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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Extremismusexperte Ahmad Mansour "Dabei bleibt keiner kalt"
Ein 26-Jähriger greift im Namen des "Islamischen Staats" ein Stadtfest in Solingen an. "Diese mörderische Bande bekämpft alles, was ihnen nicht passt", erklärt Islamismus-Experte Ahmad Mansour im t-online-Interview.
Nach einem Messerangriff auf der 650-Jahr-Feier der Stadt Solingen am 23. August ist eine politische Debatte über die notwendigen Konsequenzen entbrannt. Der mutmaßliche Täter, Issa al-Hassan, hielt sich in Deutschland auf, obwohl er eigentlich ausreisepflichtig war. Die Ampelkoalition will nun konsequenter abschieben und wird dabei von der Opposition vor sich hergetrieben.
Vielen Politikern ginge es nach einer solchen Tat um Aufmerksamkeit, ihre Forderungen seien jedoch nicht besonders wirksam, sagt Ahmad Mansour. Der Psychologe beschäftigt sich seit Jahren mit islamistischen Extremismus und fordert nachhaltige Strategien gegen Radikalisierung junger Menschen. Im Interview mit t-online erklärt er, wo sich junge Menschen heute radikalisieren und welche Bedeutung der 7. Oktober dabei spielt.
t-online: Herr Mansour, der 26-jährige Issa al-Hassan hat am Freitagabend scheinbar wahllos auf Menschen eingestochen. Wie erklären Sie sich das?
Ahmad Mansour: Die Gründe, warum sich Menschen in Deutschland radikalisieren, sind vielfältig. Ich selbst arbeite mit jungen Menschen in Schulen und Gefängnissen und beobachte da eine Emotionalisierung in gigantischem Ausmaß. Das hat insbesondere mit der Situation nach dem 7. Oktober zu tun, also dem Überfall der Hamas auf Israel. Darüber konsumieren viele Jugendliche radikale Inhalte in den sozialen Medien und gehen auf Distanz zur Mehrheitsgesellschaft. Das könnte auch in diesem Fall eine Ursache sein. Der Attentäter hat seinen Anschlag ja selbst als Rache erklärt für das angebliche Massaker in Palästina.
Ahmad Mansour
Der Psychologe, geboren 1976, ist arabisch-palästinensischer Israeli und Deutscher. Seit 2004 lebt er in Berlin. Er arbeitet für Projekte gegen Extremismus und Antisemitismus. Anfang 2018 gründete er die Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention, die Projekte gegen muslimischen Extremismus und Antisemitismus für junge Menschen anbietet. Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Moses-Mendelssohn-Preis zur Förderung der Toleranz, den Carl-von-Ossietzky-Preis und das Bundesverdienstkreuz.
Der mutmaßliche Täter kam Ende 2022 nach Deutschland und lebte in Flüchtlingsunterkünften in Nordrhein-Westfalen. Wo kann sich so jemand radikalisieren?
Wir wissen nicht, ob sich diese Person in Deutschland radikalisiert hat oder als Radikaler eingereist ist. Hier vor Ort passiert das kaum noch in Moscheen. Tatsächlich gab es in Solingen vor ungefähr zehn Jahren eine Moschee, in der radikales dschihadistisches Gedankengut verbreitet wurde. Da war damals auch Deso Dogg dabei (Anm. d. R.: Ein deutscher Rapper, der als Terrorist für den Islamischen Staat am Syrienkrieg teilnahm und dort vermutlich getötet wurde). Aber diese Gruppierung wurde verboten und seitdem hat sich ganz viel verändert. Mittlerweile passiert die Radikalisierung vor allem in den sozialen Medien.
Ach so?
Das ist aber nicht die einzige Ursache, die Entwicklung ist oft sehr komplex. In diesem Fall kommt der Täter aus Deir al-Sor in Syrien. Das war eine Hochburg des "Islamischen Staats" als er noch ein junger Mann war. Das heißt, er bringt womöglich eine entsprechende Sozialisation und bestimmte Werte mit. In Begegnung mit unserer Gesellschaft kann das zu Ablehnung und Radikalisierung führen. Dann spielt auch noch seine Persönlichkeitsstruktur mit rein. Das bedeutet möglicherweise eine Neigung zu Autorität und patriarchalischen Strukturen. Ob er sich verloren gefühlt oder Lebenskrisen durchgemacht hat. All das sind Faktoren, die zur Radikalisierung führen können. Wir wissen allerdings wenig über diesen jungen Mann und was er in den letzten zwei, drei Jahren für Prozesse durchgemacht hat.
Welche Inhalte in den sozialen Medien tragen zur islamistischen Radikalisierung bei?
Das sind aktuell oft arabische Videos über den Nahostkonflikt. Darin wird behauptet, dass ein Kampf gegen den Islam stattfindet, in dem der Westen oder die bösen Zionisten gegen muslimische Opfer vorgehen. Oft werden religiöse Aussagen oder Zitate aus dem Koran über sehr traurige Bilder aus Gaza gelegt. Der Krieg liefert ja viele traurige Bilder von Ungerechtigkeit und toten Kindern. Ob das inszeniert ist oder echt, spielt keine Rolle. Mir werden diese Videos auch angezeigt und dabei bleibt keiner kalt. Das sind echt harte Bilder, die man da sehen muss. Und das geht sehr schnell. Man muss nur einmal ein arabisches Video auf TikTok oder Instagram gesehen haben, in dem es vielleicht um etwas ganz anderes ging, und zwei Videos später sieht man dann Bilder aus Gaza mit trauriger Musik und religiösen Sprüchen.
Es gibt aber auch Gruppierungen wie "Realität Islam" oder "Muslim Interaktiv", die Inhalte auf Deutsch produzieren. Sie sprechen gezielt muslimische Jugendliche an, immer mit dem Hintergedanken, die Zuschauer auf Distanz zu Deutschland zu bringen und den Westen zu verunglimpfen. Seit dem 7. Oktober haben diese Gruppen massiv Konjunktur und schaffen es, enorm viele Jugendliche zu erreichen. Sie machen auch nicht mehr nur Videos, sondern können auch offline Menschen bewegen. In Hamburg hat so eine Gruppe zu einer Demo aufgerufen und dann kamen 1.000 Menschen und demonstrierten für ein Kalifat in Deutschland.
Der "Islamische Staat" hat den Anschlag in Solingen für sich reklamiert. Was bedeutet das?
Das heißt, dass unsere Sicherheitsapparate vor einer großen Aufgabe stehen. In den letzten Jahren hatten wir mit Anschlägen zu tun, die von Einzelpersonen ausgegangen sind, so wie zum Beispiel in Mannheim. Jetzt haben wir es aber mit einem Attentäter zu tun, der Kontakt mit dem "Islamischen Staat" hatte. Es handelt sich also um einen koordinierten Anschlag. Genau solche Pläne müssen unsere Sicherheitsapparate im Vorfeld identifizieren und verhindern. Das ist dieses Mal nicht gelungen.
Was für eine Ideologie verfolgt der "IS"?
Der "IS" ist eine mörderische Bande, die im Namen des Islam alles bekämpft, was ihr nicht passt. Dazu zählen der Westen, die Juden, die Schiiten, die Jesiden – alle, die nicht ihre Religion teilen. Das ist eine kriminelle Vereinigung, die einen theologischen Hintergrund hat. Wir sind heute in einer besseren Situation als früher, weil das Staatsgebilde des "IS" zerschlagen wurde. Jetzt gibt es das sogenannte "digitale Kalifat", das auf der ganzen Welt vernetzt ist und mit Gewalttaten aktiv werden kann. Zuletzt haben wir das in Russland, im Iran und immer wieder in Syrien gesehen. Das macht die Gruppe noch viel gefährlicher, weil man sie kaum militärisch bekämpfen kann.
Wie konnte der "Islamische Staat" den Attentäter von Solingen rekrutieren?
Es ist nicht klar, wo die Ansprache stattfand. Ob durch Kommunikation in den sozialen Medien oder schon davor in Syrien. Ich kann aus Sicherheitskreisen bestätigen, dass der "Islamische Staat" Leute nach Deutschland geschickt hat, um hier Strukturen aufzubauen. Da gab es in den vergangenen Monaten immer wieder Razzien, aber diese Strukturen sind da.
Warum greift der "Islamische Staat" ein Stadtfest in Solingen an?
Terror ist immer eine Frage von Gelegenheit. Er hat in der Nähe gewohnt und dann wohl mitbekommen, dass dort ein großes Fest ist. Das hat mit Solingen nichts zu tun, sondern hätte überall passieren können. Es war seine Chance, zu handeln.
War der Anschlag ein Erfolg für den "IS"?
Natürlich! Wir diskutieren alle darüber und die Unsicherheit ist da. Terror will terrorisieren und Ängste schüren, das hat er erfolgreich geschafft.
Jetzt will die Politik Migrationspolitik verschärfen und mehr kriminelle Ausländer abschieben. Zielt der "IS" darauf ab?
Der "IS" interessiert sich nicht für Innenpolitik, sondern will nur destabilisieren. Die Islamisten wollen unsere Gesellschaft verunsichern. Die Leute sollen unzufrieden sein, sich einschränken und ihre Politiker infrage stellen. Es geht ihnen darum, den Westen einzuschüchtern und langfristig so unsicher zu machen, dass sie sich anders verhalten. Ich glaube zum Beispiel, dass die Franzosen zweimal darüber nachdenken, ob sie Karikaturen veröffentlichen. Ich beobachte die Reaktionen auf solche Anschläge jetzt nicht zum ersten Mal und halte die Antworten der Politik für sehr flach. Sie wollen einfach nur das Gefühl vermitteln, dass sie etwas tun. Die Politiker liefern aber keine nachhaltigen und flächendeckenden Konzepte für eine bessere Migrationspolitik.
Wie sollten wir mit Menschen umgehen, die sich radikalisiert haben?
Wenn sich jemand radikalisiert hat, gibt es Maßnahmen, die helfen können, diese Menschen zu retten. Radikalisierte Menschen sind aber vor allem eine Aufgabe für unsere Sicherheitsapparate, die sie beobachten und alles dafür tun müssen, dass keine Gefahr von ihnen ausgeht. Ich selbst bin in der Präventionsarbeit tätig und versuche, diese Entwicklung frühzeitig aufzuhalten. Das schaffen wir, indem wir Leute selbstbewusster machen, für unsere Grundwerte wie Demokratie und Selbstbestimmung gewinnen und ihnen eine Perspektive geben. Dann können sie bei einer möglichen Ansprache von radikalen Gruppierungen in der Lage sein, abzulehnen und auf Distanz dazu zu gehen.
Radikalisierung...
...wird in aller Regel zuerst im engeren sozialen Umfeld wahrgenommen. Eltern, Angehörige, Freunde oder Lehrer können sich an die Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wenden. Die Beratung ist kostenlos und vertraulich.
Die Beratungsstelle ist erreichbar unter der Telefonnummer 0911/943 43 43 oder der Mail-Adresse beratung@bamf.bund.de.
Gibt es viele Menschen, die Gefahr laufen, sich zu radikalisieren?
Es gibt ein paar Hunderte islamistische Gefährder in Deutschland. Die Gruppe derer, die Gefahr laufen, sich zu radikalisieren, ist jedoch derzeit enorm groß. Wir reden von Zehntausenden Menschen, die zum Teil aufgrund des 7. Oktobers und der Ereignisse in den sozialen Medien extrem emotionalisiert sind. Hätten Sie mich am 6. Oktober gefragt, hätte ich die Gefahr geringer eingeschätzt. Aber seitdem hat sich die Gefahr verdreifacht. Darunter sind nicht nur junge muslimische Flüchtlinge, sondern auch Menschen, die schon seit Generationen hier leben und zum Teil auch Deutsche ohne Migrationsgrund, die aufgrund von Lebenskrisen konvertieren und sich dann weiter radikalisieren.
Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass ein Anschlag wie in Solingen noch einmal passiert?
Sehr hoch.
Herr Mansour, wir danken Ihnen für das Gespräch.
- Interview mit Ahmad Mansour