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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Renaissance der Kanzlerin Sie ist wieder da
Noch vor Wochen wirkte es, als könnte die Kanzlerin bald zurücktreten. Doch jetzt führt Angela Merkel das Land mit pragmatischer Ruhe durch die Krise
Solche Worte, wie sie am Mittwochabend in den Wohnzimmern der Deutschen aus dem Fernseher schallten, hat man von Angela Merkel noch nie gehört: "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt", sagte die Kanzlerin mit fester Stimme. Ihre Rede sehen Sie oben im Video in voller Länge – oder hier.
Merkel appelliert an die Bevölkerung, dass jeder Einzelne die Kontakte zu anderen Menschen minimieren soll. Die Kanzlerin scheut sonst scharfe Sätze, sie ist eine wahre Meisterin darin, abwägende Formulierungen zu finden. Nicht zu wuchtig, nicht zu harmlos.
Doch am Mittwochabend sprach sie mit unmissverständlicher Klarheit – und mehr als 20 Millionen Menschen sahen zu. Die Fernsehansprache an die Nation wirkt der dramatischen Lage angemessen, denn bundesweit ist lediglich die Grundversorgung noch flächendeckend gewährleistet: Die Grenzen sind mit Ausnahmen praktisch dicht, Geschäfte, Schulen und Spielplätze geschlossen. Deutschland steht still – doch gleichzeitig erlebt das Land die Renaissance der Angela Merkel.
Niemand war sicher, wie es weitergehen würde
Seit rund 15 Jahren regiert die Christdemokratin nun das Land, ist darüber gealtert, oft macht sie einen müden Eindruck. Merkel überließ das Tagesgeschäft des Regierens weitgehend ihrem Kabinett, machte ein paar Auslandsreisen, flog nach Indien, Mali und Äthiopien. Von einer Vision, wie und – vor allem wohin – sie Deutschland führen will, war keine Rede mehr. Einige im politischen Berlin begannen sich zu fragen, was Angela Merkel eigentlich beruflich macht.
Noch im Februar des Jahres war es sogar denkbar, dass die Legislaturperiode vorzeitig enden könnte, denn nach dem eigentlich für Ende April geplanten CDU-Parteitag wäre die Spitze der Regierungspartei neu aufgestellt worden. Niemand war sich sicher, wie es weitergehen würde. Doch die Wahl zum CDU-Vorsitz ist auf unbestimmte Zeit verschoben, die ersten Funktionäre in der Partei erklären, sie hätten kein Problem damit, wenn erst im Dezember ein neuer Vorsitzender gewählt würde. Annegret Kramp-Karrenbauer bliebe so länger als geplant im Amt – und die Position der Kanzlerin wäre weiter gefestigt.
Spätestens nach ihrer Fernsehansprache ist klar: Die Bundeskanzlerin ist zurück – und sie ist so souverän wie seit Jahren nicht mehr. Eines wird nun endgültig klar: Nie macht Merkel bessere Politik als in der Krise. Im Moment der Bewährung erstrahlt die Regierungschefin.
Merkel agiert nicht, doch sie reagiert
Im grauen Alltag wird der Kanzlerin oft ein spröder Stil vorgeworfen, doch in Krisenzeiten schätzen viele Deutsche gerade diese Eigenschaft der Angela Merkel. Die Menschen wollen dann niemanden an der Spitze, der losdonnert: sondern einen kühlen Kopf im Kanzleramt.
Und genau das ist die Kernkompetenz der Kanzlerin, auf dem aktuellen politischen Tableau kann das wohl niemand so gut wie sie: Merkel agiert nicht, doch sie reagiert – jeden Tag neu, jeden Tag auf die entsprechenden neuen Bedürfnisse angepasst. Merkel ist keine Politikerin, die hektisch Entscheidungen fällt.
"Jederzeit umdenken"
Permanent muss sie abwägen, welche Maßnahmen nötig und sinnvoll sind. Auch die Corona-Pandemie wird irgendwann eingedämmt sein; und die Frage ist, wie die Wirtschaft dann wieder funktionieren kann. Auf diesen Tag hoffen die Bundesbürger – und eine Antwort auf diese Frage muss die Politik liefern. Eher früher als später.
Angesichts der derzeitigen Krisenlage formulierte Merkel es zugeschnitten in ihrer Ansprache so: "Wir werden als Regierung stets neu prüfen, was sich wieder korrigieren lässt, aber auch: was womöglich noch nötig ist. Dies ist eine dynamische Situation, und wir werden in ihr lernfähig bleiben, um jederzeit umdenken und mit anderen Instrumenten reagieren zu können. Auch das werden wir dann erklären." In Deutschland kann die Ausgangssperre kommen, Merkel macht schrittweise Politik.
Die Parolen der Angela Merkel für die jeweilige Situation
Der Krisenstab des Kanzleramtes wird von Virologen und dem Robert Koch-Institut beraten; und Angela Merkel ist klug genug, in dieser Hinsicht dem Rat der Wissenschaft zu folgen. Nahezu täglich gibt die Kanzlerin jetzt Pressestatements, es ist eine ungewöhnlich enge Taktung. Deutschland kämpft gegen das Corona-Virus und Angela Merkel moderiert.
Merkel ist keine großartige Rhetorikern, trotzdem äußerte sie bislang in jeder größeren Krise einen entscheidenden Satz. Einen Satz, der die Menschen beruhigen sollte und soll, der noch Jahre später mit den Ereignissen verknüpft sein wird — eine Art Parole der Angela Merkel für die jeweilige Situation.
In der Finanzkrise war "Die Spareinlagen sind sicher" die Formulierung, die die Menschen beruhigen sollte. In der Flüchtlingskrise 2015 war es die Formulierung "Wir schaffen das". Später wurde dieser Satz Merkel oft vorgehalten.
In der Corona-Krise fehlte bislang solch ein Satz, er fiel auch am Mittwochabend in Merkels Appell an die Nation nicht. Wird er kommen? Vielleicht braucht es aber auch gar nicht die eine, griffige Formulierung in dieser Krise. Vielleicht ist die Bedrohung so enorm, dass Merkels Art von politischer Kommunikation ausreicht. Das wird sich in den nächsten Tagen zeigen, wenn deutlich wird, ob die Regierung die Ausgangssperre in Deutschland verhängen muss, oder ob die Bürger sich freiwillig in ihre Wohnungen zurückziehen.
Wettbewerb um das beste politische System
Die Corona-Krise ist, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Interview mit t-online.de sagte, auch ein Wettbewerb um das beste politische System: Das Virus bedroht alle Staaten und Gesellschaften – seien es etwa Demokratien oder Diktaturen – in ähnlicher Weise. Es ist ein Stresstest dafür, wie gut die unterschiedlichen Politiker in der Lage sind, auf das Virus zu reagieren.
Donald Trump verkündet seinem Land in markigen Tweets, wie prima er die Krise im Griff habe, fordert gleichzeitig die Segnung Gottes. Boris Johnson vollführt innerhalb weniger Stunden bei der Bewältigung von Corona eine 180-Grad-Wende in Großbritannien. Aber die deutsche Kanzlerin steht ruhig da. Ihr Pragmatismus ist erfolgreich. Es ist der redliche Politiker-Stil, der abwägt und offen kommuniziert, der sich an Wissenschaftlichkeit orientiert, und ohne Übertreibung das moderiert, was ist.
Und bereits jetzt zeigt sich, wie der Stil von Angela Merkel international Erfolg hat. Beispielsweise in Italien: Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte ist Merkel recht ähnlich, auch wenn er einen völlig anderen politischen Hintergrund hat.
Merkels Gelegenheit
Conte wurde nur Ministerpräsident, weil sich die beiden Regierungsparteien nicht einigen konnten, wer das wichtigste Amt im Staat bekommen sollte. Also wurde Conte installiert, ein Vermittler. Doch aus Conte, dem Moderator, wurde in der Corona-Krise nun: Conte, der führende Staatsmann. Er brachte die Italiener dazu, daheim zu bleiben, managt nun das Land in einer unfassbar schweren Krise. Conte ist jetzt mit weitem Abstand der beliebteste Politiker im Land.
So ähnlich könnte es bei Merkel auch funktionieren: Die Frau, die eigentlich politisch fast schon verabschiedet schien, ist nun zurück. Gegen Ende ihrer Kanzlerschaft hat Merkel jetzt also die Gelegenheit, ihrem Land einen weiteren Dienst zu erweisen. Denn sie kann in scheinbar ausweglosen Situationen führen.
Vielleicht geht Merkel gerade als nüchtern managende Krisenkanzlerin in die Geschichte ein. Als Spitzenpolitikerin, die keine hochtrabenden Visionen hatte. Sondern durch kluge Überlegungen und Pragmatik führte. Es wäre ein besonderes Erbe der Angela Merkel.