Polizistenmord in Heilbronn Wer erschoss Michèle Kiesewetter?
Der NSU-Prozess geht mit dem Urteil zu Ende. Doch besonders der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter wirft weiter Fragen auf. Handelten die Neonazis des NSU wirklich allein?
Die Theresienwiese ist ein Treffpunkt in Heilbronn. Sie liegt nahe dem Hauptbahnhof. Das Frühlingsfest findet hier statt. Am 25. April 2007 baut man dafür die Buden auf, das Riesenrad steht bereits. Die jungen Polizisten Michèle Kiesewetter und Martin Arnold machen auf dem Parkplatz der Theresienwiese eine kurze Pause – nach zwei Stunden Einsatz für die Aktion "Sichere City". Sie sitzen im Streifen-BMW, als sich von hinten Männer nähern.
Die Täter reißen die Dienstwaffen der Beamten an sich und auch deren Handschellen. 30 Minuten später wird ein gemieteter Fiat-Caravan mit dem Chemnitzer Kennzeichen "C-PW 87" von einer Polizeistreife registriert, der bei Oberstenfeld die Region Heilbronn verlässt.
Ein Radfahrer findet derweil die beiden Opfer am Tatort. Direkte Zeugen des brutalen Verbrechens gibt es nicht. "Wir haben keine Ahnung, wie es sich zugetragen hat", muss Polizeidirektor Roland Eisele kurz nach der Tat einräumen.
Zur falschen Zeit am falschen Ort
Viereinhalb Jahre schleppt sich eine chaotische Fahndung nach den Theresienwiese-Mördern hin. Sie ist ergebnislos. Dann, am 4. November 2011, werden die in Heilbronn genutzten Tatwaffen in einem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach gefunden. Daneben liegen die Leichen von zwei Männern. Es sind Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Die Dienstwaffen der Beamten finden sich in einer durch eine Explosion zerstörten Wohnung in Zwickau. Die Ermittler sind sicher: Sie haben die Leichen der Männer, die Michèle Kiesewetter töteten.
Wenig später gehen Bekennervideos in Redaktionen ein. Einige davon verschickt offenbar die Komplizin der beiden Toten, Beate Zschäpe, die sich wenig später nach Tagen der Flucht der Polizei stellt. Unbekannte verschicken weitere. So erfährt die Republik vom sogenannten "Nationalsozialistischen Untergrund". Es wird klar: Eine Art "rechte RAF" hat das Land heimgesucht.
NSU steht für über neun lange Jahre ungeklärte Morde an Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund, drei Sprengstoffanschläge in Nürnberg und Köln, 15 Raubüberfälle – und eben für den Mord Nummer 10: den gewaltsamen Tod der jungen Polizistin in Heilbronn. Der Fund in dem ausgebrannten Wrack ist ein Zufall – so, wie die Bundesanwaltschaft Kiesewetter und Arnold als Zufallsopfer von Böhnhardt und Mundlos und ihrer Komplizin Beate Zschäpe einstuft: Sie sind zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Doch es gibt begründete Zweifel an dieser These.
Ungereimtheiten und widersprüchliche Spuren
Die Geschichte des NSU-Terrors ist reich an Ungereimtheiten, widersprüchlichen Spuren und auch auffälliger Schweigsamkeit der Nachrichtendienste. Der Prozess, der an diesem Mittwoch in München zu Ende geht, hat viele offene Fragen nicht geklärt. Die Bundesanwaltschaft konnte die Überlebende des dreiköpfigen Terror-Kerns, Beate Zschäpe, anklagen und vier Helfer aus ihrem Umfeld. Die Haupttäter Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos haben sich in Eisenach in dem Wohnmobil umgebracht. Tote werden nicht belangt.
Aber wer hat ihnen bei den Mordplänen geholfen? Wer verschaffte die Adressen der ausländischen Opfer an den Tatorten in Hamburg, München, Nürnberg, Dortmund, Kassel und Rostock? Gab es im Fall des erschossenen Kioskbesitzers Mehmet Kubasik Hilfe aus der großen und regen Dortmunder Neonazi-Szene? Wieso war ein V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes gerade in dem Moment Gast in dem Nürnberger Lokal, als dort am 6. April 2006 Halit Yozgat ermordet wurde?
Ungelöste Rätsel durchziehen das Verfahren seit seinem Beginn. Doch nirgendwo haben sich die Ermittlungen so verworren entwickelt wie im Fall der ermordeten Polizistin Kiesewetter und des Mordversuchs an ihrem Kollegen Martin Arnold. Es war nicht nur das letzte Tötungsdelikt, das das Trio aus Thüringen begangen haben soll. Die Mörder setzten auch andere Waffen ein als die berüchtigte Ceska, die Tatwaffe bei den übrigen Morden. Vor allem aber: Polizistenmord passte bis dato nicht ins Tat-Schema des NSU.
Warum der Polizistenmord?
Mehr als 1000 Seiten umfasst der Bericht des Untersuchungsausschusses im Stuttgarter Landtag, der parallel zum Mordprozess in München den Spuren folgte. Im Ergebnis sind die Abgeordneten in Stuttgart wie die Anklagevertreter im Münchner Prozess zum Schluss gekommen: Böhnhardt und Mundlos, die mit Beate Zschäpe zusammen den mörderischen NSU-Feldzug gegen Migranten führten, erschossen am 25. April 2007 auch die junge Frau in Heilbronn.
Dafür spricht: Die genutzten und gestohlenen Waffen konnten bei ihnen sichergestellt werden. Das Wohnmobil mit dem Kennzeichen "C-PW 87" war von dem Duo angemietet worden. Im zerstörten Zwickauer Wohnhaus wurden außerdem die Dienstwaffen der Opfer gefunden, eine Hose Böhnhardts mit Blut von Kiesewetter und ein Stadtplan von Heilbronn.
Warum aber Heilbronn? Warum die Polizistin Kiesewetter? Waren die Täter alleine in Baden-Württemberg oder hat ihnen dort jemand geholfen? Das hat der Landtag offen gelassen. Auch der Untersuchungsausschuss des Bundestags hat ernste Zweifel an der These, dass die NSU-Täter in Heilbronn allein gehandelt haben, wie der Ausschussvorsitzende Clemens Binninger im Interview mit t-online.de erklärt.
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Selbst das Bundeskriminalamt ist irritiert. Am Tatort kann keine DNA der beiden Thüringer Neonazis gesichert werden. Und das obwohl die Täter engen Kontakt mit den Opfern gehabt haben müssen, als sie sie aus dem Streifenwagen zerrten und ihnen die Waffen entrissen.
Das BKA räumt 2012 in einem Papier ein: "Ein eindeutiger Nachweis, dass zumindest Mundlos und Böhnhardt am Tattat in unmittelbarer Tatortnähe waren, konnte bislang nicht erbracht werden." Auch Zschäpe lässt sich nur ein einziges Mal zu den Heilbronner Vorgängen ein. Im Münchner Prozess sagt sie: Böhnhardt und Mundlos haben erzählt, sie hätten sich Waffen beschafft, weil die eigenen Ladehemmungen hatten. Geglaubt habe sie das nicht.
Viele der Wissenslücken im Heilbronner Fall sind dem Chaos anzulasten, das nach der Tat in den Etagen der ermittelnden Behörden ausbrach. Mehrfach wechselte bei der Sonderkommission "Parkplatz" die Regie. Erst war die lokale Polizei, dann das Landeskriminalamt zuständig. Später, nach der Enttarnung der NSU-Morde, übernahm das Wiesbadener Bundeskriminalamt die Fahndung. Die Richtungen der Ermittlungen wechselten so schnell wie die Verantwortungen. Alte Spuren wurden fallen gelassen, neue aufgenommen, andere gar nicht verfolgt.
Eine Auflistung der Ungereimtheiten zeigt: Zu Ende ermittelt ist wenig. Es fällt schwer, Verschwörungstheorien und ernste Hinweise auseinander zu halten. Und ganz am Anfang hat auch noch eine Panne für weltweite Häme gesorgt.
Die falsche DNA
Am Tatort 2007. Beamte sichern DNA-Spuren an der Kleidung der Polizeibeamten. Sie finden an der von Martin A. die eines Mannes, deren Zugehörigkeit bis heute unklar ist. Andere führen zu einer unbekannten Frau, die im Lauf der Zeit an mindestens 40 Tatorten in Deutschland, Frankreich und Österreich für Gangsterstücke aller Art verantwortlich zu sein scheint. Morde, Autodiebstähle, Serieneinbrüche. Ein Querschnitt durch die Kriminalstatistik. Marodiert da wer durch halb Europa?
Sechs Staatsanwaltschaften machen sich auf die Suche. Nach zwei Jahren wissen sie: Der Gen-Code ist einer Mitarbeiterin zuzuordnen, die für das Verpacken jener Wattebäuschchen zuständig war, die die Kriminaltechniker für die DNA-Sicherstellung nutzten. Die Geschichte der mutmaßlichen Vielfach-Täterin handelt in Wirklichkeit von unsauberer Arbeit und einer peinlichen Verwechselung.
Die Phantombilder
Trotz der Irreführung durch die DNA-Panne bringen die Recherchen der heimischen Fahnder in den Jahren nach 2007 erste Ergebnisse. 14 Phantombilder können nach Zeugenaussagen angefertigt werden. Es handelt sich um Bilder von hektisch fliehenden Unbekannten, die kurz nach der Tat im Umkreis der Theresienwiese gesehen wurden. Einige sollen blutbefleckt in Fahrzeuge geklettert sein. Ein Mann wusch sich schnell die roten Blutspuren vom Ärmel. Bis zu sechs Täter könnten es gewesen sein, berichtet das LKA. Doch dann wird kein einziges Bild zur Öffentlichkeitsfahndung freigegeben.
Denn die Staatsanwaltschaft sieht zunächst zu viele Rechtsunsicherheiten. Die Bundesanwaltschaft schließt sich dem an. Sie stellt schließlich nach 2011 fest: Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos ähneln den Zeichnungen nicht. Die Phantombild-Fährte wird also fallen gelassen. Die Zahl der möglich Täter reduziert sich von sechs auf zwei. Ist das ein Fehler? Nach wie vor melden die Untersuchungsausschüsse Zweifel an dieser Entscheidung an.
Eine Beziehungstat?
Wieso muss die lebenslustige, sportliche Michèle Kiesewetter sterben? Ist sie tatsächlich ein zufälliges Opfer? Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses im Bundestag Clemens Binninger bezweifelt das im Interview mit t-online.de.
Kannte Kiesewetter ihre mutmaßlichen Mörder Böhnhardt und Mundlos? Hatte sie Kontakte in die rechte Szene ihrer Heimat? Tatsache ist: Kiesewetter stammt aus Oberweißbach in Thüringen, nicht weit entfernt von der Region, in der die beiden und Beate Zschäpe zu Hause waren und der NSU-Terror seinen Ausgang nahm.
Der damalige Präsident des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, nimmt jedoch 2011 eine seiner frühen Aussagen zurück, der Mord könne einen privaten Hintergrund haben. Kiesewetters Onkel, Polizist beim thüringischen Staatsschutz, soll acht Tage nach dem Mord gesagt haben, die "Türkenmorde" hätten damit zu tun. Was wusste er? Später bestreitet er die Aussage. Der private Verdacht geht ins Leere.
Die Ku-Klux-Klan-Verbindung
Gespenstischer ist eine Nebenspur. Sie öffnet sich 2012. Das Mordopfer Kiesewetter war zum Tatzeitpunkt der Böblinger Bereitschaftspolizei zugeordnet. Zwei der Beamten dieser Gruppe waren bis 2002 Mitglieder des rassistischen Geheimbundes "Ku-Klux-Klan", eines der beiden Ex-Klanmitglieder war zum Tatzeitpunkt der Chef von Michèle Kiesewetter.
Auch ein V-Mann des Verfassungsschutzes (Tarnname "Corelli") stand dem Geheimbund nahe. Sein Name wiederum taucht auf einer Telefonliste des NSU auf, die schon 1998 in Thüringen sichergestellt wurde. Ist da ein verschwörerisches Netzwerk in den Sicherheitsbehörden aktiv? Es wird eine Untersuchung eingeleitet. Am Ende erklärt die Bundesanwaltschaft, es gebe keinen Anhaltspunkt, dass die Kollegen aus Böblingen mit der Tat zu tun haben. "Corelli" stirbt später unter bis heute nicht vollständig aufgeklärten Umständen – angenommen wird eine unerkannte Diabetes. Aber auch eine Vergiftung kann nicht vollständig ausgeschlossen werden.
Drei weitere Todesfälle
Auch ein junger Mann namens Florian H. gehört um 2007 der rechten Szene an, steigt aber aus. Seiner Verlobten soll er zu einem Zeitpunkt, als der NSU noch nicht enttarnt war, erzählt haben: Ich weiß, wer Kiesewetter ermordet hat. Landeskriminalamt und auch der Landtagsuntersuchungsausschuss vernehmen ihn mehrfach. Für den 16. September 2013 wird er erneut zum LKA gebeten. Doch H. stirbt Stunden zuvor beim Brand seines Peugeot auf der Cannstatter Wasen bei Stuttgart.
Ein mutmaßlicher Selbstmord. Seine Schwester findet eine Pistole und eine Machete im ausgebrannten Fahrzeug – Waffen, die die Polizei übersehen hatte. Die Familie wirft den Ermittlern "schlampige Arbeit" vor. Wenig später stirbt Florian H.'s Ex-Verlobte nach einem Motorrad-Unfall an einer Thrombose. Ihr neuer Freund nimmt sich das Leben.
Am Ende: eine Islamisten-Spur
Wer hat am Tatort telefoniert? Fahnder können Funkzellen-Ortungen vornehmen. 2017 berichtet die ARD, das sei auch auf der Theresienwiese passiert – mit überraschendem Ergebnis: Aus geheimen Akten gehe hervor, dass einige der georteten Handy-Nummern gesuchten Islamisten zuzuordnen waren, die zu den so genannten "Sauerland-Terroristen" zählten. Die Sauerland-Zelle hatte damals Anschläge auf US-Einrichtungen in Deutschland geplant. Und was trieben amerikanische Geheimdienstler in der Nähe, wie andere Zeugen passend ergänzt haben? Die Spuren lassen sich nicht erhärten.
Sommer 2018. Die Tat ist jetzt elf Jahre her. Mit dem zweiten Untersuchungsausschuss des Landtags in Baden-Württemberg ist erneut ein Gremium mit dem Mord an der jungen Thüringerin befasst. Wolfgang Drexler ist wieder sein Vorsitzender. Der Ausschuss will über das Urteil von München hinaus die aufgeworfenen offenen Fragen klären. Eine neue ist dazu gekommen. Eine Münchner Anwältin der Sauerland-Attentäter, Ricarda Lang, hat im Juni ausgesagt, die Spur führe zu einem bekannten Islamisten: Issa S.. Er stammt aus dem Umfeld eines Braunschweiger Hasspredigers. Auf der Theresienwiese sei es damals um einen Waffendeal gegangen.
Der Prozess in München bekommt sein Urteil. In Stuttgart arbeiten sie am Schlussbericht im zweiten Untersuchungsausschuss. Und trotzdem passen all diese Enden nicht zusammen, nach elf Jahren immer noch nicht. Rechtsextreme Serien-Mörder, die bei einem Waffendeal der Islamisten auf der Heilbronner Theresienwiese mitmischen, dabei die Geheimdienste der Welt anlocken und Polizeistreifen umbringen. Das alles um 14 Uhr am 25. April 2007. Haben die Polizistin und ihr Kollege überhaupt Pause nach der Streifenfahrt für "Sichere City" gemacht? Oder starb Michèle Kiesewetter etwa im Einsatz? Wenn ja: In welchem?
- Untersuchungsausschuss-Bericht des Landtags Baden-Württemberg
- ARD: "Tod einer Polizistin"
- eigene Recherchen