Tagesanbruch Was heute Morgen wichtig ist
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
herzlich willkommen in einer turbulenten politischen Woche. Hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Das Ergebnis der bayerischen Landtagswahl ist ein Fanal: So wollte ich den Tagesanbruch heute eigentlich beginnen. Die CSU abgewatscht, die SPD ins Bodenlose gestürzt, die Grünen fliegen in den blau-weißen Olymp – erleiden sie in zwei Wochen bei der Hessen-Wahl keinen Dämpfer, sind sie drauf und dran, die SPD als linke Volkspartei abzulösen. Auch der Erfolg der AfD ist bemerkenswert: Zwar fehlen der Partei noch zu viele programmatische Bausteine, um als konstruktive Kraft für voll genommen zu werden, aber mit ihrer migrationskritischen, zum Teil fremdenfeindlichen Rhetorik hat sie viele Stimmen jener Bürger gewonnen, die in der Flüchtlingspolitik ein Desaster sehen und den Verantwortlichen in München und Berlin einen Denkzettel verpassen wollten. Darunter sind offenbar auch Zehntausende enttäuschte CSU-Anhänger.
So wollte ich meine Analyse der Bayern-Wahl beginnen, und dann noch etwas zum Aufstieg der Grünen und dem Niedergang der Roten schreiben, aber dann sah ich gestern Abend den inoffiziellen CSU-Chef Markus Söder im Fernsehen – und war baff: Von Journalisten zum schlechtesten CSU-Wahlergebnis seit mehr als 60 Jahren befragt, sprach der mitverantwortliche Ministerpräsident Sätze wie: "Ja, der Wahlkampf war nicht ganz leicht", "Der eine oder andere war verärgert", und dann, mit routinierter, fast schon frohgemuter Mine: "Die CSU hat einen klaren Regierungsauftrag erhalten". Die Botschaft, die er offenbar aussenden wollte: Ja, blöd, dieses Ergebnis, aber meine Macht lasse ich mir deswegen nicht nehmen. Die Botschaft, wie sie auf mich wirkte: ein Höhepunkt des politischen Schönredens. Stimmt schon, mehr als ein Drittel der Wähler haben ihr Kreuz bei der CSU gemacht – aber für eine Partei, die mal 50 Prozent plus gewohnt war und sich als bayerische Staatspartei versteht, ist das katastrophal wenig. Und dann so ein lässiger Auftritt, keine Zerknirschung, kein Einräumen von Fehlern, kein "Ich habe verstanden." Wie kann man so abgebrüht sein? Oder verlange ich zu viel, handelt es sich einfach um ein bewundernswertes Ausmaß politischer Professionalität?
Während ich noch darüber nachgrübelte, trat der offizielle CSU-Chef vor die Kameras und kommentierte ebenfalls das Debakel seiner Partei – und da war ich noch baffer: Horst Seehofer übertraf Markus Söder im Schönreden sogar noch: Die Niederlage nannte er – da fühlte ich mich kurzzeitig an Orwells "Neusprech" erinnert – ein "nicht gutes Ergebnis". Seine Botschaft: "Regierungsauftrag erhalten!" Jetzt komme es darauf an, "uns dem voll und ganz zu widmen". Auch hier keine Spur von Reue von dem Mann, der die Bundesregierung durch den aberwitzigen Asylstreit in den Abgrund trieb, kein Bedauern, nicht einmal ein "Tut mir leid". Erst später am Abend die Sätze: "Das ist schmerzlich. Es wühlt einen auf" und, ein wenig verschwurbelt: "Man kann über mich diskutieren." Alles in allem: So viel Kaltschnäuzigkeit. Oder setze ich auch hier einen falschen Maßstab an? Ist das halt so in der Politik?
Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick auf die Gründe, die zu der CSU-Niederlage geführt haben. Da ist zuallererst das miserable Agieren der großen Koalition in Berlin, das auf Bayern abstrahlte. Der von Seehofer mit Unterstützung Dobrindts und Söders angezettelte Asylstreit und das fatale Personalmanagement im Fall Maaßen haben bei vielen Bürgern den Zorn über die drei Regierungsparteien entfacht. Viele Menschen bekamen den Eindruck: Die kriegen nichts hin außer sich zu streiten. Also können sie auch keine Probleme lösen. Also bringt es nichts, sie zu wählen. So mögen auch viele Leute in Bayern gedacht haben. Aber allein kann dieser Ärger den Absturz der CSU nicht erklären, die Gründe für das Debakel reichen tiefer.
Die CSU rühmt sich seit Jahren, Bayern erst industrialisiert und dann als Hochtechnologie-Standort etabliert zu haben. Was sie dabei übersah: Mit den vielen Menschen, die nach Bayern zogen, wuchs das Problem der Verknappung. Immer mehr Leute konkurrieren in den boomenden Städten um Wohnungen, Kitaplätze, nahegelegene Schulen. Die CSU versäumte es lange, massiv in den Wohnungsbau zu investieren. Hinzu kam der Amigo-Filz: Wer das CSU-Parteibuch hat, bekommt leichter Zugang zu politischen Entscheidern, profitiert wohl eher von öffentlichen Bauvorhaben. Das nervt viele Leute, die das Parteibuch nicht haben.
Zugleich beschwört die CSU stets ihr Ideal eines traditionellen Bayern: Filzhut, Lederhose, Bierzelt. Doch durch die vielen Zugezogenen ist Bayern heute längst viel facettenreicher als dieses weiß-blaue Klischee. Die Partei hat es versäumt, sich für diese Gruppen zu öffnen: Junge, Migranten und, ja, auch Frauen. Die Führungsgremien der Partei werden von Männern dominiert. Ein Sinnbild dieser Männerdomäne war das Gruppenfoto, das Seehofer mitsamt seiner Führungsmannschaft im Bundesinnenministerium zeigte: neun Männer, keine Frau. Ein Bild wie aus den Fünfzigerjahren. Nach meinem Eindruck waren zudem besonders viele Frauen von der Art und Weise abgestoßen, wie Seehofer die Frau im Bundeskanzleramt immer wieder demütigte.
Und auch das zeigen die Wahlanalysen: Indem er permanent auf dem Thema Flüchtlinge herumritt, rührte Seehofer de facto die Wahlkampftrommel für die AfD. Landespolitische Erfolge der CSU gerieten in den Hintergrund; Probleme rund um Asyl und Migration wurden aufgebauscht. Seehofer ist sowohl mit seiner Politik als auch mit seinem politischen Stil gescheitert, und in der CSU wissen sie das. Deshalb werden sie versuchen, ihn zu entmachten – wenn nicht sofort, dann schrittweise. "Alle wissen, dass es personelle Konsequenzen geben muss", schreibt unser Parlamentsreporter Jonas Schaible aus München. Aber noch "scheint weit und breit niemand da zu sein, der einen erfolgreichen Aufstand wagen könnte".
Und der zweite große Wahlverlierer, Markus Söder? Der Isnogud der CSU hatte als Politiker eigentlich immer nur ein Ziel: Kalif anstelle des Kalifen zu werden. Sein Ehrgeiz ist legendär, selten gelang es ihm, ihn zu verbergen (und meistens wollte er das wohl auch gar nicht). Diese Haltung half ihm jahrelang als Seehofers Herausforderer – aber als Ministerpräsident schadete sie ihm, und Söder merkte das viel zu spät. Das zeigt, wie weit der Mann, der sich so gern bürgernah gibt, in Wahrheit von der Bevölkerung entfernt ist. Ein Machtmensch, dem im Zweifel seine Karriere wichtiger ist als politische Ideale: So wirkt Söder auf viele Menschen.
Und oft ein paar Dezibel zu laut. So, wie Söder beim Flüchtlingsthema lange maßlos übertrieb, von "Asyltourismus" und "Kruzifix statt Kopftuch" schwadronierte, eine apokalyptische Untergangsstimmung heraufbeschwor, die sich mit den Erlebnissen der Menschen im Land schlicht nicht deckte, so übertrieb er auch, als seine Berater Alarm schlugen und ihm zu einem sanfteren Auftreten rieten: Plötzlich lobte Söder Flüchtlingshelfer, beschwor das tolerante Miteinander und all die Brücken, die er zwischen den gesellschaftlichen Gruppen zu bauen gedenke. Es war der Versuch, binnen Tagen vom Hardliner zum besonnenen Landesvater zu mutieren, und er ging mächtig schief. Weil er unglaubwürdig wirkte, weil Söder ihn nicht durch ehrliche Empathie und Anteilnahme zu untermauern vermochte.
Söders Politikstil lebt von der permanenten Übertreibung, der permanenten Fanfare. Wer aber ständig mit vollen Backen in die Trompete trötet, hört es nicht, wenn das Publikum anfängt, kritisch über den Bläser zu tuscheln. Da half auch das Füllhorn nicht, das er bei seiner ersten Regierungserklärung als Ministerpräsident ausschüttete. Söder mag mit Geld um sich werfen – aber er kann sich dadurch keine Authentizität kaufen. Diese zählt jedoch zu den wichtigsten Voraussetzungen eines Kandidaten, um die Gunst von Wählern zu erringen.
Viele konservativ denkende Menschen verstörte Söder mit einem einzigen Satz: "Die Zeit des geordneten Multilateralismus" sei zu Ende, behauptete er mit Blick auf den Brexit und die EU. Es war der Versuch, am rechten Rand Wählerstimmen zu fischen – doch damit stellte er sich konträr zur europafreundlichen Tradition der CSU, die sein großes Vorbild Franz Josef Strauß einst etabliert hatte und in der auch viele Konservative die Basis für Frieden, Freiheit und Wohlstand sehen. Ein Satz wie ein in den Porzellanschrank geschossener Fußball. Damit zerdepperte der Ministerpräsident so viel politisches Geschirr, dass er es bis gestern nicht mehr zu kitten vermochte. "Söders Ausflüge in den Populismus könnten seiner Partei mehr geschadet als genutzt haben", schreibt unsere Politikchefin Tatjana Heid in ihrer Analyse. "Die Wähler wollen lieber mit guter Politik überzeugt werden." Ich finde, das ist ein guter Schlusssatz unter diesem Thema.
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WAS STEHT AN?
Die wichtigsten Termine des Tages in Kürze:
Moment, ganz so schnell sind wir das Thema nicht los, denn nach der Bayern-Wahl ist vor der Hessen-Wahl: Die Spitzen der politischen Parteien werden sich heute in Berlin ausführlich mit dem gestrigen Ergebnis beschäftigen, viel sagen, viel meinen und auch manches verschweigen – die interessantesten Stimmen dürften allerdings jene sein, die nicht nach gestern, sondern nach vorn weisen: Wie geht es weiter in der Union, hören die CSU-Granden jetzt auf, die Kanzlerin permanent zu piesacken? Geht in der CDU mit Angela Merkels schwindender Macht eine Rückbesinnung auf programmatischen Esprit und personelle Extravaganzen einher? Bekommen Kevin Kühnert und die anderen Groko-Gegner in der SPD so viel Rückenwind, dass sie versuchen können, ihre Chefs Andrea Nahles und Olaf Scholz zum Ausstieg aus der Koalition zu drängen? Schlägt die AfD künftig einen gemäßigteren Kurs ein, um auch Bürger zu überzeugen, die von Frau Weidels keifendem Kommandoton und Herrn Gaulands Antichambrieren mit Rechtsextremen abgeschreckt sind? Versuchen die Grünen wirklich, sich zur neuen Volkspartei aufzuschwingen? Hat die FDP auch irgendwas beizutragen? Ab 9 Uhr treffen sich die Parteivorstände, anschließend werden viele Menschen viel in viele Mikrofone sprechen, dann wissen wir mehr.
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Apropos viele: Wie viele Menschen sind denn nun wirklich nach Deutschland ein- und aus Deutschland ausgewandert? Die Zahlen sind brisant, weil politisch. Heute Morgen klärt uns das Statistische Bundesamt auf.
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Ich finde ja, Politiker sollten häufiger dorthin gehen, wo es in Deutschland nicht so gut läuft, wo Arbeitsplätze, Landärzte, Kneipen, Hoffnung fehlen. Machen nicht viele. Deshalb imponieren mir Bundespräsident Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender, die unter dem Motto "Land in Sicht" regelmäßig durch Deutschland reisen und mit Bürgern sprechen. Heute besuchen sie die Oberlausitz.
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Wie ist die Lage in Idlib? Russland und die Türkei, die sich als "Schutzmächte" bezeichnen, in Gestalt von Herrn Putin und Herrn Erdogan aber auch einfach als die mächtigsten Warlords bezeichnet werden können, hatten sich auf eine Frist zur Einrichtung einer entmilitarisierten Pufferzone geeinigt. Diese soll einen Großangriff der syrischen Regierung (und der Russen und der Iraner) abwenden – wenn alle "terroristischen Gruppen" (beziehungsweise Rebellen, je nach Sichtweise) die Zone verlassen haben. Das soll bis heute geschehen. Ich bin gespannt.
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0:3. Gegen die Niederlande. Die Holländer, ausgerechnet! Wer nach dem desaströsen WM-Auftritt der Nationalmannschaft noch nicht von einer Krise des DFB-Teams gesprochen hat, dürfte es spätestens jetzt tun. Die neue Taktik von Bundestrainer Löw? Hat nix verbessert. Seine Führungsspieler? Versuchen nach der Pleite die Probleme kleinzureden. Falls das Team am kommenden Dienstag auch noch gegen Frankreich die Bude vollgeballert bekommt, hilft nur noch eins: ein radikaler Umbruch – ohne Löw und ohne mehrere Weltmeisterspieler. Sagt mein Kollege Florian Wichert – ganz anders sieht es in unserem Pro & Kontra allerdings Heiko Ostendorp. Bleibt die Frage: Welche Alternativen gäbe es überhaupt für Trainerbank und Führungsspieler? Unser Nationalmannschaftsreporter Luis Reiß weiß mehr.
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WAS LESEN?
Jetzt auch noch der Absturz in Bayern: Ist die SPD am Ende? Kürzlich beschrieb ich im Tagesanbruch, wie die Partei sich vielleicht erneuern könnte, um kraftvoll und zukunftsträchtig aufzutreten, wieder mehr Menschen für ihre Anliegen zu gewinnen und bei Wahlen wieder als ernst zu nehmende Kraft aufzutreten. Ein Tagesanbruch-Leser, selbst Anhänger der SPD und selbst unzufrieden mit seiner Partei, wies mich auf einen kurzen Text hin, den die beiden sozialdemokratischen Altvorderen, Hans-Jochen Vogel und Erhard Eppler, geschrieben haben: Sie fordern, die SPD solle sich klarer positionieren und drei Kernpunkte in den Fokus ihrer programmatischen Erneuerung stellen: die drohende Zerstörung der Natur, die Verringerung der sozialen Kluft und die Zähmung des neoliberalen Kapitalismus. Lesens- und bedenkenswert, finde ich.
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WAS AMÜSIERT MICH?
Ich glaube, in meiner harschen Kritik an der CSU habe ich übertrieben. Ich sollte das alles nicht so (bier)ernst und mir lieber ein Vorbild an unserem Cartoonisten Mario Lars nehmen:
Ich wünsche Ihnen einen schwungvollen Start in diese spannende Woche.
Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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