur im Kanzleramt, sondern in allen Staatskanzleien verantwortungsvolle Politiker haben. Wenn es wirklich um etwas geht, stellen sie persönliche Befindlichkeiten zurück und folgen einem Pfad der Vernunft.

Das ist längst nicht so selbstverständlich, wie es klingt. Dafür reicht ein Blick nach Großbritannien oder in die USA (siehe unten). Auch in Deutschland gilt natürlich, dass eine gute Erzählung der Entscheidungsfindung stets zuträglich ist. Die Botschaft an die Bevölkerung lautet nun: Wenn wir uns im November zusammenreißen, können wir Weihnachten gemeinsam feiern.

3. Wir müssen alles tun, um wirtschaftlich stark zu bleiben

Dass viele unserer europäischen Nachbarn harte Entscheidungen erst bei viel höheren Inzidenzen getroffen haben, als Deutschland es jetzt macht, hat oft einen banalen Grund: Sie hatten Sorgen, sich einen Teil-Lockdown nicht leisten zu können. Auch bei uns werden die wirtschaftlichen Konsequenzen immens sein – so wie im Frühjahr.

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Der Unterschied zu vielen anderen Staaten besteht aber darin, dass wir die Kosten tragen können. Ein beträchtlicher Teil all jener Milliarden, die wir vor Monaten mobilisiert haben, ist noch nicht verbraucht, weil viele Firmen entsprechende Rücklagen hatten. Und für den Staat wäre es angesichts solider Finanzen auch kein Problem, neue Schulden zu machen. Deshalb sollen nun bis zu zehn Milliarden für das Herunterfahren des öffentlichen Lebens im November mobilisiert und etwa Unternehmen mit bis zu 50 Mitarbeitern mit 75 Prozent ihres Umsatzes des Vorjahresmonats entschädigt werden. Klar, das ist kein voller Ersatz. Aber es ist eben auch nicht wenig.

Natürlich gibt es unzählige Menschen wie etwa Solo-Selbstständige, die trotzdem ein ökonomisch verheerendes Jahr verbringen. Viele Geschäfte, Restaurants und Hotels werden noch schließen. Dennoch lässt sich sagen, dass die deutsche Politik hilft, wo sie kann. Nicht nur im Inland, sondern auch in Europa. Weil das aber nur dank des wirtschaftlichen Erfolgs in der Vergangenheit geht, entsteht daraus auch ein Auftrag für die Zukunft: Wir sollten alles tun, damit das so bleibt.


WAS STEHT AN?

In einer Woche, am frühen Morgen des 4. November, wissen wir vielleicht bereits, ob Donald Trump US-Präsident bleibt oder Joe Biden die Wahl gewonnen hat. Ebenfalls möglich ist allerdings, dass wir länger auf die endgültige Entscheidung warten müssen. Viel wird davon abhängen, ob Trump im Falle einer Niederlage eingesteht, dass er, der nach eigener Lesart eigentlich immer gewinnt, auch mal verlieren kann.

Wer vor einigen Jahren geschrieben hätte, dass offen ist, ob der unterlegene Kandidat einer US-Präsidentschaftswahl seine Niederlage auch tatsächlich anerkennt, wäre für unmittelbar betreuungsbedürftig erklärt worden. Schon allein das zeigt, wie zerstörerisch Trump agiert. Ob die Schäden reparabel sind, die er dem demokratischen System zugefügt hat, wissen wir nicht. Wir können es nur hoffen.

Was wir aber wissen: Viele von uns sind inzwischen abgestumpft. Ein beleidigender Trump-Tweet? Ach ja. Eine offensichtliche Lüge des US-Präsidenten? So ist er halt. Ein Skandal des mächtigsten Menschen der Welt? Nun gut, eben noch einer.

Wie unnormal eigentlich ist, was wir längst als neues Normal betrachten, zeigt ein kleines Gedankenspiel: Wie müsste sich Angela Merkel verhalten, wenn sie so agierte wie Donald Trump?

Sie...

  • ...hätte nach der Nominierung zur CDU-Kanzlerkandidatin für die Wahl 2017 vor mehr als 1.000 Fans eine Rede im Innenhof des Kanzleramts gehalten und danach ein riesiges Feuerwerk zu ihren Ehren über dem Brandenburger Tor bestaunt.
  • ...würde regelmäßig und unangekündigt im Morgenmagazin anrufen und eine Stunde lang ihre Problemchen ausbreiten.
  • ...hätte nach einem Treffen mit dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong Un diesen als "starken Führer" bezeichnet, dem die Menschen aufmerksam zuhörten, wenn er rede – und hinzugefügt: "Ich will, dass meine Leute das gleiche tun."
  • ...würde bei Pressekonferenzen die Vertreter diverser Medien immer wieder als Repräsentanten von fake news beschimpfen und auf kritische Nachfragen auch schon mal erwidern: "Sie sind ein schrecklicher Reporter und sollten sich schämen!"
  • ...würde nach einem Aufenthalt in einem Spezialkrankenhaus mit zig Ärzten erklären, ihre Corona-Erkrankung sei ein Segen Gottes gewesen, und ergänzen, dass jeder Bundesbürger die gleiche Behandlung wie sie bekomme.

Das Uniklinikum Halle stellt am Vormittag die Ergebnisse einer Studie zum Übertragungsrisiko bei Großveranstaltungen vor. Für das Experiment wurden im August bei einem Konzert mit Tim Bendzko Daten erhoben. Rund 1.400 Zuhörer nahmen an der Veranstaltung teil.

Wie das genaue Ergebnis aussieht, weiß ich leider nicht. Ich bin doch keine Maschine.


Das Oberlandesgericht Köln verhandelt am Nachmittag über ein Tina-Turner-Plakat. Die Sängerin hatte Anfang des Jahres ein Verfahren gegen einen Tourveranstalter gewonnen. Damals hatte das Landgericht Köln entschieden, dass ein Werbeplakat für die Show "Simply the Best – die Tina Turner Story", auf dem eine Doppelgängerin abgebildet war, so nicht mehr verwendet werden dürfe. Die Nennung des Namens Tina Turner zusammen mit dem Bild einer Doppelgängerin könne fälschlich den Eindruck vermitteln, dass die echte Sängerin am Musical mitwirke, so die Begründung. Dagegen hatte der Tourveranstalter jedoch Berufung eingelegt.

Welchen Rat Tina Turner dem Veranstalter vermutlich gegeben hätte? We don't need another hero.


Bei einem Videogipfel am Abend beraten die Staats- und Regierungschefs der EU, wie die Staaten in der Corona-Pandemie besser zusammenarbeiten können. Es geht unter anderem um Quarantäneregeln, die Rückverfolgung von Infektionen und Teststrategien. In mehreren Ländern gibt es zudem weitere Verschärfungen: Die Regierung in Madrid will eine Verlängerung des Notstands um sechs Monate beantragen, in Dänemark wird die Maskenpflicht auf alle öffentlichen Räume wie Supermärkte ausgeweitet.

Was als Hoffnung bleibt? Dass wir spätestens im nächsten Sommer wieder gemeinsam die Ode an die Freude mitsummen können. Vielleicht sogar ohne Maske.


WAS LESEN?

Der Streit in der CDU um die Wahl des neuen Parteivorstands ist noch nicht vorbei. Nun fordert mit Sachsen-Anhalt der erste Landesverband eine möglichst rasche Entscheidung. Ähnlich sieht das auch die CDU in Hamburg: Der dortige Parteichef Christoph Ploß sagte meinem Kollegen Tim Kummert: "Ich nehme sehr viele Stimmen wahr, die coronagerecht spätestens im Januar einen digitalen Parteitag durchführen wollen."


Die DWS hat rund 750 Milliarden Euro an Kundengeldern angelegt und ist damit der größte deutsche Vermögensverwalter. Ihr Chef Asoka Wöhrmann rechnet damit, dass uns die Corona-Krise "noch bis mindestens Mitte nächsten Jahres, womöglich bis in den Herbst 2021 begleiten" wird. Außerdem hat er meinen Kollegen Christine Holthoff und Florian Schmidt erklärt, warum er auf nachhaltige Geldanlagen setzt.


Unsere Kolumnisten beleuchten in den kommenden Tagen mit jeweils einem besonderen Blickwinkel die bisherige Ära Trump und wagen einen Ausblick, wie es in den USA nach der Wahl weitergeht. Den Anfang macht heute die Islamwissenschaftlerin und Publizistin Lamya Kaddor.

WAS AMÜSIERT MICH?

Der Politikwissenschaftler Marcel Dirsus twittert normalerweise eher über Kriege und Staatsstreiche. Aber er dachte sich, dass es in dieser "sehr schwierigen Zeit den Leuten guttun würde, auch mal etwas zum Lachen zu haben", wie er mir auf Nachfrage schrieb.

Das ist ihm gelungen: Dirsus hat mehr als ein Dutzend Videos zusammengetragen, die lustige Reaktionen von Angela Merkel zeigen – und sie dann auch noch entsprechend humorvoll betitelt. Die Szene etwa, in der Donald Trump der Kanzlerin beharrlich ein Händeschütteln verweigert, überschreibt Dirsus mit: "Du bist genervt, dass Du während der Pandemie auf Deine Kinder aufpassen musst und willst allen zeigen, wie frustrierend Kindererziehung sein kann?"

Auch wenn Sie sich die kurzen Videos nicht angucken sollten: Starten Sie trotzdem mit einem Lächeln in den Tag! Morgen schreibt an dieser Stelle mein Kollege Daniel Fersch für Sie.

Herzliche Grüße,

Ihr

Sven Böll
Managing Editor t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Twitter: @SvenBoell

Mit Material von dpa.

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