Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Amerika steht am Beginn einer neuen Ära
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Nachrichten machen uns schlauer, aber nicht unbedingt weiser. Virenalarm hier, Flüchtlingskrise dort, Friedrich Merz sagt dies und Dietmar Hopp das, irgendwo gab’s eine Razzia, und in Belgien haben sie einen kopflosen Hund entdeckt, hat der Kioskbesitzer von nebenan erzählt, oder war es der Freund vom Kioskbesitzer? Bewaffnet mit Smartphones, auf die ununterbrochen Eilmeldungen, E-Mails, Facebook-Geblödel und WhatsApp-Überflüssigkeiten einprasseln, ergeben wir uns dem Schicksal, das uns der britische Schriftsteller Aldous Huxley schon vor Jahrzehnten prophezeite: Wir sind allesamt hoffnungslos overnewsed but underinformed.
Geblendet von den Scheuklappen der Aufmerksamkeitsökonomie galoppieren wir durch die Zeitläufte, empören uns heute über dieses und lachen morgen über jenes, spendieren hier ein Like und da einen Klick, hören morgens dies und mittags das und wissen abends oft nicht mehr, was das eigentlich war. Darf ich Ihnen ein Experiment vorschlagen? Versuchen Sie sich bitte zu erinnern, welche Themen Deutschland vor einem Jahr, in den ersten Märztagen 2019, bewegt haben. Und, haben Sie’s…? Eben. Ich weiß es auch nicht mehr, habe aber geschwind für Sie nachgesehen: Verheerende Tornados wirbelten durch Amerika, Bundestrainer Löw schickte Hummels, Müller und Boateng in die Pampa, Sahra Wagenknecht gab ihren Rückzug von der Linken-Spitze bekannt, Trumps Wahlkampfmanager Paul Manafort wurde zu fast drei Jahren Gefängnis verknackt. Damals: alles Eilmeldungen und Steilvorlagen für Leitartikel, Analysen, tagelange Debatten. Und heute? Längst von den Wildwasserstrudeln des Nachrichtenstroms fortgespült.
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Warum behellige ich Sie heute Morgen mit dieser Binsenweisheit? Weil ich Sie für eine schlichte Wahrheit sensibilisieren möchte: Sie und ich und alle anderen Menschen, wir sind vergesslich. Wir leben im Augenblick. Hat ein Ereignis keine unmittelbaren Folgen für unser Privatleben oder unser soziales Umfeld, schieben wir Informationen schnell in die Ach-so-na-ja-Schublade, weit hinten in der verstaubten Rumpelkammer unseres Hirns. Das ist in Berlin, Bremen oder Bielefeld nicht anders als in Alabama, Arkansas oder Utah.
In 14 amerikanischen Bundesstaaten haben in den vergangenen Stunden demokratische Wähler ihre Stimmen abgegeben, sie konnten zwischen drei Greisen sowie zwei chancenlosen Frauen wählen. Die Republikaner wählten ihrerseits in 13 Staaten, aber bei ihnen war die Wahl keine Wahl, weil eh alles auf den einzigen Super-Greis hinausläuft. Wenn Sie sich für das Weltgeschehen interessieren, dann haben Sie die Meldungen zu den Ergebnissen des "Super Tuesday" bereits gelesen. Hier finden Sie eine erste Analyse unseres US-Korrespondenten Fabian Reinbold, der heute aus Los Angeles für Sie berichtet. Anschließend schauen Sie vielleicht, was es Neues in der Welt des Sports gibt oder was der Silbereisen/die Lombardi/die Meghan vom Harry gerade macht. Bitte bleiben Sie vorher noch für einen Moment mit mir in Amerika. Ich möchte versuchen, Ihnen zu erklären, was dort abseits des Geschnatters um diesen vielleicht tatsächlich ziemlich super Dienstag geschieht.
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Sie wissen, dass die Vereinigten Staaten alles andere als vereint sind, sie sind ein gespaltenes Land, in dem alle Gräben aufgebrochen sind, die man sich in einer Gesellschaft vorstellen kann: Rechte gegen Linke, Alte gegen Junge, Städter gegen Landbevölkerung, Schwarze gegen Weiße, Weiße gegen Latinos, Christen gegen Muslime, Christen der einen Konfession gegen Christen der anderen Konfession, Waffenbesitzer gegen Pazifisten, Milliardäre gegen Arme, Trump-Fans gegen Trump-Kritiker, ich habe bestimmt ein paar vergessen. Lässt sich diese Gesellschaft wieder versöhnen? Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr!, hören wir die Leitartikler rufen, und nicken zustimmend mit dem Kopf. Wohl wissend, dass dieses zerrüttete, nervöse Amerika auch deshalb so ein brisantes Gegenüber ist, weil es aufgrund seiner Macht und seines Sendungsbewusstseins dazu neigt, seine Konflikte in die Welt zu exportieren – mal als Handelskrieg, mal als echter Krieg, wenn’s gut läuft nur als Kriegsfilm. Die weltpolitischen Ereignisse der vergangenen Jahre und Jahrzehnte sind ein Spiegelbild des Ringens Amerikas mit sich selbst: Kriege für Öl und gegen Terror, für den Demokratieexport und gegen Diktatoren, Finanzkrise und Friedensdiplomatie, humanitäre Hilfseinsätze und Handelskonflikte. Wir sehen die Meldungen und wir sehen ihren Kontext. Aber was wir nicht sehen, das sind die langfristigen Entwicklungen. Sollten wir aber. Denn das Amerika des Jahres 2020 steht am Ende einer Ära und am Beginn einer neuen – und das kann uns hoffnungsfroh stimmen.
Die erste amerikanische Ära des 20. Jahrhunderts dauerte von den Dreißigern bis Ende der Siebzigerjahre und wurde von Präsident Franklin D. Roosevelt geprägt, einem Demokraten und bis heute verehrten Staatsmann. Er führte die Sozialversicherung, den Mindestlohn und die Arbeitslosenhilfe ein, nahm die Banken und Börsen an die Kandare und steckte Milliarden in die öffentliche Infrastruktur. In diesem Amerika konnte ein Tellerwäscher tatsächlich noch den Glauben hegen, es bis zum Millionär zu schaffen.
Die zweite amerikanische Ära des 20. Jahrhunderts wurde Anfang der Achtzigerjahre von Präsident Ronald Reagan eingeläutet, dem bis heute verehrten Altvorderen der Republikaner. Er predigte die uneingeschränkte Herrschaft des Marktes, verteufelte Steuern und machte Politik nach der Trickle-down-Theorie: Tu Gutes für die Reichen und die Unternehmensbosse, dann sickert der Wohlstand irgendwann bis in die unteren Gesellschaftsschichten durch. Und wenn nicht? Dann nicht. Auch die folgenden Präsidenten standen in dieser Tradition. Bill Clinton spendierte Investmentbanken den Abbau scharfer Kontrollen und hielt so das Zündholz an die Lunte, die später zur globalen Finanzkrise führte. George W. Bush verplemperte unzählige Milliarden Dollar für seinen sinnlosen Krieg im Irak, US-Haushälter ächzen bis heute darunter. Barack Obama musste die Scherben der Finanzkrise aufkehren, vermochte der hemmungslosen Geschäftemacherei aber auch nur wenige Schranken zu setzen. Heute, im Trump-Amerika, blühen die Finanzspekulationen ärger als je zuvor, und von seiner Steuerreform profitieren vor allem Reiche, während der Mittelstand unter den Folgen des Handelskonflikts leidet (was Herr Trump meisterhaft zu verschleiern versteht). So gesehen ist "America first" die Parole, die den Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung markiert. Und vielleicht auch ihren Endpunkt.
Denn in Amerika regt sich etwas. Bei unserem schnellen Blick auf die täglichen Nachrichten entgeht uns dieser Wandel, aber er ist da, an manchen Orten lässt er sich fast mit Händen greifen: Immer mehr Amerikaner zweifeln grundsätzlich an ihrem Wirtschafts- und Sozialsystem, das auf der Ausbeutung der Natur, dem Recht des Reicheren und der Benachteiligung von Minderheiten basiert. Immer mehr Amerikaner haben dieses System satt. Nur so ist die enorme Begeisterung für die radikalen, teils revolutionären Forderungen des Linkspopulisten Bernie Sanders zu erklären. Der 78-jährige Präsidentschaftskandidat will eine gepfefferte Vermögenssteuer einführen und damit kostenlose Universitäten, eine staatliche Jobgarantie und den Umbau der Kohle- und AKW-Wirtschaft in eine klimaneutrale Energieversorgung finanzieren. Private Krankenversicherungen will er verbieten und sämtliche Bürger in die staatliche Versicherung aufnehmen (mehr zu Sanders‘ Programm hier).
In den Ohren von Neoliberalen klingen solche Forderungen wie das kommunistische Manifest. In den Ohren vieler Arbeiter in den krisengeschüttelten Bundesstaaten des Mittleren Westens, aber interessanterweise auch in den Ohren vieler junger Arbeitnehmer in der Digitalwirtschaft von Kalifornien, Texas und der Westküste klingen sie wie das Versprechen eines anderen, gerechteren, menschlicheren Amerikas. Eines Landes, in dem jeder eine Chance bekommt, egal, woher er stammt, welche Hautfarbe er hat und wie viel Geld er besitzt. Eines Landes, in dem man sich tatsächlich vom Tellerwäscher zum Millionär emporarbeiten kann.
Man soll vorsichtig mit Prognosen sein, erst recht in Zeiten, in denen sich die Ereignisse permanent überschlagen. Aber diese gesellschaftliche Reformbewegung könnte Amerika ebenso nachhaltig verändern wie es die Ära Roosevelts getan hat. Bernie Sanders ist dafür gar nicht entscheidend, er ist nur ihr augenblickliches Gesicht. Selbst falls er doch noch an Joe Biden scheitert oder später an Donald Trump: Seine Ideen sind auch die Ideen, die Millionen Amerikaner umtreiben. Irgendwann wird ihre Zeit gekommen sein. Wenn nicht 2020, dann vielleicht in viereinhalb Jahren, wenn sich der Vorhang für den Politikclown mit den gelben Haaren spätestens schließt. Dann werden wir vielleicht ein anderes Amerika kennenlernen. Und wer weiß, womöglich werden wir dann sogar ein kleines bisschen weise.
WAS STEHT AN?
Gelingt es heute, in Thüringen einen Ministerpräsidenten zu wählen? Die Fraktionen von Linken, SPD und Grünen schicken Ex-Regierungschef Bodo Ramelow noch mal ins Rennen, für die AfD kandidiert Björn Höcke. Entscheidend ist die Frage, wie die CDU-Abgeordneten sich verhalten. Ab 14 Uhr wissen wir mehr.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gibt im Bundestag eine Regierungserklärung zum Coronavirus ab. Vielleicht erklärt er ja auch, wie die EU-Staaten endlich gemeinsam statt einsam handeln wollen. Parallel beraten die Finanzminister der Eurogruppe darüber, wie sie die wirtschaftlichen Folgen der Epidemie durch Konjunkturspritzen beleben können. Eine gute Nachricht von der Corona-Front zeigen Ihnen meine Kollegen Philip Friedrichs und Adrian Röger: Inzwischen gibt es mehr genesene als infizierte Menschen. Gleichwohl bleibt die Lage fragil. Wenn Sie fortlaufend schnell und solide informiert werden möchten, können Sie die neue Push-Mitteilungsfunktion zum Coronavirus in unseren t-online.de-Apps abonnieren: Hier für Android und hier für Apples iOS.
In Hanau findet am Mittag die Gedenkfeier für die Opfer des rassistischen Anschlags statt, auch Bundespräsident Steinmeier, Kanzlerin Merkel und Hessens Ministerpräsident Bouffier sind dabei.
Die EU-Kommission stellt ihr Klimaschutzgesetz vor. Ursula von der Leyen hat Greta Thunberg dazu eingeladen. Ziel ist es, die Europäische Union bis 2050 klimaneutral zu machen.
WAS LESEN?
Acht Monate: Mehr Zeit bleibt de facto nicht, um ein britisch-europäisches Abkommen für die Zeit ab 2021 auszuhandeln. Das wird nicht reichen, fürchtet Katarina Barley. Die Vize-Präsidentin des Europaparlaments glaubt nicht, dass es so schnell gelingt, die Streitpunkte zu lösen – es sei denn, die Briten lassen sich darauf ein, viele bisherige Regeln beizubehalten. Im Gespräch mit meiner Kollegin Madeleine Janssen warnt Barley die Briten vor überzogenen Forderungen: "Die sollen nicht glauben, dass wir Idioten sind."
Der türkische Präsident Erdogan lässt Flüchtlinge an die griechische Grenze laufen, weil er der EU vorwirft, das gemeinsame Abkommen zu brechen – aber stimmt das? Meine Kollegin Sarah Thust hat den Faktencheck gemacht.
"2015 darf sich nicht wiederholen", sagt Angela Merkels Sprecher Steffen Seibert mit Blick auf die Bilder, die uns von der türkisch-griechischen Grenze erreichen. Doch wäre das eigentlich so schlimm? Die Lehren aus der Vergangenheit zeigen: Deutschland kann Integration, wir müssen uns vor neuen Flüchtlingen nicht fürchten, meint unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld.
WAS AMÜSIERT MICH?
Die haben in Thüringen mächtig was zu sagen, die Berliner CDU-Chefs.
Ich wünsche Ihnen einen mächtig schönen Tag. Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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