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Tagesanbruch: Unser moralisches Versagen


Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.

Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

26.10.2018Lesedauer: 7 Min.
Friedhof in DamaskusVergrößern des Bildes
Friedhof in Damaskus (Quelle: Marko Djurica/reuters)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Das Wahlkampffinale in Hessen, die neueste Volte im Mordfall Khashoggi, verdächtige Päckchen in Amerika: Die Nachrichten überschlagen sich in diesen Tagen wieder einmal. Alles wichtig, alles relevant – trotzdem werden wir die meisten Details in einem halben Jahr vergessen haben. Unsere Aufmerksamkeitsspanne ist im digitalen Zeitalter rapide geschrumpft. Wir huschen von einem Thema zum nächsten, schauen im Schnitt 253 Mal täglich aufs Smartphone, wollen irgendwie alles wissen und das ganz schnell, aber sehen irgendwann den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Von "digitaler Demenz" sprechen Psychologen; "we all are overnewsed but underinformed", nannte es einst der britische Schriftsteller Aldous Huxley. Von Nachrichten überschwemmt, aber trotzdem schlecht informiert – das ist kein guter Zustand. Umso wichtiger ist es, dass wir Journalisten die Informationen sortieren, gewichten, einordnen. Umso wichtiger ist es, dass wir gerade dann, wenn die Mehrzahl der Medien immerzu über dieselben Themen berichten, auch andere Schauplätze in den Fokus rücken, die zu Unrecht im Schatten liegen.

So ein Schauplatz ist Istanbul, und ich spreche jetzt ausdrücklich nicht von dem saudischen Konsulat. Ich spreche von dem Konferenzsaal, in dem sich ab morgen der türkische Präsident Erdogan, Bundeskanzlerin Merkel, Frankreichs Staatschef Macron und der russische Präsident Putin zusammensetzen werden, um über den blutigsten Konflikt unserer Zeit zu sprechen: den Bürgerkrieg in Syrien. Und darüber, welche Wege es nach mehr als sieben Jahren Verwüstung mit mehr als 400.000 Toten und fast zwölf Millionen Flüchtlingen gibt, diese Tragödie zu beenden.

Ungezählte Diplomaten, Emissäre, UN-Unterhändler sind an dieser Aufgabe gescheitert. Aber nun gibt es tatsächlich eine Chance. Der Siegeszug des von russischen Kampfjets und iranischen Milizen unterstützten Assad-Regimes hat in den westlichen Hauptstädten die Erkenntnis reifen lassen, dass eine Friedenslösung oder zumindest ein dauerhafter Waffenstillstand nur im Ausgleich und unter der Macht Moskaus erfolgversprechend ist. Umgekehrt hat der Kreml erkannt, dass er zwar den Sieg seiner Marionette Assad herbeibomben, aber ohne Unterstützung und vor allem Geld aus dem Westen keine stabile Nachkriegslösung errichten kann.

Deshalb kommen die Chefs der vier Länder nun zusammen und versuchen etwas Ähnliches, was im Jahr 2015 im Abkommen von Minsk zur Eindämmung des Ukraine-Konflikts beigetragen hat: eine west-östliche Reißbrettlösung.

  • Die Türkei und die EU-Länder wollen eine Offensive auf die von islamistischen Milizen kontrollierte Provinz Idlib unbedingt abwenden. Andernfalls rechnen sie nicht nur mit vielen weiteren Opfern, sondern auch mit zigtausend weiteren Flüchtlingen, die sich gen Türkei und Europa aufmachen.
  • Russland scheint vorerst gewillt, die Offensive der Assad-Truppen zu verhindern, benötigt aber Ankara, um eine politische Lösung bei der Opposition durchzusetzen. Außerdem braucht Moskau die Europäer, um den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes zu finanzieren.
  • Weiterhin wollen die Chefs mithilfe der UN ein Komitee einsetzen, das eine neue Verfassung für Syrien ausarbeitet – ein Prozess, gegen den Diktator Assad sich bislang mit Händen und Füßen sträubt.

Bemerkenswert finde ich an diesem Prozess dreierlei: Erstens, dass er endlich, endlich beginnt. Zweitens, dass bei dem Gipfel eine Macht fehlt, die wie die Russen und die Iraner jahrelang selbst mit Elitesoldaten, Waffen und Geheimdienstoperationen in Syrien agiert, aber nun das Interesse daran verloren hat, den Schlammassel aufzuräumen: die USA. Drittens, dass sich insbesondere die EU-Länder endlich stärker engagieren, um das Gemetzel vor unserer Haustür zu beenden. "Denn das syrische Drama ist auch unser eigenes", schreibt die "Neue Zürcher Zeitung". "Es ist unser eigenes moralisches und intellektuelles Versagen vor einem Regime, dessen Barbarei keine Grenzen kennt – und dessen Propaganda mit einer zuverlässigen menschlichen Konstante rechnen darf: mit unserer Bequemlichkeit. Zeugenberichte, Aussagen von Regimekritikern, Push-Meldungen sonder Zahl": Jahrelang blieben sie im Westen ungehört. "Wo Empathie sein müsste, herrschte Amnesie. … Eine kollektive Verdrängungsleistung der westlichen Gesellschaft. Ein moralisches Fiasko."

Sollte es nun enden, wäre Millionen Menschen geholfen. Aber das historische Versagen, das wird nie wieder gutzumachen sein.

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WAS STEHT AN?

Wagenknecht, Habeck, Laschet, Lindner, Meuthen und all die anderen Gesichter dieser Republik: Wir kennen sie aus dem Fernsehen, wenn sie in den Talkshows sitzen oder vor den Mikrofonen der Reporter stehen. Das Interesse an ihnen ist groß, denn sie prägen nicht nur die Politik in Berlin, sondern auch die öffentlichen Debatten. Sie sind uns so vertraut, dass uns kaum mehr auffällt, wo und wann ihre Gesichter auftauchen. Und ob wir die Bilder schon einmal gesehen haben. Im Internet? Im Fernsehen? Mein Kollege Jonas Mueller-Töwe ist einigen dieser Bilder in den vergangenen Wochen nachgestiegen. In mühsamer Kleinarbeit hat er sich die Auftritte der Parteien im Internet angeschaut – und sich sehr gewundert, wie frei einige Parteien und ihre Vertreter mit den Inhalten öffentlich-rechtlicher Sender umgehen. Mit Inhalten, die mit dem Geld produziert werden, das Sie und ich und Millionen andere Bürger über unseren Rundfunkbeitrag beisteuern.

Zuerst fiel meinem Kollegen die Praxis der AfD auf: Die Partei versieht Material von ARD und ZDF mit ihren eigenen Logos und verbreitet es, zum Teil in voller Länge – aber mit markigen Sprüchen versehen. Darüber haben wir bereits berichtet und auch darüber, dass ARD und ZDF nun juristische Schritte prüfen.

Mein Kollege recherchierte weiter und machte auch bei den anderen Parteien die Probe aufs Exempel – und dabei tauchen nun all die bekannten Gesichter wieder auf: Spitzenpolitiker und ihre Parteien verwenden Mitschnitte aus Talkshows und Interviews zum Teil systematisch, um sie als Parteienwerbung im Internet zu verbreiten. Vor allem die Linkspartei sticht dabei hervor, aber auch die Grünen und die Union. Das sei Zitatrecht!, rufen die Parteien und Bundestagsfraktionen. Das sei erlaubt, auch wenn die Sender das nicht genehmigen.

Tja. Zwei namhafte Urheberrechtsexperten sagen exakt das Gegenteil. "Das sind keine Zitate und das ist nicht legal", stellt der Fachanwalt Till Kreutzer im Gespräch mit t-online.de klar. Und die öffentlich-rechtlichen Sender? Prüfen jetzt, ob sie gegen die Parteien vorgehen können. Oder sollen. Oder wollen. Das ZDF hat aber bereits angekündigt, nur solche Inhalte zu beanstanden, die "verfälschend verändert" wurden. Dürfen also Politiker und Parteien mit dem Material des gebührenfinanzierten ZDF nach Belieben Werbung machen, solange sie nur ihr Logo nicht einbauen? Kann das rechtens sein, sind dafür unsere Rundfunkbeiträge gedacht? Darüber können Sie, liebe Tagesanbruch-Leserinnen und Leser, hier diskutieren. Wir sind gespannt auf Ihre Meinung.

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Der Winter kommt näher. Doch, er kommt näher. Ja, ich weiß, ist nicht schön nach diesem fantastischen Sommer und diesem milden Herbst, aber er kommt. Doch, doch. Und wenn Sie nun … Doch, er kommt! So, nun lassen Sie mich aber bitte zum Punkt kommen. Also: So schlimm ist das nämlich gar nicht. Ja, ich weiß, Schneematsch, Bibberkälte, Dunkelheit, bleiche Gesichter und klamme Finger, aber: Auch im Sport beginnt der Winter! Und das ist doch nicht nur tröstlich, sondern auch spannend, mitreißend, herzerwärmend. An diesem Wochenende eröffnen die alpinen Skifahrer in Sölden die neue Weltcup-Saison – und meine Kollegen aus unserem Sportressort haben keine Mühen gescheut, um Sie, liebe Leserin und lieber Leser, für den Winter fit zu machen.

Mein Kollege Tobias Ruf hat im Zillertal mit Deutschlands bester Skifahrerin Viktoria Rebensburg gesprochen, Herren-Bundestrainer Mathias Berthold interviewt und mit Deutschlands großer Hoffnung im Riesenslalom, Stefan Luitz, über dessen Comeback geredet. Mit dem Favoriten-Check der Damen und Herren sind Sie zudem auf die neue Saison bestens vorbereitet. Und wenn Sie schon immer mal wissen wollten, wie man eigentlich professioneller Skifahrer wird und was die Athleten den ganzen Sommer über so machen, finden Sie hier die Antworten. Wie schön, dass der Winter kommt!

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WAS LESEN?

Wie jedes Jahr zieht auch jetzt wieder eine riesige Reisewelle in Richtung Süden. Milliarden suchen Schutz vor Frost und Schnee. Nein, nicht Autos und auch nicht Menschen. Gänse, Schwalben, Kraniche und Finken sind es; die Tiere begeben sich auf ihre anstrengende Tour in die Winterquartiere. Nicht alle überleben die Strapazen. Dass sie allen Gefahren trotzen, um dem deutschen Schmuddelwetter zu entgehen, kann ich gut verstehen. Aber ich frage mich: Warum kommen sie im Frühjahr wieder zurück und bleiben nicht dort, wo es behaglich ist? Mein Kollege Henning Seelmeyer hat meine Frage beantwortet.

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Spannung liegt in der Luft. Das ist nicht nur eine abgegriffene Metapher, sondern eine faktengetreue Beschreibung des Geschehens in einem Kinosaal. Forscher des Max-Planck-Instituts haben entdeckt, dass die Luft in Kinosälen Aufschluss darüber gibt, wie aufregend oder sterbenslangweilig der gerade gelaufene Film gewesen ist. Denn die Aufregung nimmt uns Zuschauer körperlich mit. Wie es sich für einen ordentlichen Kampf- oder Fluchtreflex in Momenten großer Gefahr gehört, spannt das Publikum die Muskeln an und setzt dabei einen Stoff namens Isopren frei, der ausgeschwitzt und ausgeatmet wird. Die Zusammensetzung der Kinoluft ist deshalb eine exzellente Messlatte für den Grad der Aufregung und Nervosität – so gut, dass man daraus die Altersfreigabe von Filmen ableiten kann. Über die entscheidet bisher eine Kommission, die auf ihr Urteilsvermögen setzt. Es könnte sein, dass man sie irgendwann erschnuppert.

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WAS FASZINIERT MICH?

Haben Sie mal einen Moment Zeit für Monster und Traumgestalten? Leuchtende Netze, wabernde Wesen, Geisterhände? Nicht aus den Tiefen des Universums oder einem Fantasy-Roman. Nein, diese hier teilen sich die Welt mit uns, lauern an jeder Ecke. Rätselhaft, auch schön, aber nicht immer sympathisch. Ein Kollege von Darth Vader ist auch darunter. Also viel Glück beim Schauen! Und möge die Macht mit Ihnen sein.

Ich wünsche Ihnen einen glücklichen Freitag und dann ein schönes Wochenende. Wenn Sie mögen, können Sie ab Samstag, 6 Uhr, hier die neue Tagesanbruch-Audiosendung anhören. Dort unterhalte ich mich mit meinem Kollegen Marc Krueger über die Themen dieser und der kommenden Woche. Denn dann könnten die politischen Weichen in Deutschland neu gestellt werden.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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