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Zum journalistischen Leitbild von t-online.BSW legt Einspruch ein Stellt Wagenknecht alles auf den Kopf?

Das BSW legt offiziell Beschwerde beim Bundeswahlausschuss ein. Was erst einmal spröde klingt, könnte gravierende Folgen haben.
Es ist ein Vorgang aus dem bisweilen schwer ergründlichen Kosmos der Verwaltungsbürokratie, der am Mittwoch zum Vollzug kommt. Allerdings einer, der das Ergebnis der vergangenen Bundestagswahl gehörig auf den Kopf stellen könnte. Zumindest aber, so glauben Juristen, könnte es zu einem Gang vors Verfassungsgericht kommen. Denn am Mittwoch will das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) offiziell Einspruch gegen das Ergebnis der vorgezogenen Bundestagswahl einreichen.
Am frühen Nachmittag möchte BSW-Co-Parteichefin Amira Mohamed Ali die entsprechenden Unterlagen beim Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestags in Berlin abgeben – im Original und handschriftlich unterschrieben. Der Mittwoch ist zugleich der letzte Tag, um Einsprüche gegen die Wahl vom 23. Februar einzureichen. Üblicherweise beträgt die Frist, bis zu der solche Wahlbeschwerden erhoben werden können, zwei Monate ab dem Tag der Wahl.
Die Partei von Sahra Wagenknecht erhofft sich von dem Einspruch viel. Schließlich scheiterte das BSW am Einzug ins Parlament nur ganz knapp: 4,981 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf die junge Partei, rund 9.500 zu wenig für das Überschreiten der Fünfprozenthürde. 9.500 fehlende Stimmen sind bei knapp 50 Millionen abgegebenen Stimmen – obgleich einige der insgesamt abgegebenen Stimmen ungültig waren – eine beinahe verschwindend geringe Größe.
Für das BSW bedeuten sie jedoch, dass die Partei im Bundesparlament nicht vorkommt. Ein erheblicher Nachteil im politischen Wettbewerb und vor allem für die erst vor gut einem Jahr gegründete Partei: ein herber Rückschlag. Insbesondere für Wagenknecht, die eigentlich ihre politische Zukunft an den Einzug in den Bundestag geknüpft hatte.
BSW: "Mit hoher Wahrscheinlichkeit die Fünfprozenthürde geknackt"
Die Partei forderte deshalb eine Neuauszählung. "Wir müssen davon ausgehen, dass, wenn noch einmal neu ausgezählt würde, das BSW im Bundestag wäre", sagte Mohamed Ali am Dienstag. Entsprechende Eilanträge vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Verwaltungsgericht Hessen hatten jedoch keinen Erfolg. Deshalb reicht das BSW nun seinen Wahleinspruch beim Bundestag ein. Erst wenn dieser abgelehnt wird, ist eine erneute Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht möglich.
"Die Daten legen nahe, dass wir mit hoher Wahrscheinlichkeit die Fünfprozenthürde tatsächlich geknackt haben und Friedrich Merz ohne Kanzlermehrheit wäre", sagte der Europapolitiker Fabio De Masi nun der "Frankfurter Rundschau". Ob dem wirklich so ist, wird jedoch für die Partei und ihre Rechtsvertreter schwer nachzuweisen sein.
Allerdings könnte das BSW tatsächlich von einer Besonderheit im bundesdeutschen Wahlsystem benachteiligt worden sein: der relativ kurzen Frist für die Rücksendung der Briefwahlunterlagen bei dieser vorgezogenen Neuwahl.
t-online hatte ausführlich über dieses Defizit im Wahlrecht berichtet. Rechtsexperten, Betroffene und Politiker hatten bereits vor der Wahl am 23. Februar eine Reform dieses Teils des deutschen Wahlrechts gefordert. Denn die kurze Rücksendefrist von zum Teil nicht einmal zehn Tagen hatte dazu geführt, dass zahlreiche im Ausland lebende Wahlberechtigte ihre ausgefüllten Briefwahlunterlagen nicht rechtzeitig bis zum Wahltag einreichen konnten. Verhindert hatten dies die teils recht langen durchschnittlichen Postlaufzeiten von zwei Wochen und mehr, insbesondere aus weiter entfernten Weltregionen – Argentinien, China oder Australien.
Wagenknecht-Partei: Plötzlich 4.277 Stimmen mehr
Laut Bundeswahlleiterin Ruth Brand hatten sich 213.255 Auslandsdeutsche für die Wahl registrieren lassen und eine Zusendung der Wahlunterlagen angefordert. Wie viele von ihnen den Wahlzettel tatsächlich abschickten, und vor allem: wie viele Wahlzettel davon rechtzeitig ankamen, kann nicht gesagt werden. Denn diese Zahl wird nicht erhoben. "Wie viele Auslandsdeutsche tatsächlich an der Wahl teilgenommen haben, wissen wir nicht", sagte Brand jüngst dem "Handelsblatt".
Das BSW kann sich also bei seiner Wahlbeschwerde kaum auf diese vermeintlich fehlenden Stimmen berufen, lediglich darauf, dass durch die zum Teil erschwerten Briefwahlverhältnisse ein struktureller Nachteil eingetreten ist. Dieser besteht jedoch für alle bei der Wahl angetretenen Parteien. Ob er tatsächlich mandatsrelevant gewesen ist, erscheint fraglich.
"Wir glauben nicht, dass wir betrogen wurden oder dass manipuliert wurde", fügte BSW-Co-Chefin Mohamed Ali im Interview mit der Nachrichtenagentur AFP hinzu. "Wir glauben, dass Fehler passiert sind."
Das BSW führt bei seinem Einspruch noch einen weiteren Umstand an, den die Partei als für sich nachteilig bewertet. Bei der Verkündung des amtlichen Endergebnisses waren dem BSW nachträglich weitere 4.277 Stimmen zugesprochen worden, mehr als 50 Prozent der insgesamt 7.425 Stimmen, die bei der Überprüfung der Wahlergebnisse in den Stimmkreisen nachträglich gefunden worden waren.
Prüfungsausschuss arbeitet nach eigenen Regeln
Erklären ließ sich dies mit Fehlern bei der Übertragung der ausgezählten Stimmen von den einzelnen Wahlbüros an die Bundeswahlleitung. Das BSW hatte auf den Wahlzetteln relativ weit unten gestanden, zudem in direkter Nähe einer Kleinstpartei namens Bündnis Deutschland.
Wenn nun aber schon einige der offiziellen Wahlhelfer das BSW mit dem Bündnis Deutschland vertauschen, so die Argumentation der Partei, wie muss es dann erst für die Bürger in den Wahlkabinen gewesen sein, die beiden Parteien auseinanderzuhalten?
Auch in diesem Punkt sieht die Wagenknecht-Partei eine strukturelle Benachteiligung. Das Problem ist jedoch, dass über den Einspruch gegen die Wahl ein Gremium entscheidet, das vom Parlament selbst eingesetzt worden ist. Der Wahlprüfungsausschuss arbeitet in der Regel langsam, und zwar so lange, wie er will. Theoretisch könnte die Prüfung der BSW-Beschwerde somit die gesamte kommende Legislatur dauern. Auch diesen Punkt sieht BSW-Politiker De Masi kritisch.
"Es ist ein schwerwiegender Fehler im Wahlsystem, dass sich der Bundestag selbst bei einem so knappen Wahlergebnis theoretisch die gesamte Wahlperiode mit der Wahlprüfung Zeit lassen kann", so der 45-Jährige. "Zudem ist der Bundestag natürlich Richter in eigener Sache und befangen."
Der Berliner Politikwissenschaftler und Verwaltungsexperte Stephan Bröchler nannte die gesetzlich vorgeschriebenen Fristen bei vorgezogenen Neuwahlen eine "Regelung von vorgestern" (lesen Sie hier das ganze Interview). Er forderte dringend eine Reform des Wahlgesetzes.
Auch der FDP-Politiker und Rechtsexperte Konstantin Kuhle hatte bereits vor dem Urnengang gesagt, dass das deutsche Wahlrecht in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung nicht mehr zeitgemäß ist – mit Blick auf die Wahl der Auslandsdeutschen. "Es ist ein Skandal, weil viele Deutsche im Ausland daran gehindert werden, ihr demokratisches Recht wahrzunehmen. Das ist einer Demokratie unwürdig", so Kuhle im Interview mit t-online.
Jurist: Ist es wert, das Land ins Chaos zu stürzen?
Allerdings ist fraglich, wie erfolgversprechend das Manöver des BSW ist. "Dass nicht wenige Stimmen der Auslandsdeutschen erst zu spät ankommen und nicht mitgezählt werden, ist ein schwerer Wahlfehler", sagte Jurist Volker Boehme-Neßler kurz nach der Bundestagswahl t-online. Wenn der Einspruch vom Wahlausschuss abgelehnt wird, ist eine Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht möglich. Das Bundesverfassungsgericht hebe aber eine Wahl nicht einfach auf, "nur weil es Unregelmäßigkeiten gibt", so Boehme-Neßler.
Das Verfassungsgericht versuche, "Wahlfehler zu reparieren, anstatt eine Wahl komplett aufzuheben", so der Jurist weiter. "Eine naheliegende Lösung wäre, dass man die Wahlzettel, die nachweislich rechtzeitig abgeschickt wurden, aber verspätet ankamen, noch nachträglich mitzählt."
Boehme-Neßler sagte aber auch, das Verfassungsgericht werde abwägen, "ob es wert ist, das Land ins Chaos zu stürzen". Er sei da "sehr skeptisch". Das Gericht lege großen Wert auf einen stabilen, arbeitsfähigen Bundestag.
BSW-Generalsekretär Christian Leye hält das nicht von großen Worten ab. Am Dienstag sprach er von einer Situation, in der die Demokratie "noch nie" gewesen sei. Noch nie sei eine Partei so knapp mutmaßlich an der Fünfprozenthürde gescheitert, sagte er der AFP. Es gehe deshalb auch um grundsätzliche Fragen: "Hat die Demokratie hier funktioniert? Und hat die nächste Bundesregierung eine gewählte Mehrheit oder bräuchte Friedrich Merz einen weiteren Koalitionspartner?"
- Eigene Recherche
- bundestag.de: Parlament. Endgültiges Ergebnis der Bundestagswahl festgestellt
- fr.de: BSW-Einspruch gegen Bundestagswahl: "Haben Fünf-Prozent-Hürde mit hoher Wahrscheinlichkeit geknackt"
- webarchiv.bundestag.de: Einspruch gegen die Wahl ist möglich
- bundeswahlleiterin.de: Bundestagswahl 2025: Wahlteilnahme von Auslandsdeutschen
- Mit Material der Nachrichtenagenturen AFP und dpa