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Mordfall Lübcke: So groß ist die Gefahr von rechtem Terror in Deutschland


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Nach Lübcke-Mord
So groß ist die Gefahr von rechtem Terror in Deutschland


Aktualisiert am 19.06.2019Lesedauer: 7 Min.
Panzerfaust und Hakenkreuz-Fahne: Sichergestellte Funde bei einer Razzia der Polizei.Vergrößern des Bildes
Panzerfaust und Hakenkreuz-Fahne: Sichergestellte Funde bei einer Razzia der Polizei. (Quelle: imago-images-bilder)
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Bundesinnenminister Horst Seehofer denkt nach dem Mord an Walter Lübcke laut darüber nach, ob die allgemeinen Gefährdungslage heraufgesetzt werden muss. Wie sieht die rechte Terrorszene aus?

Daniel Köhler kennt sie alle, die rechtsextremen Mord-, Sprengstoff und Brandanschläge: Der Soziologe führt die "Deutsche Terrorismusdatenbank – Rechtsextremismus". 229 Mordanschläge mit rechtsextremen Hintergrund seit 1971 sind dort geführt, dazu 92 Gruppen und Personen, die seit 1963 für Anschläge verurteilt wurden. Doch in den vergangenen Jahren habe sich etwas verändert, sagt Köhler, der auch das "Deutsche Institut für Radikalisierungs- und Deradikalisierungsforschung" leitet: "Es hat sich ein Schwarmterrorismus entwickelt." t-online.de beantwortet 15 Fragen zu rechtem Terror.

1. Wie groß ist die Gefahr durch rechte Gewalt?

Die jüngsten Zahlen sind aus dem Verfassungsschutzbericht 2017. Den hatte noch Hans-Georg Maaßen vorgestellt – wenige Wochen nach dem Urteil im NSU-Prozess um zehn rechtsextreme Morde: 2017 gab es demnach 24.000 Rechtsextremisten, darunter 12.700 gewaltorientierte Personen. 34 sind als Gefährder eingestuft, weil bei ihnen mit Anschlägen oder anderen schweren Straftaten zu rechnen ist.

Mehr als 100 Personen stehen an der Schwelle dazu oder wären mögliche Helfer, werden also als "relevant" besonders beobachtet. 18 Personen aus dem "politisch rechten Spektrum" wurden Ende März wegen einer Gewalttat mit Haftbefehl gesucht, terrorverdächtig war darunter niemand, berichtet der "Tagesspiegel" nach einer Anfrage der Linken-Abgeordneten Ulla Jelpe.

Das BKA registrierte im vergangenen Jahr 838 Verletzte durch rechtsmotivierte Gewalt. Das sind fast doppelt so viele Opfer wie es insgesamt gegeben hat durch linksmotivierte Gewalt (418) und religiöse Fanatiker, überwiegend Islamisten (45). In sechs Fällen geht die Polizei davon aus, dass rechte Täter bei Attacken eine Person töten wollten, ein Mensch starb tatsächlich. Behörden sind aber sehr zurückhaltend, Taten Terror zuzuordnen.

2. Wer ist besonders gefährlich?

Das ist kaum zu sagen. Den mutmaßlichen Lübcke-Mörder Stephan E. hielten die Sicherheitsbehörden für kein großes Risiko – er hatte seit 2009 keine einschlägigen Taten mehr begangen, lebte bürgerlich. In sozialen Netzwerken postete er zwar mindestens eine Drohung. Aber, so Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang am Dienstag bei einer Pressekonferenz zum Fall Lübcke: "Bei 12.700 gewaltorientierten Rechtsextremisten muss man Kategorien bilden, man kann die nicht alle überwachen."

Die als Gefährder eingestuften Rechtsextremisten werden zum Teil rund um die Uhr bewacht. Bei E. wurde angenommen, dass er sich zurückgezogen hat – wie auch bei Frank S., der 2015 die damalige Kölner Oberbürgermeister-Kandidatin Henriette Reker niederstach. "Der Reker-Attentäter war ultranationalistisch, schien sich aber zurückgezogen zu haben", so Köhler. Verfassungsschutz-Chef Haldenwang sagte, man müsse sich damit auseinandersetzen, dass es wie bei Islamisten auch Schläfer geben könnte.

3. Wie brisant ist die Stimmung?

Weniger öffentliche Aufregung um Flüchtlinge, weniger Angriffe auf Unterkünfte – das kann trügerisch sein. BKA-Präsident Holger Münch sagte am Dienstag: "Wenn es eine emotionale Beruhigung gibt, müssen wir einkalkulieren, dass Extremisten ihre Anstrengungen dann noch intensivieren."

Der Extremismus-Experte Gedon Botsch sagte dem "Tagesspiegel", nachdem in der Szene bis Mitte 2018 der Umsturz propagiert wurde, sei nun der Frust über das Scheitern groß und eine Radikalisierung möglich. "Die nächsten zwölf bis 18 Monate werden besonders gefährlich."

Innenminister Horst Seehofer erklärte am Dienstag vor der Presse: "Wir haben heute lange diskutiert, ob wir eine andere Gefährdungseinschätzung für die Bevölkerung abgeben." Die Experten entschieden sich dagegen – es sei zu "noch zu früh, wenn man seriös damit umgehen wolle".

4. Wie entwickelt sich die Rechtsterror-Szene?

Sie ist viel unübersichtlicher geworden, erläutert Experte Köhler im Gespräch mit t-online.de. "Es gibt das neue Phänomen Schwarmterrorismus." Das seien Täter und Tatverdächtige, die den Behörden nicht bekannt waren, die keine lange Vergangenheit in der Szene haben oder scheinbar nichts mehr damit zu tun hatten. "Da muss noch viel geforscht werden." Unklar ist etwa noch, welche Dimensionen etwa die mit Drohungen aufgefallene "Atomwaffen Division Deutschland" hat, und in welchem Umfang sich der Verdacht des Rechtsterrorismus gegen in den vergangenen Monaten ausgehobene Gruppen bestätigt.


5. Wie kommt es zu Schwarmterrorismus?

Köhler erklärt das damit, dass die Kontaktschwellen zwischen den Milieus deutlich niedriger geworden sind. "Das haben wir, seit die AfD vom Euro-Thema zum Flüchtlingsthema geschwenkt ist und dann noch einmal mit dem Aufkommen von Pegida." Das habe zu einer Durchmischung von ultrarechter Szene und Konservativen geführt: "Da sitzen dann nach einer Veranstaltung der verurteilte Rechtsterrorist mit Leuten zusammen, die früher nie mit so jemandem in Kontakt gekommen wären."

6. Wie läuft die Radikalisierung?

Das haben Wissenschaftler bei der Terrormiliz des sogenannten IS gut beobachten können: "Es sind nicht vordringlich Propaganda-Videos oder Bilder", sagt Köhler. "Es ist der Kontakt, der Austausch, das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu werden." Aus Gesprächen mit Neonazis wisse er, dass auch für die das Netz viel wichtiger sei als Treffen. "Auf dem Dorf sehen sie nur die gleichen zwei Leute. Online erreicht man immer jemanden, der einem das Gefühl gibt, ähnlich zu denken." Und auch dort seien die Kontaktschwellen gesunken.

7. Welche Beispiele gibt es?

Der vielleicht anschaulichste Fall von schneller Radikalisierung ist die "Gruppe Freital", deren acht Mitglieder nach mehreren Anschlägen zu Strafen zwischen vier und acht Jahren verurteilt worden sind. Die Mitglieder konnten Sprengsätze einfach bei Freunden und Nachbarn im Ort aufbewahren, sie waren ja dort gut bekannt und geachtet, hatten auch keine schmuddelige rechtsextremistische Vergangenheit.

Lediglich der aus Hamburg zugezogene Anführer war vorher auffällig, er war zuvor bei der "Weiße Wölfe Terrorcrew", deren Bamberger Untergruppe ebenfalls für Anschläge verurteilt wurde. Die Gruppe Freital entstand als angebliche Bürgerwehr nach Vorfällen im Linienbus – schließlich ließ die Gruppe auch eine Bombe am Fenster einer Flüchtlingsunterkunft explodieren.

8. Wie gefährdet sind Politiker?

Sie seien schon immer standardmäßig Ziele, sagt Köhler. "Es gibt ganz viele Gewaltphantasien, aber sie werden nur sehr selten umgesetzt." Wenn es Pläne gebe, dann sei es sehr selten, dass diese umgesetzt würden. "Der Planungsaufwand ist sehr hoch. Dann werden Täter vorher entdeckt oder sie finden einfachere Ziele."

9. Wie funktioniert die Vernetzung?

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Neben dem Austausch im Internet haben Events größeren Stellenwert bekommen, die auch zur Finanzierung von Strukturen dienen und unterschiedliche Zielgruppen zusammenbringen sollen. "Vor zehn Jahren fand ein klassisches Neonazi-Konzert im Hinterhof statt, heute ist das oft ein Ereignis mit breitem Angebot", sagt Köhler.

Der Bundesverfassungsschutz verfasste einen eigenen Beitrag zum "Schild und Schwert"-Festival im sächsischen Ostritz, das am kommenden Wochenende wieder stattfindet. Veranstalter Thorsten Heise, NPD-Vize und Freund von Björn Höcke, kombiniert rechtsextremen Lifestyle mit Politik, Musik und Kampfsport, um möglichst viele Szeneangehörige anzusprechen. Allerdings fällt in diesem Jahr der Kampfsport-Teil "Kampf der Nibelungen" aus – zu wenige Kämpfer.

10. Welche Rolle spielen Waffen?

Der Verfassungsschutz nennt keine Zahlen, spricht aber davon, dass es unter den gewaltbereiten Rechtsextremisten mit Waffenaffinität immer wieder illegale Waffen gefunden werden, andere auch legal im Besitz sind. Das Bundesamt lege "einen besonderen Fokus" darauf, dass diesen Personen die Waffenerlaubnis entzogen wird.

11. Welche Rolle spielen Waffentrainings?

Der mutmaßliche Lübcke-Mörder Stephan E. war zwar im Schützenverein, besaß aber keine Waffenerlaubnis. Personen in seinem Neonazi-Bekanntenkreis verhandelten aber über Waffenkäufe und waren auch bei Schießtrainings. Seehofer: "Schießtraining, das ist für mich Alarm hoch drei." Für ihn sei für das NPD-Verbot mit ausschlaggebend gewesen, dass NPD-Mitglieder an Schießtrainings auf Politikerbilder beteiligt waren.

12. Gibt es große Einheiten?

Große Gruppierungen mit mehreren Hundert Mitgliedern wie vor Jahren die Wehrsportgruppe Hoffmann oder die Skinheads Sächsische Schweiz seien weitgehend aus der Mode gekommen. Das 2014 verbotene Freie Netz Süd habe bereits längst nicht mehr diese Dimension gehabt.

Viele der Aktivisten dieser Gruppe, auch verurteilte Terroristen, gingen in der Neonazi-Partei III. Weg auf. Zuletzt hatte es bundesweit Diskussionen gegeben, weil die Gruppe ungestört in einheitlichem Aussehen mit Trommeln und Fackeln durch Plauen marschieren durfte.

Das Verschwinden großer Gruppen bedeute allerdings nicht weniger Gefahr. Nach dem Ausstieg aus Netzwerken könnten Extremisten auch gerade auf eigene Faust losschlagen. 88 Prozent der rechtsterroristischen Taten seit 2000 wurden von Zellen mit zwei bis drei Mitgliedern begangen.

13. Was ist mit Gruppen wie Combat 18 oder Hammerskins?

"Combat 18", der bewaffnete Arm des "Blood & Honour"-Netzwerks, die "Hammerskins" oder die "Arische Bruderschaft" seien in der Szene legendäre Netzwerke mit riesigem Symbolwert, sagt Köhler. Deren Wirkung habe man auch daran gesehen, wie der NSU von dort Unterstützung bekam. Dort werde mit Geld und Waffen geholfen.

Diese Gruppierungen seien aber durch Sicherheitsbehörden leicht angreifbar geworden. "Das Misstrauen ist groß, die Szene ist hochparanoid." Dort seien vor allem Altkader zu sehen, so Köhler. Der Verdächtige im Fall Lübcke soll vor Jahren laut Medienberichten zu Mitgliedern von "Combat 18" Kontakte unterhalten haben.

14. Welche Rolle spielt Verwicklung von Polizei und Militär?

Polizei und Bundeswehr seien grundsätzlich attraktiv für Menschen mit autoritärer Einstellung, sagt Köhler – wie verbreitet solche Haltungen jedoch dort sind, ist unklar: "Mehr Forschung zur politischen Einstellung dort wäre sehr wünschenswert. Die dünne Studienlage zeichnet ein besorgniserregendes Bild."

Immer wieder gibt es auch Berichte, dass Polizisten mit Neonazis zusammenarbeiten, Hinweise geben, selbst der Szene angehören. Zuletzt gab es in Mecklenburg-Vorpommern Durchsuchungen wegen möglicher Schattenstrukturen in der Polizei und der Bundeswehr. Elitekräfte sollen demnach Vorbereitungen für einen "Tag X" getroffen haben. Das wirke besorgniserregend, sagt Köhler, die Informationen seien jedoch für eine abschließende Bewertung zu nebulös. "Aus meiner Sicht ist aber hochgradig lobenswert, wie da ermittelt wurde und wie damit umgegangen wird."

15. Was macht Hoffnung?

Köhler sagt, dass es mit dem 2015 ins Amt eingeführten Generalbundesanwalt Peter Frank einen massiven Anstieg von Terrorverfahren gegen Rechts gegeben habe, "das hat sich erheblich geändert, da wird das Versprechen eingehalten, genau hinzuschauen".

Die Verfassungsschutzbehörden sagen zumindest, dass sie aus den Fehlern in den Ermittlungen zur Terrorgruppe NSU Lehren gezogen haben. Wie sehr Reformen wirklich greifen, lässt sich schlecht sagen – dafür läuft die Arbeit zu sehr im Verborgenen. Verfassungsschutzpräsident Haldenwang erklärte am Dienstag, durch besseren Austausch sei die Analysefähigkeit verbessert. Bei der Auswahl der V-Leute sei man nun auch viel wählerischer. Experte Köhler lobt das Vorgehen der Behörden bei Verdachtsfällen innerhalb der Polizei.

Die Verfassungsschützer stöbern auch im Netz. Das Bundesamt für Verfassungsschutz sichtet im Phänomenbereich Rechtsextremismus "mehrere hundert relevante Internetauftritte, Profile und Kanäle der rechtsextremistischen Szene", teilte das Innenministerium dem FDP-Politiker Konstantin Kuhle auf eine Anfrage mit. Vor allem aber schauen sehr viele Bürger genau hin, informieren Sicherheitsbehörden.


Aus der Politik kommen viele Willenserklärungen. Seehofer sagte, es sei ein "Alarmsignal, wenn ein hoher Repräsentant des Staates ermordet wird und sich das gegen unser demokratisches System richtet. Wir können nicht zur Tagesordnung übergehen, wenn alles ausermittelt ist." Sachsen und Thüringen wollen entschiedener gegen sogenannte Reichsbürger, Rechtsrockkonzerte und Hasspostings im Internet vorgehen.

Verwendete Quellen
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