Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Was heute Morgen wichtig ist
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Heute schreibe ich nicht über Herrn Maaßen, nicht über das Versagen von Spitzenpolitikern und auch nicht über das Schuldeingeständnis der Kanzlerin. Heute schreibe ich über Verwirrung. Und über Feigheit.
Vor wenigen Tagen besuchte ich eine Veranstaltung, auf der ein Mann eine Ansprache hielt, der in seiner Branche großes Ansehen genießt. Er ließ sich ausführlich zu einem Thema ein, das hier keine Rolle spielen soll, und beeindruckte die Zuhörer durch seine Fachkenntnis und seine Originalität. Dann kam er auf ein bestimmtes Produkt zu sprechen und versuchte, dessen Vorzüge anhand eines aktuellen Beispiels zu illustrieren. Das Beispiel war: Chemnitz. Ich kann nicht garantieren, dass ich seine Sätze 1:1 wiederzugeben vermag, aber sie klangen ungefähr so: “Wenn man also die Ausschreitungen in Chemnitz gesehen hat… oder besser: die, äh, Ereignisse in Chemnitz, und wenn man diesen Gewaltausbr… oder nein, äh, ich meine, ich möchte mich da nicht festlegen, was das jetzt war, also, der, äh, Vorgang auf den Straßen dort, dann…“.
In diesem Moment bin ich erschrocken. Den Mann auf der Bühne schätzte ich als jeder Voreingenommenheit unverdächtig, ja, eher unpolitisch ein. Aber nun, da er während eines Vortrags zufällig auf Chemnitz zu sprechen kam, traute er sich nicht, die Gewalt, die die sächsische Stadt erschüttert hat, beim Namen zu nennen. Weil er verwirrt war. Und feige. Ich glaube, dass dies weniger mit seiner Persönlichkeit zu tun hat als eher mit unserer gesellschaftlichen Kommunikation in den vergangenen drei Wochen. Ich will versuchen, Ihnen zu erklären, was ich meine:
Die tagelange Debatte über Chemnitz in der Politik, den Medien und den sozialen Netzwerken hat offenbar nicht dazu geführt, dass Klarheit geschaffen wurde, dass die Mehrheit der Bürger sich ein deutliches Bild des Geschehens machen konnte. Die Kakophonie der Berichte, Meinungen, Behauptungen, Gerüchte und Beschimpfungen hat im Gegenteil viele Menschen eher verunsichert, mehr Fragezeichen als Ausrufezeichen produziert. Sie ist ein exemplarisches Beispiel für eine gescheiterte öffentliche Kommunikation, die nun im Fall Maaßen gipfelte.
Wir erleben, dass politische Diskussionen immer wilder, immer härter werden. Immer geht es gleich um alles oder nichts, um Schwarz oder Weiß, um Freund oder Feind. Für Grautöne, Differenzierungen, Nachdenklichkeit bleibt kaum Raum, es dominieren das Klischee und das Stereotyp.
Wir erleben außerdem tiefe Brüche in unserer Gesellschaft und eine wachsende Distanz zwischen der in ihrer Blase blubbernden politischen Elite in Berlin einerseits sowie andererseits vielen Bürgern, die sich abgehängt und von den Blubbernden nicht mehr vertreten fühlen. Gestern telefonierte ich mit einem Tagesanbruch-Leser in Zwickau, der mir einige interessante Sätze sagte. Sie mögen nicht repräsentativ sein, aber sie transportieren eine Stimmung, die mir in diesen Tagen öfter begegnet. Deshalb zitiere ich sie hier:
“Politik wird doch nur noch für Minderheiten gemacht, das beginnt schon in den Kommunen: Für Kulturinteressierte wird die Oper renoviert, Fußballfans bekommen ein neues Stadion, Fahrradfahrer schicke Radwege, Flüchtlinge Taschengeld und Wohnungen, und all das kostet Millionen. Man kann das alles rechtfertigen – aber uns in der Mittelschicht, die wir jeden Tag hart arbeiten, Kinder großziehen und uns in Vereinen engagieren, die wir den Laden in diesem Land am Laufen halten, uns wird das Leben eher schwerer als leichter gemacht. Wir zahlen in die Rentenversicherung ein und wissen jetzt schon, dass wir später nicht genug zum Überleben herausbekommen werden. Wir sorgen durch unsere Kinder für die Zukunft dieses Landes, aber müssen mit ständigem Unterrichtsausfall klarkommen. Wir geben die Hälfte unseres Gehalts als Steuern ab, während viele Unternehmen ihre Abgaben kleinrechnen dürfen. Und wenn die uns dann auch noch betrügen, so wie die Autokonzerne, dann lässt die Politik sie gewähren. Das ist wahnsinnig frustrierend. Und es führt entweder dazu, dass wir uns aus der Gemeinschaft ins Private zurückziehen. Oder dazu, dass wir uns radikalisieren. Genau das geschieht hier gerade. Ich sehe es überall.“
Wie gesagt: Dies ist eine Einzelstimme, aber ich höre dergleichen immer öfter.
Wir erlebten rund um Chemnitz aber auch, dass manche politischen Akteure und teilweise auch wir Journalisten vorschnell Urteile fällten und Schlagworte verbreiteten, ohne sie zu hinterfragen. Merkels Regierungssprecher redete nach den Ausschreitungen vorschnell von “Hetzjagden“, viele von uns Journalisten übernahmen den Begriff ungeprüft. Dabei beschrieb er die Attacken nicht genau genug, weil er in den Köpfen vieler Menschen ein Bild heraufbeschwor, das durch das tatsächliche Geschehen nicht gedeckt war. Zugleich überschlug sich die Kritik an dem Begriff ins Maßlose, Hysterische und überdeckte so in der Wahrnehmung vieler Menschen, dass es tatsächlich schockierenden Hass, Gewalttaten und Rassismus auf den Straßen von Chemnitz gab. Die Menschen wurden verwirrt – so wie der Redner, von dem ich eingangs berichtete. Die Folge ist, dass viele dieser Leute bei der Frage, was wirklich in Chemnitz geschah, nun weder der Politik noch den Medien noch ihrem eigenen Blick auf Fotos und Videos mehr trauen.
Dazu trägt auch die perfide Medienstrategie mancher AfD-Politiker bei, die alle ihnen nicht genehme Informationen in Zweifel ziehen, Halbwahrheiten und Lügen verbreiten. Sie stiften absichtlich Verwirrung, um selbst die Deutungshoheit über das Geschehen zu erlangen und so ihre Macht zu mehren.
Aus all diesen Gründen ist es wichtig, dass wir sagen, was ist. Egal, ob wir Politiker, Journalisten, Redner auf einer Bühne oder einfach Bürger im Büro, am Küchentisch, an der Bushaltestelle oder in der Kneipe sind. Nach der Tötung eines jungen Mannes, mutmaßlich durch einen oder zwei Migranten, gab es in Chemnitz einen schockierenden Gewaltausbruch, es gab Angriffe auf Migranten, Polizisten, Journalisten, SPD-Mitglieder, ein jüdisches Restaurant. Menschen wurden beschimpft, bedroht, geschlagen. Und die Täter waren überwiegend Rechtsradikale, die sich erschreckend gut organisierten. Neonazis und rechte AfD-Aktivisten marschierten Seite an Seite. Dieser Schulterschluss vermeintlich “bürgerlicher“ Kräfte mit Verfassungsfeinden erscheint mir noch viel gefährlicher als die Hetze der Neonazis allein. Da entstehen neue Strukturen am rechten Rand, und sie werden stärker. Das ist eine große Gefahr für unser demokratisches, freiheitliches und liberales Deutschland. Deshalb ist es so wichtig, dass wir den Mund aufmachen und sagen, was ist. Und uns nicht verwirren lassen.
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WAS STEHT AN?
Die wichtigsten Termine des Tages in Kürze:
Jetzt muss ich doch noch ein paar Sätze zu Angela Merkels Schuldeingeständnis im Fall Maaßen sagen. Es ist einerseits gut, dass die Bundeskanzlerin das Postengeschacher unter ihrer Führung (beziehungsweise Nicht-Führung) bereut und dass sie “bedauert“, zu wenig an das gedacht zu haben, “was die Menschen zu Recht bewegt, wenn sie von einer Beförderung hören“. Andererseits klingt diese Begründung schon wieder seltsam steif (warum sagt sie nicht klipp und klar: “Ich habe einen schweren Fehler gemacht, und das tut mir leid“?). Ihre Aussage umweht ein Hauch von Berechnung, von kühler Taktik.
Warum? Darum: Heute Nachmittag um 15 Uhr wählt die 246-köpfige Unionsfraktion im Bundestag ihren neuen Vorsitzenden. Zur Wahl stehen Amtsinhaber Volker Kauder, ein getreuer Merkel-Soldat, der in der Regel immer da steht, wo auch Merkel steht – und sein Stellvertreter Ralph Brinkhaus, der sich nun woanders hinstellt. Er verspricht nämlich frischen Wind und fordert damit nicht nur Kauder, sondern auch Merkel heraus. Er will für den Zusammenhalt im Land kämpfen – aber nicht, indem er alle Gräben mit Steuergeldern zuschüttet, sondern indem er mit den Menschen redet. Anders als Kauder, der sich anfangs niemals mit AfD-Politikern in eine Talkshow setzen wollte, will Brinkhaus verstärkt “mit jenen ins Gespräch zu kommen, die sich von uns abgewandt haben.“ Auch im Mittelstand gebe es immer mehr Protestwähler, “um die wir uns stärker als bisher kümmern müssen.“
Das erinnert mich an mein Telefongespräch mit Zwickau, und das finde ich interessant. Aber für Merkel ist es gefährlich. Der Unmut über die Kanzlerin ist auch in der Unionsfraktion in den vergangenen Tagen stark gewachsen, ein Abwatsch-Ergebnis für Kauder unter 60 Prozent Zustimmung oder sogar ein Brinkhaus-Sieg schien auf einmal möglich. Auch deshalb, weil die Wahl nicht wie sonst per Handzeichen, sondern auf Wunsch der Abgeordneten geheim stattfindet. Dafür werden extra acht Wahlkabinen in den Fraktionssaal bugsiert. Ein Szenario wie geschaffen für eine Revolution oder zumindest ein Revolutiönchen gegen die eher geduldete als geliebte Chefin. Ein Szenario, das erklärt, warum es die Kanzlerin gestern mit ihrem Schuldeingeständnis so eilig hatte. Merke: Aufrichtigkeit kommt sogar bei den Mächtigen vor. Aber gegen Taktik zieht sie immer den Kürzeren.
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Wo befinden wir uns, wenn Donald Trump, Hassan Ruhani, Recep Tayyip Erdogan und Emmanuel Macron nacheinander reden und jeder von ihnen bekommt dafür genau 15 Minuten Zeit, aber keiner von ihnen hält sich daran? Genau: Im UN-Hauptquartier in New York. Heute beginnt die jährliche Vollversammlung der Vereinten Nationen, und natürlich richten sich alle Augen auf den US-Präsidenten. Am Nachmittag eröffnet er die Generaldebatte, morgen leitet er die Sitzung des Sicherheitsrats. Nun fragen sich nicht nur Hunderte Diplomaten, sondern auch die Beobachter in Hauptstädten rund um den Globus: Wird Trump die UN so heftig attackieren wie zuletzt die G7 und die Nato? Gut, dass wir einen Washington-Korrespondenten haben. Noch besser, dass er heute nach New York fährt und von dort für Sie berichtet.
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Seit 1946 haben sich mehr als 1.600 Priester, Diakone und Ordensbrüder des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht. Ein Grauen. Es ist in einer Studie dokumentiert, die die katholische Kirche heute Mittag auf der Deutschen Bischofskonferenz vorstellen will. Es ist der Versuch, sich nach Jahren des Leugnens und Vertuschens endlich ehrlich zu machen. Das kommt viel zu spät. Aber gut, dass es überhaupt kommt. Die Aufarbeitung dieser Schuld sollte trotzdem nicht allein der Kirche überlassen werden. Es braucht mehr Transparenz und einen kritischen Blick von außen. Zum Beispiel durch einen staatlichen Sonderermittler, der alle Abgründe der Kirche schonungslos erhellt.
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WAS LESEN?
Angesichts der Empörung über den Fall Maaßen konnte man den Eindruck bekommen, dass die große Koalition überhaupt nichts mehr hinkriege. Dieser Eindruck ist falsch. Zwar fehlt unter vielen Vorhaben noch der finale Federstrich. Aber wer auf das halbe Jahr schaut, seit diese Bundesregierung im Amt ist, sieht, dass sie schon einiges angepackt, in Bahnen gelenkt, manches sogar schon umgesetzt hat. Von der Asylpolitik über den sozialen Wohnungsbau bis zur Steuerpolitik: Mein Kollege David Ruch hat den Überblick.
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Kennen Sie Mick Schumacher? Sollten Sie aber. Der 19-jährige Sohn von Michael Schumacher rast in der Formel 3 von Sieg zu Sieg und wird gegenwärtig als heißeste Personalie der Motorwelt gehandelt. Schon munkeln manche, dass er bereits in der kommenden Saison in die Formel 1 hochrasen könnte. Mein Kollege Tobias Ruf hat mit dem ehemaligen Rennfahrer und TV-Experten Marc Surer über Schumi junior gesprochen: Ist der schon reif für die Königsklasse? Was zeichnet ihn sportlich aus und wie hoch ist der Druck auf einen jungen Mann, der einen so prominenten Namen trägt? Die Antworten lesen Sie hier.
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WAS AMÜSIERT MICH?
Sie wissen ja: Ich empfehle Ihnen an dieser Stelle gerne Musik. Ich denke, da war schon die eine oder andere Perle dabei. Aber sie waren alle nichts gegen diesen Herrn. Wobei, Moment: Die Hauptrolle in dieser Performance spielt nicht der anwesende Gitarrist. Nein, den Takt gibt hier ein ganz anderer vor. Oder besser: EINE andere. Spektakulär, finden Sie nicht auch?
Ich wünsche Ihnen einen Tag mit viel Schmackes.
Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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