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Coronavirus in Deutschland – Schicksalstage einer ganzen Republik


Was heute wichtig ist
Tote, immer mehr Tote

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 19.03.2020Lesedauer: 8 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Ein Helfer im Schutzanzug schiebt einen Corona-Toten aus einem Altenheim in Vitoria, Spanien. Dort sind acht Menschen an dem Virus gestorben und 45 weitere infiziert worden.Vergrößern des Bildes
Ein Helfer im Schutzanzug schiebt einen Corona-Toten aus einem Altenheim in Vitoria, Spanien. Dort sind acht Menschen an dem Virus gestorben und 45 weitere infiziert worden. (Quelle: Europa Press/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

außergewöhnliche Zeiten verursachen außergewöhnliche Zahlen. Die gestrige Tagesanbruch-Ausgabe wurde rund 650.000 Mal gelesen. Danke für Ihr Vertrauen. Gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen werde ich mich weiterhin bemühen, Sie in dieser schwierigen Situation jederzeit gut zu informieren. Ab heute arbeitet fast die gesamte t-online.de-Redaktion im Homeoffice. Das ist eine Herausforderung für Journalisten, die daran gewöhnt sind, mit Dutzenden von Kollegen in einem Newsroom zu sitzen und sich per Zuruf zu verständigen. Nun sind technische Hilfsmittel also noch wichtiger als ohnehin schon. Sollte uns dabei gelegentlich ein Fehler unterlaufen, bitte ich um Nachsicht. Wir werden ihn dann selbstverständlich transparent korrigieren, so wie es unseren hohen Standards entspricht.

Und hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Angela Merkel hat schon mehrere große Krisen durchgestanden. Die Finanzkrise, die Euro-Schuldenkrise und die Griechenland-Krise, die Atomkrise nach Fukushima, die Flüchtlingskrise natürlich, nicht zu vergessen die Krise ihrer CDU. Alle haben ihr viel abverlangt: Kraft, Nerven, durchwachte Nächte, meterweise Aktenstudium, Reisestrapazen und manchmal vielleicht auch ein Hauch der Furcht oder zumindest des Zweifels, ob sie das nun auch noch schafft. Natürlich darf sie sich die nicht anmerken lassen.

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Und nun, auf der Zielgeraden ihrer Amtszeit, wird sie plötzlich mit ihrer womöglich größten Krise konfrontiert. Noch stehen wir an deren Anfang, aber die Einschläge kommen unerbittlich näher. Ich zitiere aus dem Liveticker von gestern Abend:

++ Frankreich meldet 89 Corona-Tote innerhalb eines Tages ++

++ Die Zahl der Todesfälle in Italien steigt dramatisch: binnen 24 Stunden um 19 Prozent auf 2.978 Opfer. ++

++ Der Präsident der Lombardei warnt vor dem Kollaps des Gesundheitssystems: "In Kürze sind wir nicht mehr in der Lage, den Kranken eine Behandlung zu bieten." ++

++ Das gesamte österreichische Bundesland Tirol wird unter Quarantäne gestellt. ++

++ In spanischen Altenheimen sterben immer mehr Bewohner an dem Virus: Acht sind es in der Stadt Vitoria, 17 in einem Heim in Madrid. ++

++ Bayern meldet den siebten Corona-Todesfall. Insgesamt sind im südlichsten Bundesland schon mindestens 1.798 Menschen mit dem Virus infiziert. Das Landratsamt Tirschenreuth tut das einzig Vernünftige und verhängt als erste Behörde eine Ausgangssperre. Es dürfte nicht die einzige bleiben. ++

Unterdessen bereiten Virologen und Gesundheitsminister Spahn die Bürger darauf vor, dass uns diese Krise nicht Wochen, sondern noch monatelang beschäftigen wird. Denn die Kurve der Infektionen in Deutschland schnellt weiterhin steil nach oben:

Und die Infektionen treffen beileibe nicht nur Senioren:

In dieser Situation braucht ein Land eine starke, präsente und vertrauenswürdige Regierungschefin. Nach langem Zögern hat Angela Merkel der Bevölkerung gestern gezeigt, dass sie dieser Anforderung gerecht wird. Erstmals in ihrer mehr als 13-jährigen Amtszeit hat sie sich in einer außerplanmäßigen Fernsehansprache an die Nation gewandt. So wie Helmut Schmidt anlässlich der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer 1977, so wie Helmut Kohl zur Währungsunion und am Vorabend der Wiedervereinigung 1990, so wie Gerhard Schröder anlässlich der deutschen Beteiligung am Kosovokrieg 1999 und zu Beginn des von der Bundesregierung abgelehnten Irakkriegs 2003. Ein ebenso historischer Maßstab ist an Merkels Ansprache von gestern Abend zu legen.

Vor der breiten Fensterfront des Kanzleramts, mit Blick auf den Bundestag, das ehrwürdigste Haus der deutschen Demokratie, sprach Merkel klar, eindringlich und für ihre Verhältnisse in drastischen Worten:

"Das Coronavirus verändert zurzeit das Leben in unserem Land dramatisch. Unsere Vorstellung von Normalität, von öffentlichem Leben, von sozialem Miteinander – all das wird auf die Probe gestellt wie nie zuvor. (…) Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt. (…) Es geht darum, das Virus auf seinem Weg durch Deutschland zu verlangsamen. Und dabei müssen wir, das ist existentiell, auf eines setzen: das öffentliche Leben soweit es geht herunterzufahren. (…) Alles, was Menschen gefährden könnte, alles, was dem Einzelnen, aber auch der Gemeinschaft schaden könnte, das müssen wir jetzt reduzieren. Wir müssen das Risiko, dass der eine den anderen ansteckt, so begrenzen, wie wir nur können. (…) Nicht in Panik verfallen, aber auch nicht einen Moment denken, auf ihn oder sie komme es doch nicht wirklich an.

Niemand ist verzichtbar. Alle zählen, es braucht unser aller Anstrengung. (…) Es kommt auf jeden an. Wir sind nicht verdammt, die Ausbreitung des Virus passiv hinzunehmen. Wir haben ein Mittel dagegen: wir müssen aus Rücksicht voneinander Abstand halten. Im Moment ist nur Abstand Ausdruck von Fürsorge. (…) Ich glaube fest daran, dass wir diese Aufgabe bestehen, wenn wirklich alle Bürgerinnen und Bürger sie als IHRE Aufgabe begreifen. (…) Wir werden als Gemeinschaft zeigen, dass wir einander nicht allein lassen. (…) Wir sind eine Demokratie. Wir leben nicht von Zwang, sondern von geteiltem Wissen und Mitwirkung. Dies ist eine historische Aufgabe und sie ist nur gemeinsam zu bewältigen."

Ein langer, ein eindringlicher, ein überzeugender Appell. Die wohl stärkste Rede, die Merkel je gehalten hat. Auch deshalb, weil sie den Bürgern die Möglichkeit einräumt, ihre Verantwortung selbst wahrzunehmen. Sie zeigte Empathie, als sie den Ärzten, Pflegern und Supermarkt-Kassiererinnen dankte, auf deren Langmut und Einsatzbereitschaft wir nun alle angewiesen sind.

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Aber die entscheidenden Sätze sprach die Kanzlerin erst ganz am Ende, und sie formulierte sie bewusst vage: "Wir werden als Regierung stets neu prüfen, was sich wieder korrigieren lässt, aber auch: was womöglich noch nötig ist. Dies ist eine dynamische Situation, und wir werden in ihr lernfähig bleiben, um jederzeit umdenken und mit anderen Instrumenten reagieren zu können. Auch das werden wir dann erklären."

Das ist die verklausulierte Ankündigung des Notstands und der Ausgangssperre, die uns schon bald erwarten. Viele unserer Nachbarländer haben sie bereits, aber wir Deutschen mit unserem föderalen System und unserer speziellen Geschichte müssen offenbar behutsam auf so rigorose Einschnitte vorbereitet werden. Hoffen wir, dass sie nicht zu spät kommen. Es ist höchste Zeit.


WAS STEHT AN?

In Zeiten wie diesen muss man zusammenhalten. Das klingt gut und taugt auch als Spruch für das Poesiealbum, aber aus den schönen Worten wird jetzt bitterer Ernst. Deutschland ist ein Sozialstaat, es hat Versicherungen für dies und staatliche Hilfen für das, aber auch bei uns ist das soziale Netz für einen Ausnahmezustand nicht fest genug geknüpft. Zu Recht diskutieren Politiker landauf, landab ein Grundeinkommen und vergleichbare Maßnahmen zum Beispiel für Einzelselbständige und Kulturschaffende, bei denen kein Musikschüler mehr vorbeischaut, deren Yogakurs leer bleibt, die sowieso nicht mit dickem Einkommen gesegnet sind und in beängstigender Schnelle nicht mehr wissen, womit sie die Miete oder gar den nächsten Einkauf bezahlen sollen.

Für uns Nutznießer dieser Angebote bedeutet das, sich zu überlegen, ob man für jeden ausgefallenen Kurs, für jedes gestrichene Sportangebot, für jede nicht geleistete Musikstunde der Kinder wirklich das Geld zurückfordern muss, oder ob man es sich leisten kann, diejenigen, die jetzt so plötzlich im Regen stehen, nicht nur auf staatliche Hilfe hoffen zu lassen. Ja, die kommt, aber wann genau, und wie genau, und was für bürokratische Fallstricke sich ohne bösen Willen dann doch damit verbinden, das wissen wir jetzt noch nicht – und die Ungewissheit lässt bei den Betroffenen die Nerven blank liegen.

Die Großzügigkeit nach dem Zufallsprinzip hilft nicht jedem, und sie ist keine Lösung, aber für Linderung sorgt sie doch. Und sie trägt vielleicht dazu bei, dass mancher nicht aus Existenzangst jetzt erst mal einfach weitermacht und versucht, Teilnehmer im Kursraum zu versammeln, die doch eigentlich dringend den Kontakt miteinander meiden und zuhause bleiben sollten. Klar, diese Art von Solidarität kostet. Aus dem eigenen Geldbeutel. Aber wer kann, der sollte.

Die Auswirkungen auf jene, denen am unteren Ende der Wohlstandsskala die Einnahmen wegbrechen, sind brutal. Und sie gefährden die Gesundheit. Was sollen wir dem selbständigen Taxifahrer sagen? Halt doch einfach Abstand in deiner kleinen Fahrerkabine? Arbeite doch im Homeoffice? Klar, man kann die Gäste hinten sitzen lassen und Plastikfolie zwischen Fond und Fahrer spannen. Improvisationstalent dieser Art beobachten wir schon länger in asiatischen Ländern, die seit der Sars-Epidemie viel mehr Erfahrung mit gefährlichen Coronaviren haben, und dieselbe Kreativität ist nun auch bei uns gefragt. Aber wenn der Fahrer seine Fahrgastzelle nicht mehr nach Belieben mit Kunden füllen kann, weil der Beifahrersitz stets frei bleiben muss oder aus Angst vor Ansteckung schlicht keiner mehr ins Taxi steigen will, dann ist das Loch in der Haushalts- und Familienkasse nicht mehr zu stopfen. Dann müssen wir alle, muss das Gemeinwesen helfen. Solidarität kostet. Und unser reicher Staat mit seinen zuletzt kräftig sprudelnden Steuereinnahmen, der kann und soll nicht nur, der muss.

Eine Gesellschaft, die erfolgreich durch die Coronakrise kommt, wird eine sein, die ihre Nachhilfestunden in Solidarität erfolgreich absolviert und die Lektion verstanden hat. Die Alternative ist: ein Trümmerfeld. Mit etwas Glück, und wenn wir die Prüfung bestehen, wird die Erinnerung an das gemeinsame Durchstehen der Krise in unserem Leben einen Nachhall haben. Selbst etwas so Profanes wie der Fußball hat das schon geschafft: mit einem deutschen WM-Sommermärchen, bei dem die Welt zu Gast bei Freunden war und uns als eine offenere, aufgeschlossenere, freundlichere Gesellschaft zurückgelassen hat. Lang ist das her, aber vergessen haben wir das Gemeinschaftsgefühl nicht sofort. Die Krise, die uns das Virus jetzt aufzwingt, spielt in einer ganz anderen Liga. Wenn sie ausgestanden ist, werden wir uns bestimmt immer noch über den Idioten vor uns im Straßenverkehr ärgern, uns mal eben schnell in Warteschlangen vordrängeln oder die unverschämten Vordrängler verfluchen, uns gegenseitig auf Twitter beschimpfen. Aber vielleicht wird es dabei manchmal an der Schärfe fehlen. Das können wir uns dann sogar ins Poesiealbum schreiben. Später. Jetzt halten wir aber erst mal zusammen.


WAS LESEN, ANHÖREN UND ANSCHAUEN?

Die Stimmung im Land ist bedrückend – das Coronavirus zwingt uns in die Heimarbeit und in Selbstisolation. Doch auch wenn das die Laune trübt, dürfen wir uns das Lachen nicht verleiden lassen. Mein Kollege Steven Sowa erinnert sich an eine gedankenreiche Lektüre von Hellmuth Karasek aus dem Jahr 2011 und sieht in dem Buchtitel von damals ein Motto für unsere heutige Lage: "Humor ist, wenn man trotzdem lacht". Wie wir die Corona-Krise fröhlich meistern können, erläutert er Ihnen hier.


Ist das Coronavirus wirklich so schlimm? In diesen Tagen geistern allerlei verharmlosende Beschwichtigungen durchs Web, auch von Medizinern wie Wolfgang Wodarg. Was davon zu halten ist, erklärt der Corona-Cheferklärer und Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité in seinem brillanten Podcast.


Hamsterkäufe sind in Krisenzeiten eine normale Reaktion – aber riskant, sagt die Psychologin Donya Gilan in der heutigen Ausgabe unseres neuen Wissenschafts-Podcasts "Tonspur Wissen". Hier gibt sie Ihnen drei konkrete Tipps, wie Sie gut durch die Krise kommen.


Donald Trump besinnt sich nun auf Milton Friedman: Schon 1969 dachte der Ökonom über "Helikoptergeld" nach: einen festen Betrag, den jeder Bürger geschenkt bekommt. Der US-Präsident will so die Wirtschaft ankurbeln. Doch wie genau soll das funktionieren – und wäre es auch in Deutschland möglich? Mein Kollege Mauritius Kloft hat die Antworten.


Weltweit wurden drastische Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung des Virus zu verringern. Das hat auch Folgen für die Umwelt, wie meine Kollegen Hanna Klein und Axel Krüger auf Bildern aus dem All zeigen.


WAS AMÜSIERT MICH?

Erreichen die Appelle von Merkel, Spahn und Co. eigentlich alle Bürger?

Ich wünsche Ihnen einen gut informierten Tag. Bleiben Sie gesund!

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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