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BKA-Präsident Holger Münch: "Gefahr, die von Hassbotschaften ausgeht, ist groß"


Interview
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BKA-Präsident Münch
"Die Gefahr, die von Hassbotschaften ausgeht, ist sehr groß"

  • Lars Wienand
InterviewEin Interview von Florian Harms und Lars Wienand

Aktualisiert am 16.08.2019Lesedauer: 17 Min.
Holger Münch sieht in Hasskriminalität im Netz eine große Bedrohung für unsere Gesellschaft.Vergrößern des Bildes
Holger Münch sieht in Hasskriminalität im Netz eine große Bedrohung für unsere Gesellschaft. (Quelle: HC Plambeck)

Die Morde an Walter Lübcke und an einem Jungen auf dem Frankfurter Hauptbahnhof haben die deutsche Bevölkerung erschüttert. Wie stellt sich das Bundeskriminalamt für die Verbrechensabwehr auf? BKA-Präsident Holger Münch verrät im Exklusiv-Interview seine Pläne.

Von der Glasfront im Besprechungsraum des Gebäudekomplexes "Treptowers" in Berlin fällt der Blick auf die Elsenbrücke über der Spree, auf der die Autos sechsspurig fahren. Wenn jemand bei Rot über die Ampel fahre, sagt BKA-Präsident Holger Münch im Interview mit t-online.de, dann lasse sich das leicht verfolgen, weil Tatbestände und Verfahren klar geregelt und Kennzeichen nachverfolgbar seien. "Dahin müssen wir auch im Internet kommen. Das Internet ist ein öffentlicher Raum, in dem ich mich als Bürger so bewegen können muss wie auf der Straße."

Kurz vor dem Urlaub über seinen 58. Geburtstag nahm sich Münch anderthalb Stunden Zeit für t-online.de. Im Gespräch mit den Redakteuren Florian Harms und Lars Wienand ging es um brisante Themen, die viele Menschen in Deutschland umtreiben: den militanten Rechtsextremismus, die Morde an Walter Lübcke und an einem achtjährigen Jungen auf dem Frankfurter Hauptbahnhof, die Kriminalität von Zuwanderern, die Verunsicherung in der Bevölkerung in Ost und West. Münch sprach über Intensivtäter, Abschiebungen und Lehren aus dem Umgang mit gefährlichen Islamisten für den Kampf gegen Rechtsradikale. Die richtigen Personen als Gefährder zu erfassen, "das wird die große Diskussion der nächsten Monate", glaubt Münch. Lesen Sie hier das ganze Interview:

t-online.de: Herr Münch, die beiden Morde auf dem Frankfurter Hauptbahnhof und auf einer Straße in Stuttgart haben die deutsche Bevölkerung erschüttert. Brauchen wir eine intensivere Debatte über die Sicherheit im öffentlichen Raum?

Holger Münch: Debattieren ist nicht genug. Wir als Sicherheitsorgane nehmen unseren Auftrag sehr ernst.

Holger Münch steht seit dem 1. Dezember 2014 an der Spitze des BKA, das von rund 5.500 Mitarbeitern zu dieser Zeit auf 8.000 wachsen wird. Er trat 1978 in Bremen in den Polizeidienst ein und war unter anderem Personenschützer. Vor dem Wechsel an die Spitze des BKA war der parteilose Münch unter anderem Polizeipräsident in Bremen und zuletzt Bremer Staatsrat und Stellvertreter des Innensenators.

Worin genau sehen Sie Ihren Auftrag?

Die Polizei muss zunächst präsent und erreichbar sein – gerade im öffentlichen Raum. Wir müssen darüber hinaus bei den relevanten Themen klare Schwerpunkte setzen. Und wir müssen auch die Modernisierung in der Polizei vorantreiben, um mit der Internationalisierung und Digitalisierung von Kriminalität Schritt zu halten. Unser Auftrag ist es, schnell und sicher auf neue Herausforderungen zu reagieren und so zuverlässig für Sicherheit zu sorgen.

Aber viele Polizeidienststellen haben zu wenig Beamte dafür.

An den zahlreichen neu geschaffenen Stellen für die Polizei in Bund und Ländern sehen Sie, dass dieser Auftrag verstanden und sehr ernst genommen wird. Es vergehen allerdings drei Jahre von der Einstellung eines Bewerbers, bis er dann als Polizist tatsächlich auf der Straße ist. Wir sind also momentan mit dem vorhandenen Personal stark gefordert: Wir müssen unsere Strukturen modernisieren, uns an eine immer digitalere Welt anpassen, terroristische Bedrohungslagen frühzeitig erkennen und Gefahren abwenden, Organisierte Kriminalität bekämpfen sowie die Sicherheit im öffentlichen Raum gewährleisten.

Die Zahl der Straftaten in Deutschland sinkt, aber das Sicherheitsgefühl vieler Menschen verschlechtert sich. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?

Die Zahlen der Kriminalitätsstatistik sind auf dem niedrigsten Stand seit vielen Jahren. Gleichzeitig zeigen Umfragen, dass das Sicherheitsgefühl zwar abgenommen hat, sich aber immer noch auf einem hohen Niveau befindet. Das ist kein Widerspruch. Denn es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Kriminalität einerseits und dem Sicherheitsgefühl andererseits, das ist nicht neu. Nur verhältnismäßig wenig Menschen werden Opfer einer Straftat. Insofern ist oft weniger die eigene Opfererfahrung als vielmehr die Frage, wie ich Kriminalitätsentwicklung wahrnehme, wie bedrohlich das für mich ist, auschlaggebend für das Sicherheitsgefühl. Hier gibt es verschiedene Veränderungen in den letzten Jahren.

Welche konkreten Veränderungen sehen Sie denn?

Viele Menschen sind von der gesellschaftlichen Entwicklung verunsichert, beispielsweise von der Frage, was die Digitalisierung für den Einzelnen bedeutet. Das strahlt auch auf das Sicherheitsgefühl aus. Ein zweiter Punkt ist die Zuwanderung sowie die Fragen, ob der Staat diese im Griff hat und was sie für den Bürger und sein Umfeld bedeutet. Ein dritter Punkt ist die Medienberichterstattung – in klassischen, aber auch in sozialen Medien. Dort sehen wir häufig eine sehr intensive und teilweise verzerrende Darstellung des Themas Kriminalität.

Medien haben nun mal die Aufgabe, ausführlich zu berichten. Gibt es Ihrer Meinung nach also gar keinen stichhaltigen Grund für die verstärkte Besorgnis der Bürger?

Dazu muss man genauer in die Daten hineinschauen. Die Fallzahlen der Kriminalität insgesamt gehen zurück. In einigen Bereichen, wie dem Wohnungseinbruch, der traditionell große Angst auslöst, haben wir sogar einen deutlichen Rückgang. Bei der Gewaltkriminalität verhält es sich ein bisschen anders: Hier haben wir eine Stagnation der Fallzahlen und sehen, dass eine kleine Gruppe von Zugewanderten aus bestimmten Herkunftsländern signifikant auffälliger ist. Wir müssen diese Entwicklung nicht nur zur Kenntnis, sondern sehr ernst nehmen und daraus Konsequenzen ziehen.

Welche Konsequenzen?

Wir müssen solchen Entwicklungen konsequent entgegenwirken – durch polizeiliche Maßnahmen auf der einen, und faktenbasierten Informationen über das Kriminalitätsgeschehen auf der anderen Seite. Ziel ist so auch, allen Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl zurückzugeben, dass sie sich im öffentlichen Raum sicher bewegen können.

Ihr Amt hat dafür ein Viktimisierungssurvey erstellen und repräsentativ 30.000 Menschen befragen lassen, ob sie schon einmal zum Opfer geworden sind und wie sicher sie sich fühlen. Was lernen Sie aus den Ergebnissen?

Zum einen zeigt die Studie, dass sich das Hellfeld, also die angezeigten Taten, und das Dunkelfeld, also die absoluten Fälle, in denen jemand zum Opfer wird, in etwa gleich entwickeln. Das heißt: Obwohl unsere Zahlen in der Polizeilichen Kriminalstatistik nur das Hellfeld abbilden, können wir die Entwicklung der Kriminalität in großen Bereichen recht zuverlässig einschätzen. Darüber hinaus beschäftigt sich die Befragung mit der Entwicklung des Sicherheitsgefühls der Bevölkerung. Solche Entwicklungen wollen wir kennen, weil das Sicherheitsgefühl ein Frühindikator ist.

Wofür?

Personen oder Bevölkerungsgruppen, die sich unsicher fühlen, können zu einem Vermeidungsverhalten neigen, gehen beispielsweise aus Angst vor einem Anschlag seltener auf Großveranstaltungen. Vermeidungsverhalten kann wiederum Auswirkungen auf die objektive Sicherheit haben. Die Befragung zeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger ein hohes Vertrauen in die Sicherheitsbehörden haben. Sie zeigt aber auch, dass das Sicherheitsgefühl zwar weiterhin hoch ist, gegenüber 2012 aber etwas abgenommen hat. Dabei ist das Sicherheitsgefühl in Ostdeutschland geringer als im Westen, und bei Frauen ist die Unsicherheit stärker gewachsen als bei Männern.

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Die Befragung lief bis Januar 2018. Welche Auswirkungen haben einzelne Ereignisse auf die Befragungen?

Die gestiegene Verunsicherung gerade bei der weiblichen Bevölkerung ist wahrscheinlich auch auf das Ereignis der Silvesternacht in Köln zurückzuführen.

... Die sexuellen Übergriffe auf Frauen rund um die Kölner Domplatte am Jahreswechsel 2015/16 ...

... und die Terrorangst war 2017 nach dem Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz hoch, obwohl das Risiko, Opfer einer solchen Tat zu werden, sehr gering ist. Herausragende Einzelereignisse haben also eine Wirkung. Diese klingt aber auch wieder ab. Was die aktuellen Ereignisse in Frankfurt und Stuttgart angeht, kann ich die Auswirkungen noch nicht abschätzen. Wir müssen aber einkalkulieren, dass diese Ereignisse Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl haben können. Klar ist jedoch: Die Erwartung der Bürger an polizeiliche Präsenz und auch an ein konsequentes Vorgehen der Sicherheitsbehörden ist nach solchen Ereignissen größer.

Und weil das Sicherheitsgefühl für Sie ein wichtiger Indikator ist, wollen Sie das Viktimisierungssurvey künftig häufiger erheben?

Richtig. Wir werden 2020 die nächste Befragung durchführen und dann alle zwei Jahre wiederholen. Da die Ergebnisse auch ein wichtiger Faktor für die Entwicklung unserer Sicherheitsstrategien sind, können sich die Bundesländer aktiv einbringen, zum Beispiel eigene Fragen stellen oder die Stichprobe vergrößern, um detailliertere Auswertungen auch für ihr Bundesland machen zu können. Es soll ein gemeinsames und dauerhaftes Instrument werden.

In Ostdeutschland ist die Verunsicherung höher als im Westen. Woran liegt das?

Die Menschen dort erleben nach einem gesellschaftlichen Umbruch in den Neunzigerjahren nun den nächsten, etwa durch die Digitalisierung. Die Erfahrungen mit Migration sind zudem meist weniger ausgeprägt als in Westdeutschland, und das Neue, Fremde macht oft mehr Angst als das Bekannte.

Sie haben gesagt, auch die Digitalisierung verunsichere die Menschen. Inwiefern?

Das hat verschiedene Facetten. Die Digitalisierung bringt Veränderungen für die Arbeitswelt mit sich und sie hat schon sehr stark unsere Kommunikation verändert. Das ist in den Medien ebenso deutlich zu spüren wie bei der Polizeiarbeit. Hasskriminalität hat beispielsweise durch die Möglichkeit, sich im Internet öffentlich und gleichzeitig weitgehend anonym zu äußern, eine völlig andere Bedeutung gewonnen. Das verändert den Umgang miteinander und beeinflusst auch wieder das Sicherheitsgefühl. Ferner verändert sich, welchen Ausschnitt aus der Wirklichkeit Menschen durch digitale Medien wahrnehmen. Es gibt daher das Risiko, dass objektive Informationen zu Menschen, die in den Echoräumen des Internets unterwegs sind, nicht mehr so durchdringen können, wie das vielleicht früher möglich war.

Sind Hassbotschaften in den sozialen Medien eine Bedrohung für unsere Gesellschaft?

Die Gefahr, die von Hassbotschaften im Internet ausgeht, ist sehr groß. Wir sehen dies aktuell beispielsweise, wenn wir uns anschauen, was gerade Ehrenamtliche und Kommunalpolitiker berichten. Rechtsextreme Kriminalität wendet sich nicht mehr nur gegen Ausländer oder politische Gegner, sondern nun auch gegen Personen, die etwa für Diversität oder Flüchtlingshilfe einstehen. Wenn jemand erlebt, wie er massiv angefeindet wird, dann ist letztlich nicht mehr nur die objektive Bewertung entscheidend, ob tatsächlich ein Delikt droht. Allein dass jemand sich bedroht fühlt und sich nicht mehr traut, seine Meinung zu äußern, seinen Zielen nachzugehen und sein Amt auszuüben, ist eine Bedrohung für das demokratische Zusammenleben. Deshalb nehmen wir das sehr ernst. Wir haben bereits vier Aktionstage gegen Hass-Postings durchgeführt, und wir sind in der Vorbereitung auf einen fünften.

Aktionstage mit ein paar Durchsuchungen und Festnahmen alle paar Monate – das reicht doch nicht.

Wir glauben auch, dass das nicht reicht. Hier müssen wir uns besser aufstellen.

Und wie machen Sie das?

Bund und die Länder müssen sich darüber verständigen, wie wir das Thema Hasskriminalität im Netz effektiver verfolgen können. Dazu sind wir intensiv mit dem Bundesinnenministerium und mit den Ländern im Gespräch. Wer sich in Deutschland engagiert, hat den berechtigten Anspruch, dass er keinen Hass gegen sich erdulden muss. Dem müssen Polizei und Justiz gerecht werden.

Gibt es also bald eine Taskforce auf Bund-Länder-Ebene, um Hasskommentare zu verfolgen?

Ich will dem Ergebnis der derzeit laufenden Gespräche nicht vorweggreifen ...

Aber die Bürger interessieren sich sehr dafür.

Wie gesagt, wir sind noch in der Abstimmung und es ist aus gutem Grund Brauch, nicht aus laufenden Abstimmungen und Gesprächen gegenüber Dritten zu berichten. Klar ist: Wir reden hier über Kriminalität, die sich oft nicht örtlich zuordnen lässt. Deshalb brauchen wir ein länderübergreifendes, koordiniertes Vorgehen.

Braucht es dazu eine Klarnamenpflicht in sozialen Netzwerken?

Das glaube ich nicht. Im analogen Raum sind Sie auch nicht mit Klarnamen unterwegs. Wenn Sie heute mit dem Auto bei Rot über die Ampel fahren, kann man Sie anhand des Kennzeichens ermitteln, also anhand eines Pseudonyms. So etwas gibt es auch im öffentlichen Raum des Internets: die IP-Adresse. Deshalb brauchen wir die Vorratsdatenspeicherung, um die IP-Adresse bei Bedarf zuordnen zu können. Ein solches "Kennzeichen" im digitalen Raum ist die Mindestanforderung, um Straftaten im Internet wirklich verfolgen zu können.

Kritiker der Vorratsdatenspeicherung sagen, damit würden die Bürger vom Staat ausspioniert, während das eigentliche Problem gar nicht gelöst würde. Selbst wenn Identitäten bekannt sind, passiert de facto oft nichts. Wenn jemand auf der Straße jemanden bedroht, dann schreiten Sicherheitsbehörden in der Regel relativ schnell ein und nehmen die Strafverfolgung auf. Wenn im Internet Menschen bedroht, verleumdet, diffamiert werden, stellen die Ermittlungsbehörden die Verfahren in der Regel ein.

Das Internet ist ein öffentlicher Raum, in dem ich mich als Bürger ebenso bewegen können muss wie auf der Straße. Dieser Anspruch gilt für Rechtsetzung, Rechtsprechung und polizeiliches Handeln. Ihn umzusetzen und für einen Gleichklang zwischen analoger und digitaler Welt zu sorgen, ist unser großer Auftrag in den nächsten Monaten und Jahren.

Dafür brauchen Sie doch Tausende neue Ermittlungsbeamte.

Wir brauchen vor allem ein konsequentes Vorgehen, klare Gesetze, die durch die Justiz umsetzbar sind und gute Prozesse bei der Polizei. Wenn sie bei Rot über die Ampel fahren, ist das leicht verfolgbar, weil die Tatbestände und die Verfahren klar geregelt sind. Dahin müssen wir auch im Internet kommen.

Und welche Verantwortung haben die Plattformbetreiber wie Facebook, Twitter und Google?

Eine große. Die Plattformbetreiber sind schon heute verpflichtet, Postings, die Straftatbestände erfüllen könnten, bei Beschwerden zu prüfen und gegebenenfalls zu löschen.

Das machen sie aber nicht konsequent.

Dafür gibt es dann beispielsweise die Möglichkeit, Bußgelder zu verhängen. Auch davon macht der Staat mittlerweile Gebrauch. Die greifen aber doch eben oft gar nicht, weil Firmen wie Facebook und Twitter viele Beschwerden ablehnen. Firmen, die auf dem deutschen Markt unterwegs sind, müssen sich an die Regeln halten.

Also auch für eine Firma wie Facebook, die ihren Europasitz in Irland hat?

Wir sollten Regelungen nicht nur deutsch denken, sondern immer auch europäisch. Auch unsere Partner in Europa klagen über Hass, Verleumdung und Beleidigung im Netz. Aber wir dürfen nicht warten, bis es eine europäische Lösung gibt. Wir müssen die Diskussion jetzt in Deutschland führen.

Wo setzen Sie Schwerpunkte, wie entwickelt sich die Kriminalität in Deutschland derzeit?

Ganz grob wird Kriminalität immer digitaler, sie wird vernetzter, mobiler und internationaler. Wir stellen fest, dass schon jetzt fünf Prozent der Delikte in der polizeilichen Kriminalstatistik sogenannte Cyberdelikte sind. Das Dunkelfeld, der tatsächliche Anteil, ist aber viel größer, und er wird weiter wachsen. Viele Taten verlagern sich ins Netz, Kinderpornografie mittlerweile zu fast 100 Prozent. Aber auch der Rauschgift- und der Waffenhandel finden zunehmend auf illegalen Marktplätzen im Netz statt.

Was bedeutet es konkret, wenn Kriminalität vernetzter wird?

Mit vernetzter meine ich, dass es nicht mehr nur klassische organisierte Strukturen wie die Mafia oder Rocker gibt. Es wird in loseren Netzwerken mit Partnern zusammengearbeitet, das kann man mit der Wirtschaft vergleichen. Crime as a service, Verbrechen als Dienstleistung also, ist so ein Modell: Um einen Cyberangriff auszuführen, müssen Sie heute kein Nerd mehr sein, Sie können sich einfach ein Botnetz mieten. Die vielfältigen Möglichkeiten im Internet und in sozialen Medien nutzen eben auch Kriminelle. Wir sehen auch, dass der Anteil von international agierenden, reisenden Tätern zunimmt. Beim Wohnungseinbruch hat sich der Anteil der ausländischen Tatverdächtigen, meist mobile Täter aus Osteuropa, innerhalb von sieben Jahren verdoppelt. Wir haben neue Herausforderungen, nicht nur lokal für Sicherheit zu sorgen und Kriminalität zu bekämpfen, sondern auch im digitalen Raum und im internationalen Verbund.

Wie groß ist die Gefahr der importierten Gewalt durch Zuwanderer?

Die Kriminalität von Zugewanderten, die ab 2015 nach Deutschland gekommen sind, erfassen wir in einem eigenen Lagebild. Insgesamt gilt: Der überwiegende Teil der Menschen, die zu uns gekommen sind, begeht keine Straftaten. Wir stellen aber auch fest, dass etwa 8,6 Prozent der ermittelten Tatverdächtigen Zuwanderer sind ...

... also deutlich mehr als der Anteil der Zugewanderten an der Bevölkerung.

Das stimmt, und es erklärt sich zum großen Teil mit der Zusammensetzung dieser Gruppe: Sie umfasst deutlich mehr junge Männer als im Bevölkerungsschnitt. Junge Männer sind generell auffälliger bei Kriminalität. Wenn man die Zahlen noch genauer anschaut, dann sieht man, dass bei Tötungs- und Sexualdelikten der Anteil von Zugewanderten an den Tatverdächtigen noch größer ist. Bei den Tötungsdelikten sind oft auch die Opfer Zugewanderte. Bei Sexualdelikten sind Opfer hingegen häufiger Frauen, die schon immer oder lange in Deutschland leben.

Wie stellen Sie sich darauf ein?

Bei Gewaltdelikten haben wir es oft mit Mehrfach- und Intensivtätern zu tun. Die Gruppe der Mehrfachtäter ist größer als im Bevölkerungsdurchschnitt und diese Täter kommen häufig aus bestimmten Regionen – zum Beispiel aus den Maghreb-Staaten. Unsere Antwort darauf ist: Wir müssen Mehrfach- und Intensivtäter nicht nur polizeilich und justiziell bearbeiten, sondern auch im Hinblick auf die Frage von Aufenthaltsbeendigung.

Sollen Mehrfachtäter sofort abgeschoben werden? Und wenn ja, wie wollen Sie das umsetzen?

In vielen Bundesländern gibt es schon entsprechende Verfahren. Wir erarbeiten aktuell in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein Konzept, damit bundesweit Mehrfach- und Intensivtätern bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen Priorität zukommt. Es muss klar sein: Wer in Deutschland Gastrecht genießt und sich nicht an Regeln hält, bei dem ziehen wir Konsequenzen. Dazu braucht es eine intensive Zusammenarbeit aller beteiligten Behörden. Das Ziel ist, diesen Prozess nicht nur in einzelnen Bundesländern, sondern insgesamt mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und den Ausländerbehörden zu organisieren.

Aber viele Abschiebungen werden ausgesetzt oder verzögert.

Hier geht es erst einmal darum, die Ressourcen da einzusetzen, wo sie notwendig sind: bei den herausragenden Straftätern. Das bedeutet etwa die Beschaffung von Ausweispapieren oder Ersatzpapieren voranzutreiben und mögliche Abschiebehemmnisse zu reduzieren. Eine andere Aufgabe ist es, dann am Ende eine Aufenthaltsbeendigung durchzusetzen – auch bei schwierigen Bedingungen.

Warum sind die so schwierig?

Zum Beispiel, weil nach Personen erst gefahndet werden muss, oder weil diese so renitent sind, dass man sie nicht außer Landes bringen kann. Die Bundespolizei führt dazu Statistiken und erarbeitet immer wieder neue Lösungen, um solche Hemmnisse zu überwinden.

Warum werden die nicht konsequenter umgesetzt?

Uns geht es als Kriminalpolizei vor allem darum, die richtigen Personen in den Blick zu nehmen, um die Risiken zu minimieren, die von ihnen ausgehen. Die Umsetzung und Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird von der Bundespolizei intensiv und sehr gut bearbeitet.

Kooperieren denn die Aufnahmeländer, insbesondere in Nordafrika, gut genug?

Wir bemerken eine Verbesserung. Es gibt eine gute Zusammenarbeit und wir unterstützen diese Länder auch bei deren Entwicklung.

Noch mal zurück zu den Morden in Frankfurt und Stuttgart. Gewalttaten von Migranten wie diese werden politisch instrumentalisiert, unter anderem von Rechtsextremen, aber auch von Politikern der AfD. Sehen Sie darin eine Gefahr für die Gesellschaft?

Wir beobachten nach solchen Taten sehr schnell Reaktionen im Netz, oft noch, bevor tatsächlich Informationen zur jeweiligen Tat vorliegen. Zu Frankfurt wurde im Internet nach kurzer Zeit spekuliert, ob der Täter ein erst vor Kurzem nach Deutschland gekommener Zuwanderer ist. So schnell können Sie als Staat gar nicht reagieren, weil wir erst einmal die Fakten klären müssen. Durch emotionale Aufheizung und Falschinformationen gibt es das Risiko, dass Resonanzstraftaten entstehen ...

... also zum Beispiel Gewalt gegen Migranten als "Rache" ...

... hinzu kommt die mittelfristige Wirkung: Weil solche Ereignisse stark in den Mittelpunkt gerückt werden, können Sie als Konsument einer solcher Information den Eindruck haben, dass die Kriminalität steigt. Über ein herausragendes Ereignis wird intensiv berichtet, Berichte über Erfolge im Kampf gegen Kriminalität sind dagegen relativ klein. Den Terroranschlag auf den Breitscheidplatz kennt beispielsweise jeder – dass wir seitdem sieben Anschläge verhindert haben, weiß hingegen kaum jemand. Das verzerrt die Wahrnehmung der Handlungsfähigkeit des Staates und der tatsächlichen Kriminalitätslage.

Bürger haben nun mal ein Interesse an intensiver Berichterstattung. Sie wollen wissen, was in unserem Land geschieht.

Natürlich muss man über solche Ereignisse berichten, aber es ist wichtig, sie in einen Gesamtkontext zu stellen. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe, sowohl die der Medien als auch die der Sicherheitsbehörden.

Was ist Ihr Teil der Aufgabe genau?

Wir als Polizei können nach einer Tat so schnell wie möglich objektive Informationen über den Einzelfall wie auch über die tatsächliche Kriminalitätslage bereitstellen. Zugleich müssen wir Hass und Hetze im Netz konsequent bekämpfen und dort für eine vernünftige Diskussionskultur sorgen. Auch hier können wir einen Beitrag leisten. Es geht aber auch um Kultur, darum, wie wir öffentlich diskutieren, über die Form des politischen Diskurses. Da müssen sich manche Beteiligte selbst auch einmal prüfen.

Wen meinen Sie mit "Beteiligte"? AfD-Politiker?

Man muss sich doch die Frage stellen: Ist es richtig, mit einer aufputschenden Sprache sofort auf ein Ereignis zu reagieren, dessen genauen Ablauf man noch gar nicht kennt? Ich halte das für verantwortungslos.

Die AfD hat in den Sicherheitsorganen viele Anhänger. Ist das in Ihren Augen ein Problem?

Wir fragen nicht, welche Partei jemand wählt. Für uns ist wichtig, für welche Werte jemand eintritt. Deshalb achten wir bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf eine sehr ausgeprägte Werteorientierung und ein klares Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung. Es ist nicht der richtige Fokus, eine Partei in den Mittelpunkt zu stellen. Das Wertegerüst ist das Entscheidende.

Nicht nur die Gewalttaten in Frankfurt und Stuttgart haben die Bevölkerung erschüttert, auch der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, mutmaßlich durch einen rechtsextremen Täter. Wie groß schätzen Sie die Gefahr durch rechtsradikale Gewalttäter gegenwärtig ein?

Die Zahl der gewaltbereiten Mitglieder der rechtsextremen Szene ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Wir haben seit mehreren Jahren, mit Schwankungen, einen Anstieg der Gewalttaten im Bereich der politisch motivierten Kriminalität rechts, und wir sehen auch das Risiko, dass sich Strukturen bilden können, bis hin zu terroristischen Gruppen. Das müssen wir einkalkulieren, auch wenn die Zuwanderung stark abgeflacht ist und damit auch die emotionale Kurve beim Thema Flüchtlinge in der rechten Szene abflacht.

Aber?

Radikalisierte können sich dennoch zusammenfinden und geneigt sein, etwas zu tun, mit dem sie Wirkung entfalten. Wir haben das in der Vergangenheit bei der Gruppe Freital oder der Oldschool Society gesehen und wir haben aus dem NSU-Fall gelernt.

Was genau haben Sie gelernt?

Sobald es Indikatoren gibt, dass sich Zusammenschlüsse bis hin zu terroristischen Strukturen entwickeln könnten, reagieren wir sehr früh. Es ist die Strategie der Verfassungsschutzbehörden, der Polizei und des Generalbundesanwalts, möglichst frühzeitig operativ tätig zu werden. Wir wollen solche Gruppen zerschlagen, um die Bildung terroristischer Strukturen zu verhindern. Darauf müssen und werden wir auch in Zukunft unsere Anstrengungen stark richten.

Rechnen Sie denn in nächster Zeit mit der Zerschlagung weiterer militanter Neonazi-Gruppen?

Sobald wir Indikatoren und beweiskräftiges Material haben, wird nicht lange beobachtet. Vielmehr kommt es dann schnell zu Durchsuchungen und Festnahmen. Das ist unsere Strategie.

Wie groß ist die Gefahr, dass ein neuer NSU entsteht?

Aktuell sehe ich keine Strukturen, die sich in eine ähnliche Richtung entwickeln wie der NSU. Aber das Risiko der Bildung von Strukturen halten wir für gegeben und richten darauf auch unsere Maßnahmen aus.

Steigert der Mord an Walter Lübcke die Gefahr ähnlicher Taten?

Er bestätigt leider die Lageeinschätzung der Sicherheitsbehörden und er hat darüber hinaus enorme Wirkung auf das Sicherheitsgefühl von Mandatsträgern. Vorher gab es bereits Versuchstaten, die man ähnlich einordnen kann, etwa das Attentat auf die spätere Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Ein vollendetes Tötungsdelikt gegen einen Mandatsträger ist aber eine neue Qualität. Der Verfassungsschutz und die Polizei beobachten die Reaktion des rechten Spektrums sehr genau, etwa, ob es Nachahmer gibt, die sich davon motiviert oder inspiriert fühlten.

Welche Rolle spielen Massenmorde im Ausland, wie in El Paso oder Christchurch?

Im großen Kontext können Fälle wie Christchurch, mit Tätern, die ein Fanal setzen wollen, andere Täter inspirieren.

Wie groß ist also diese Gefahr, dass es in Deutschland einen ähnlichen Anschlag gibt wie in Christchurch?

Wir haben den Vorteil, in Deutschland schärfere Waffengesetze zu haben. Zudem führen wir bereits die Diskussion, wie wir das Thema rechtsextremistische Gewalttäter und Bewaffnung noch intensiver bearbeiten können. Bei "Reichsbürgern" entzieht der Staat etwa, wenn möglich, die waffenrechtliche Erlaubnis. Außerdem werden wir den personenorientierten Ansatz intensivieren.

Wie viele Personen sind denn aktuell als Gefährder eingestuft?

Wir haben 41 Gefährder im Bereich des Rechtsextremismus und 112 relevante Personen.

Ende 2016 waren es noch 22 Gefährder. Legen Sie jetzt andere Bewertungskriterien an?

Nein, noch nicht. Die Frage stellt sich aber auch nach dem Mord an Herrn Lübcke, und mit dieser Frage befassen wir uns jetzt intensiv. Welche Auswirkung das auf die Zahl der Einstufungen haben wird, kann ich noch nicht absehen.

Was sagt denn der Anstieg auf 41 rechte Gefährder aus?

Der Verfassungsschutz hat parallel über die vergangenen Jahre eine leichte, aber kontinuierliche Zunahme gewaltbereiter Rechtsextremisten gemessen, das macht den Anstieg bei der Gefährderzahl nachvollziehbar.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Wir fragen uns, ob die Gruppe der erfassten Personen die richtige ist und ob wir mit unseren Maßnahmen die Risiken effektiv minimieren. Das wird die große Diskussion der nächsten Monate. Nur viele Personen einzustufen, ist keine Lösung, vielmehr müssen wir bei den richtigen Personen die richtigen Maßnahmen treffen. Deshalb ist es unser Ziel, ein einheitliches System zur Gefährdungsbewertung aufzubauen, genau wie bei islamistischen Gefährdern.

Dort gibt es das mit forensischen Psychologen entwickelte Programm Radar-iTE für eine vergleichbare Risikobewertung von Gefährdern. Wie konkret hilft Ihnen das?

Aufgrund der hohen Zahl von rund 700 Gefährdern im islamistischen Spektrum haben wir auf der einen Seite Standardkataloge, was die Maßnahmen betrifft. Auf der anderen Seite haben wir durch Radar ein einheitliches System der Risikobewertung. Auf dieser Grundlage sprechen wir in Fallkonferenzen im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum über einzelne Gefährder und stimmen individuelle Maßnahmen ab.

Sie haben die islamistische Bedrohung also im Griff?

Wir haben alle Personen aus dem islamistischen Spektrum mit Radar-iTE bewertet, die sich in Deutschland aufhalten und aktuell eine Gefahr darstellen könnten. Wir erreichen durch unser Vorgehen auch, dass die aus der Bewertung folgenden Maßnahmen der einzelnen Bundesländer vergleichbar sind.

Und das lässt sich eins zu eins auf rechte Gefährder übertragen?

Das Prinzip schon. Aber es gibt eine andere Struktur und andere Phänomene. Daher prüfen wir, mit welchen Änderungen das Instrument Radar auch auf Rechtsextreme übertragbar ist. Außerdem beschäftigen wir uns damit, kurzfristig auch im Bereich rechts Fallkonferenzen abzuhalten, in denen wir zu einzelnen Personen beraten und Maßnahmenkonzepte abstimmen.

Herr Münch, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview in Berlin
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