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Corona-Ausbruch bei Tönnies: Das Fleischdrama birgt auch eine Chance


Meinung
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Was heute wichtig ist
Ein perverser Kreislauf

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 25.06.2020Lesedauer: 7 Min.
Mähmaschinen bei der Arbeit auf einem Sojafeld in Mato Grosso, Brasilien.Vergrößern des Bildes
Mähmaschinen bei der Arbeit auf einem Sojafeld in Mato Grosso, Brasilien. (Quelle: imago images/Archivbild)

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Und hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

"Nimmt man die Chance aus der Krise, wird diese zur Gefahr", lautet ein chinesisches Sprichwort. Davon können wir was lernen. In diesen Tagen hat man gelegentlich den Eindruck, dass ziemlich viel Krise herrscht, während die Chancen auf der Strecke bleiben. Der Corona-Ausbruch in der Tönnies’schen Fleischfabrik entwickelt sich zum größten Virus-Brennpunkt in Europa. Vor Monaten waren Ischgl, Bergamo und Straßburg in den Schlagzeilen, heute ist es Rheda-Wiedenbrück. Und wie damals in Tirol, in der Lombardei oder im Elsass bestimmen nach anfänglichem Zögern auch jetzt hastige Notfallaktionen das Geschehen. Die Quartiere der Arbeiter: abgeriegelt. Die Landkreise Gütersloh und Warendorf: weitgehend stillgelegt. Die Behörden: im Dauereinsatz, um Polizeisperren, Tests, Kontrollen zu organisieren. Der Ministerpräsident: politisch unter schwerem Beschuss; im Landtag blies ihm gestern ein Sturm der Empörung entgegen. "Die Führungsschwäche dieser Regierung ist ein Risiko für die Pandemiebekämpfung!", wetterte Oppositionsführer Thomas Kutschaty von der SPD. Die Landesregierung habe zu lange gezögert, durch entschlossene Maßnahmen "zu verhindern, dass eine zweite Infektionswelle über Deutschland und Europa" hereinbricht.

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Vorgestern wollte Armin Laschet noch CDU-Chef und dann am liebsten auch Bundeskanzler werden. Heute muss er sich fragen lassen, ob er schon mit der Führung eines Bundeslandes überfordert ist. Nicht nur in Nordrhein-Westfalen, auch im Rest der Republik mehren sich besorgte Stimmen von Virologen, Unternehmern, vielen Bürgern: Macht der Ausbruch in Westfalen das erfolgreiche deutsche Krisenmanagement gegen die Pandemie zunichte?

Ob Herr Laschet diese Krise politisch überlebt, ist offen. Ob Unvorsichtigkeit, Urlaubsverkehr und möglicherweise weitere Ausbrüche auch überregional bald wieder schärfere Kontaktsperren erfordern? Ebenfalls offen. Eines ist angesichts des Notstands in der Fleischfabrik aber gewiss: Plötzlich fragen sich viele Menschen, was sie da eigentlich auf dem Teller, dem Grill oder zwischen den Brötchenhälften liegen haben. Der schmackhafte Glanz eines Koteletts oder Würstchens passt so gar nicht zu den martialischen Bildern aus den Schlachthallen: im Minutentakt vergaste, zersägte und zerhackte Schweine, Rinder und Kälber. Tierleichen, die an Haken durch Kühlhallen schwingen. Täglich zigtausendfacher Tod. "Der jüngste Corona-Ausbruch führt uns vor Augen, wie zynisch die Massenproduktion von Fleisch ist. Wer kein Vegetarier ist oder ausschließlich auf Bioprodukte setzt, kann den Fall in Westfalen zum Anlass nehmen, seinen eigenen Konsum kritisch zu hinterfragen: Muss wirklich täglich totes Tier auf den Teller?", schrieb ich vergangene Woche an dieser Stelle. Viele Leserinnen und Leser stimmten mir zu, andere gaben zu bedenken: Unser gesamtes Konsumsystem beruht doch auf einem ständigen Mehr und Mehr, nicht nur in der Fleischindustrie. Wenn wir es wirklich verändern wollen, müssen wir über den Tellerrand schauen.

Schauen wir also über den Tellerrand, und damit es nicht zu fleischig wird, bleiben wir zwar im Tierreich, wechseln aber zu einem anderen Produkt: der Kuhmilch. Die gilt als nahrhaft und gesund und erfreut sich vor allem in Europa großer Beliebtheit. Zugleich ist sie ein riesiges Geschäft – und das hat, wie so vieles heutzutage, mit China zu tun. Dort haben in den vergangenen Jahren viele Millionen Menschen den Aufstieg aus der Armut in den Mittelstand geschafft, was ihnen ein besseres Leben beschert – und sie zugleich zur begehrten Zielgruppe internationaler Lebensmittelkonzerne macht. Firmen wie Nestlé aus der Schweiz oder der Danone-Tochter Milupa aus Frankfurt ist es mithilfe einprägsamer Werbung gelungen, chinesischen Eltern die vorgeblichen Vorteile von Milchpulver einzubläuen: Mit ein paar Löffeln täglich würden ihre Kinder größer, stärker, intelligenter. Es hat gewirkt. Rund 20 Milliarden Dollar geben die Chinesen inzwischen für Milchpulver aus – pro Jahr. Eine regelrechte Mafia vertickt die beliebten deutschen Marken zu Höchstpreisen. Dabei gehört Kuhmilch traditionell gar nicht zur chinesischen Küche. Aber nun ist die Nachfrage geweckt und will bedient werden. Ein Bombengeschäft.

Auch für europäische Molkereien. Rund 200 Millionen Tonnen Milch und Milchpulver werden jährlich in Europa produziert – ein Großteil geht in den Export nach Asien und anderswo, subventioniert durch die Europäische Union. Damit die Kühe in den Großställen möglichst viel Milch geben, bekommen sie Kraftfutter aus Soja. Das wiederum stammt aus Südamerika, vor allem aus Brasilien. Angebaut wird es auf Plantagen, die Sie vielleicht in den vergangenen Wochen in der "Tagesschau" gesehen haben: Es sind die makellosen grünen Flächen, die sich in den Regenwald fräsen. Im Schatten der Corona-Krise hat Präsident Bolsonaro die Rodung des Urwalds massiv ausgeweitet, der Rest der Welt war zu beschäftigt, um ihm Einhalt zu gebieten. Umweltschützer wiederum berichten: Fast 40 Prozent der weltweit gehandelten Rohstoffe, für die Urwaldbäume fallen mussten, werden in die EU geliefert. Schon jetzt sind mehr als die Hälfte der weltweiten Tropenwälder verloren.

Soja aus Brasilien für Kühe in Europa, deren Milch als Pulver nach China verkauft wird: Es ist ein durchoptimierter Kreislauf, der bei betriebswirtschaftlicher Betrachtung außerordentlich lukrativ ist. Bei nüchterner Betrachtung ist er pervers. Er zerstört Lebensraum, schadet dem Klima, degradiert Tiere zu Maschinen und verschwendet Millionen an Steuergeld. Ein "Arte"-Film hat das perfide Geschäft mit der Milch dokumentiert.

Zurück nach Rheda-Wiedenbrück. Schauen wir auf das dortige Drama, dann könnten wir ja einfach einmal den Kopf heben, über unseren nationalen Tellerrand schauen und uns fragen: Wollen wir das eigentlich weiter unterstützen, dieses ausbeuterische Geschäft mit Fleisch, Milch, Fisch, Getreide, Zucker, Wasser und vielen anderen Lebensmitteln? Oder stellen wir es infrage und sind bereit, auch unser eigenes Verhalten zu verändern? Wenn wir im Supermarkt vor dem Kühlregal stehen, müssen wir ja nicht nach den Billigprodukten der Konzerne greifen. Umweltverträgliches Einkaufen ist gar nicht so schwer, siehe zum Beispiel hier und hier und hier.

Das eingangs zitierte Sprichwort geht übrigens noch weiter. Vollständig lautet es: "Nimmt man die Chance aus der Krise, wird diese zur Gefahr. Nimmt man die Angst aus der Krise, wird diese zur Chance." Der Corona-Ausbruch in Westfalen sollte uns zu denken geben, aber er muss uns nicht verunsichern. Im Gegenteil, er kann uns sogar bestärken: Wir alle haben die Chance, die Mechanismen der Lebensmittelproduktion zu verändern und unseren Lebenswandel nachhaltig zu gestalten. Wir müssen nur den ersten Schritt tun.

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WAS STEHT AN?

Die Corona-Krise hat die Lufthansa vom Überflieger zum Kriechkranich degradiert. Heute entscheiden die Aktionäre, ob der Staat die angeschlagene Fluglinie retten darf: Die Bundesregierung will sich mit 20 Prozent beteiligen und dafür neun Milliarden Euro springen lassen. Im letzten Moment hat gestern Abend auch der störrische Großaktionär Heinz Hermann Thiele angekündigt, das Rettungspaket nicht mehr zu blockieren. Auch hat es eine Einigung mit der Gewerkschaft UFO auf ein Sparpaket gegeben. Für die Beschäftigten und die Kunden der Lufthansa ist das ein Grund zur Freude – trotzdem bleibt ein schlechter Nachgeschmack, kommentiert unser Wirtschaftschef Florian Schmidt.

Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter wiederum findet, dass sich die Regierung mit ihrer Rettungsaktion erpressbar gemacht hat. Im Interview mit unserem Reporter Johannes Bebermeier fordert er, dass sich Deutschland bei seinem Krisenmanagement lieber an Frankreich orientieren soll.


Der Zar bittet an die Urne: In Russland beginnt die Volksabstimmung über die Verfassungsänderung. Im Kern ermöglicht sie Wladimir Putin das Weiterregieren bis 2360, Pardon, 2036. Damit möglichst viele Menschen ja sagen, gibt es allerhand Zucker obendrauf. Trotzdem ist der Frust vieler Bürger über die darniederliegende Wirtschaft, den teuren Militäreinsatz in Syrien und die grassierende Korruption so groß, dass viele die Abstimmung boykottieren wollen.

Die Medizinische Universität Innsbruck stellt die ersten Ergebnisse ihrer Corona-Antikörper-Studie in Ischgl vor. Sie könnten wertvolle Erkenntnisse im Kampf gegen Covid-19 liefern.

Man sollte es nicht glauben, aber es gibt tatsächlich auch in Deutschland immer mehr Mädchen, die Opfer von Genitalverstümmelung werden. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) legt neue Zahlen und einen Plan gegen die bestialische Tortur vor.


WAS LESEN?

Als im Schlachthof von Tönnies Mitte Mai das erste größere Infektionsgeschehen zu verzeichnen war, kämpfte die Konkurrenz schon seit Wochen mit dem Virus: Die Standorte von Westfleisch in Coesfeld und beim Tochterunternehmen Westcrown mussten schließen. Nun deckt unser Rechercheur Jonas Mueller-Töwe neue Verbindungen auf: Genau in dieser Zeit gab es Treffen von Beschäftigten von Tönnies und Westcrown – sowohl in einer Kirche als auch in einem Restaurant. Später wurden bei den Gästen Infektionen festgestellt. Hier ist sein Report.


Schweden gilt als der Corona-Rebell, weil es anders als das übrige Europa auf strikte Vorschriften verzichtete. Nun bringt die hohe Todesrate die Regierung immer stärker in die Bredouille: Schwedens Sonderweg treibt das Land in die Isolation, berichtet mein Kollege David Ruch.


"Thiago oder nix": So verlangte der damalige Bayern-Trainer Pep Guardiola im Sommer 2013 von den Vereinsbossen die Verpflichtung seines ehemaligen Schützlings aus Barcelona. Die Bosse sagten ja und Amen. Sieben Jahre später steht der Ballvirtuose Thiago jetzt vor seinem Abschied beim Rekordmeister. Ist das gut oder schlecht für die Bayern? Meine Kollegen Amir Addin und Noah Platschko haben sich duelliert.


Erst erhielt das Coupé vier Türen, dann wurde das SUV zum Cabrio: Es gab keine Nische, in die nicht irgendein Autobauer ein Modell hineinpresste. Allein VW listet derzeit ganze 21 Modelle in seinem Angebot. Früher versprach die Modellflut große Gewinne – heute birgt sie gewaltige Probleme. Deshalb beginnen nun viele Hersteller, ihre wuchernden Kataloge auszudünnen. Welche VW-Modelle auf der Kippe stehen, verrät Ihnen unser Autoexperte Markus Abrahamczyk.


WAS AMÜSIERT MICH?

Der ist schon ein verrücktes Huhn, der Mario Lars.

Ich wünsche Ihnen einen vergnügten Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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