NSU-Prozess im Überblick Die Taten, die Angeklagten, die offenen Fragen
Mit dem Urteil soll am Mittwoch der NSU-Prozess zu Ende gehen. Die Taten sind bekannt, fünf Menschen wurden angeklagt. Doch viele Fragen und merkwürdige Details bleiben ungeklärt.
Inhaltsverzeichnis
Jahrelang zog der "Nationalsozialistische Untergrund" eine Spur der Gewalt und des Terrors durch Deutschland. Zehn Menschen sollen die Rechtsterroristen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe auf skrupellose Weise getötet, Dutzende durch Schüsse und Bomben verletzt haben. Am Mittwoch will das Münchner Landgericht einen juristischen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der Taten ziehen. Nach mehr als fünf Jahren, nach mehr als 430 Prozesstagen, Hunderten Zeugen, endlosem juristischen Hickhack, nach Tagen mit Tränen im Gerichtssaal und mit bewegenden Opfer-Aussagen wurde das Urteil gegen die Hauptangeklagte Zschäpe und vier ihrer mutmaßlichen Unterstützer gefällt.
NSU-Prozess endet: Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt
Die Taten
Die Mordserie der Rechtsterroristen beginnt im September 2000. Auf einem Parkplatz in Nürnberg wird der Blumenhändler Enver Simsek mit acht Schüssen niedergeschossen. Zwei Tage später stirbt er. Mitte 2001 mordet der NSU ein zweites Mal in Nürnberg. Am 13. Juni erschießen Böhnhardt und Mundlos den 49-jährigen Abdurrahim Özüdoğru in seiner Änderungsschneiderei. Zwei Wochen später wird der Lebensmittelhändler Süleyman Taşköprü durch mehrere Kopfschüsse in seinem Geschäft getötet, Ende August der Gemüsehändler Habil Kiliç in München.
Für zweieinhalb Jahre unterbricht der NSU seine rassistische Mordserie. Dann wird am 25. Februar 2004 der Imbissverkäufer Mehmet Turgut in Rostock erschossen. Im Juni 2005 töten die Rechtsterroristen den 50-jährigen Ismail Yasar in seinem Imbiss in Nürnberg, keine Woche später wird der griechischstämmige Theodoros Boulgarides in seinem Schlüsseldienst in München durch Kopfschüsse hingerichtet.
Am 4. April 2006 werden vier Schüsse auf den Dortmunder Kioskbetreiber Mehmet Kubasik abgefeuert, zwei treffen ihn tödlich. Zwei Tage später stirbt dann der 21-jährige Halit Yozgat in seinem Internetcafe in Kassel. Das letzte Mordopfer ist die 22-jährige Bereitschaftspolizistin Michèle Kiesewetter. Sie wird am 25. April 2007 in ihrem Dienstwagen in Heilbronn erschossen, ihr Partner überlebt den Anschlag schwer verletzt.
Neben den Mordanschlägen werden dem "Nationalsozialistischen Untergrund" mehrere Sprengstoffanschläge zur Last gelegt. Am 23. Juni 1999, ein gutes Jahr vor Beginn der Mordserie, explodiert eine zur Rohrbombe umgebaute Taschenlampe in der Nürnberger Kneipe "Sonnenschein". Die Verbindung zum NSU wird erst während des Prozesses klarer, deshalb ist der Anschlag auch nicht Teil der Verhandlungen.
Am 21. Dezember 2000 deponieren die Täter eine Christstollendose mit Sprengsatz im Lebensmittelgeschäft einer iranischstämmigen Familie in Köln. Die Tochter öffnet die Dose einige Wochen später und wird schwer verletzt. Der verheerendste Sprengstoffanschlag erschüttert im Juni 2004 die Kölner Keupstraße. In der Nähe zahlreicher türkischer Geschäfte explodiert eine Nagelbombe, die 20 Menschen verletzt, einige lebensgefährlich.
Daneben begehen die Rechtsterroristen mindestens 15 Überfälle, um Geld für das Leben im Untergrund zu beschaffen. Die Ziele sind meist Sparkassen und Postfilialen, einmal ein Edeka-Supermarkt. Allein acht mal schlagen die Täter in Chemnitz zu. Über die Jahre erbeuten sie so um die 600.000 Euro.
Die Angeklagten
In München sitzen die Hauptangeklagte Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer und Unterstützer des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ auf der Anklagebank. Die Bundesanwaltschaft wirft Zschäpe Mittäterschaft an allen NSU-Verbrechen vor und fordert lebenslange Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung.
Die 43-Jährige will von den Morden und Anschlägen ihrer Freunde Mundlos und Böhnhardt immer erst im Nachhinein erfahren haben. Gestanden hat sie dagegen, 2011 die letzte Wohnung des Trios in Zwickau in Brand gesteckt zu haben. Ihre Altverteidiger fordern wegen der Brandstiftung und der Beihilfe zu mehreren Raubüberfällen die sofortige Freilassung, weil die zu erwartende Strafe mit Zschäpes Untersuchungshaft bereist abgegolten sei. Ihre Vertrauensanwälte fordern eine Haftstrafe von unter zehn Jahren. Zschäpe sitzt seit November 2011 ununterbrochen im Gefängnis.
Dem Mitangeklagten und Ex-NPD-Funktionär Ralf Wohlleben (43) wird vorgeworfen, die Mordwaffe vom Typ "Ceska" organisiert zu haben – und er habe gewusst, wofür Mundlos und Böhnhardt sie benutzen wollten. Wohlleben bestreitet das. Ihm drohen zwölf Jahre Haft wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen.
Carsten S. überbrachte die Waffe dem im Untergrund lebenden Trio. Nach dem Auffliegen des NSU wurde er festgenommen und gestand umfassend. Die Anklage fordert drei Jahre Jugendstrafe. Positiv rechnet sie S. an, dass er Hilfe bei der Aufklärung leistete und seine Schuld eingestand. Mehrere Angehörige von NSU-Opfern erkannten im Prozess die Reue von S. an – und haben ihm nach eigenem Bekunden verziehen. S. befindet sich auf freiem Fuß und lebt im Zeugenschutzprogramm.
Andre E. hielt laut Zschäpe bis zum Schluss Kontakt zum Trio. Er soll laut Bundesanwaltschaft, die zwölf Jahre Haft für ihn fordert, ein Wohnmobil gemietet haben, mit dem die Täter für einen Bombenanschlag nach Köln fuhren. Zudem habe er bei der Tarnung des NSU-Trios im Untergrund geholfen.
Holger G. (44) hat zugegeben, dem NSU-Trio einmal eine Waffe übergeben und den Untergetauchten mit falschen Papieren geholfen zu haben. Die Bundesanwaltschaft hat deshalb fünf Jahre Haft wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gefordert.
Die wichtigsten Prozessmomente
Der Prozess gegen Zschäpe und die vier Mitangeklagten beginnt am 6. Mai 2013. Vor dem Münchner Oberlandesgericht stehen Zuschauer und Journalisten Schlange. Nachdem Zschäpe in den Verhandlungssaal geführt wird, dreht sie den Reportern den Rücken zu. Acht Tage später wird die Anklageschrift verlesen, Zschäpe zeigt dabei keinerlei Regung.
Im Juni 2013 packt Carsten S. aus und belastet Ralf Wohlleben schwer. Zwei Tage später gesteht auch Holger G., dem NSU geholfen zu haben. Bei Zschäpe dauert es knapp zweieinhalb Jahre, bis auch sie sich erstmals vor Gericht äußert. Ihr Anwalt Mathias Grasel verliest am 9. Dezember 2015, dem 249. Verhandlungstag, eine Aussage, in der sich Zschäpe als Mitläuferin darstellt, die emotional abhängig von den beiden Männern gewesen sei. Sie gesteht, die letzte Fluchtwohnung des Trios in Zwickau in Brand gesteckt zu haben. Aber von den Morden und Anschlägen will sie immer erst im Nachhinein erfahren haben.
Am 29. September 2016 ergreift Zschäpe dann zum ersten Mal persönlich das Wort für eine kurze Erklärung: Sie bedauere ihr "Fehlverhalten" und sie verurteile, was ihre Freunde Mundlos und Böhnhardt den Opfern "angetan haben". Zschäpe behauptet, sich vom nationalsozialistischen und rassistischen Gedankengut distanziert zu haben.
Immer wieder kommt es im Laufe des Verfahrens zu dramatischen Momenten. Am 1. Oktober 2013 tritt der Vater des Mordopfers Halit Yozgat, Ismail Yozgat, als Zeuge auf. Er brüllt Zschäpe an: "Warum haben Sie mein Lämmchen getötet?" Dann wirft er sich auf den Boden, um die Position seines sterbenden Sohns zu beschreiben. Appelle der Mutter des Toten an Zschäpe, zur Aufklärung beizutragen, bleiben bis zuletzt ungehört. Die Tochter des iranischen Einzelhändlers, die im Dezember 2000 durch die Explosion der präparierten Christstollendose schwer verletzt worden war, spricht am 3. Und 4. Juni 2014 über die erlittenen Verbrennungen. Sie sagt: "So leicht lasse ich mich aus Deutschland nicht wegjagen."
Im Juli 2014 beginnt das Hickhack um Zschäpes Verteidiger. Sie gibt an, sie habe kein Vertrauen mehr in ihre Pflichtverteidiger. Das Gericht schmettert ihren Antrag auf neue Anwälte ab. Auch die drei Anwälte wollen weg von Zschäpe, beantragen mehrmals die Entbindung von ihren Aufgaben. Im Juli 2015 wird ihr ein vierter Pflichtverteidiger, Mathias Grasel, beigeordnet. Einmal zeigt Zschäpe ihre Altverteidiger sogar an – erfolglos.
Im Januar 2017 bescheinigt Psychiater Henning Saß Zschäpe volle Schuldfähigkeit. Sie sei möglicherweise noch immer gefährlich. Anders urteilt der von Zschäpes Vertrauensanwälten benannte Gutachter Joachim Bauer. Er attestiert Zschäpe verminderte Schuldfähigkeit. Doch das Gericht lehnt Bauer später wegen befürchteter Parteilichkeit ab.
Am 25. Juli 2017 beginnt die Anklage mit ihrem Plädoyer, später wird Bundesanwalt Herbert Diemer lebenslange Haft und anschließende Sicherungsverwahrung für Zschäpe und teils lange Haftstrafen für die Mitangeklagten fordern. Am 24. April 2018 weisen Zschäpes Vertrauensanwälte den Vorwurf der Mittäterschaft ihrer Mandantin an den Morden und Anschlägen des NSU zurück, und fordern am Ende eine Haftstrafe von unter zehn Jahren.
Am 3. Juli schließlich äußern sich Zschäpe und drei der vier Mitangeklagten in persönlichen Schlussworten. Zschäpe distanziert sich noch einmal von den NSU-Verbrechen. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl kündigt das Urteil für den 11. Juli an.
Die offenen Fragen
Warum musste die Polizistin Michèle Kiesewetter sterben? Bis zu jenem Mord im April 2007 waren alle Opfer des NSU-Trios Gewerbetreibende mit türkischen oder griechischen Wurzeln. Dann ändern die Rechtsterroristen das Muster. Die Bundesanwaltschaft meint, die Täter wollten damit den Staat und seine Repräsentanten angreifen. Beate Zschäpe hingegen erklärte vor Gericht: Mundlos und Böhnhardt ging es nur um die Waffen der Polizistin und ihres Kollegen.
Woher stammten die Waffen des NSU? Neun der zehn Morde verübte das NSU-Trio mit einer Pistole vom Typ "Ceska". Ihr Weg in die Hände der Terroristen ist weitgehend aufgeklärt: Die Waffe stammte aus der Schweiz, wurde über mehrere Stationen an ein Geschäft in Jena verkauft, von wo aus sie von Carsten S. im Auftrag Ralf Wohllebens zum bereits im Untergrund lebenden Trio gebracht wurde. Was aber ist mit den anderen 19 Waffen, die in der zerstörten Wohnung in Zwickau und dem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach gefunden wurden: zwei Maschinenpistolen, ein Gewehr, der Rest Pistolen und Revolver. Woher sie stammen, hat der NSU-Prozess nicht geklärt.
Gehörten noch mehr Leute zum "Nationalsozialistischen Untergrund"? Quer durch ganz Deutschland hatten die Terroristen potenzielle Anschlagsziele ausgespäht: Parteibüros, Kirchen, Moscheen, Bürgerinitiativen. Das zeigen Unterlagen, die in den Trümmern in Zwickau gefunden wurden. Bekam das Trio Hilfe beim Sammeln der Informationen? Allein viermal schlugen die Täter in Nürnberg zu. Warum ausgerechnet dort? Bis heute sind die Verbindungen in die fränkische Neonazi-Szene nicht hinreichend aufgeklärt.
Warum griffen die Behörden nicht früher zu? Schon im Januar 1998 in Jena war die Gelegenheit dazu. Die Ermittler fanden bei der Durchsuchung mehrerer Garagen, wonach sie gesucht hatten: Sprengstoff und Material zum Bombenbau. Trotzdem kam es nicht zur Festnahme. Stattdessen tauchten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe dreizehn Jahre lang in Sachsen unter, lebten mal bei Freunden aus der Szene, mieteten mal unter falschem Namen eine Wohnung an. Ermittler verschiedener Verfassungsschutz- und Kriminalämter kamen ihnen bei Observationen im Umfeld des Trios immer wieder nah. An Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe hatten sie aber offenbar weniger Interesse.
Wenige Tage nach der Enttarnung des NSU im November 2011 wurden beim Bundesamt für Verfassungsschutz und in mehreren Landesbehörden Akten zu der Terrorzelle und dessen Umfeld vernichtet. Der zuständige Referatsleiter beim BfV ließ die Schredderaktion vor das Auffliegen des Trios zurückdatieren. Seine Motivation wie die seiner Kollegen ist bis heute nicht vollständig geklärt. Ebenso rätselhaft bleibt die Rolle des hessischen Verfassungsschützers Andreas Temme, der beim Mord an Halit Yozgat in Kassel zur Tatzeit anwesend war, von den Schüssen aber nichts mitbekommen haben will. Zur Aufklärung der Umstände trägt Temme bis heute nicht bei.
- Bericht des "Tagesspiegels" zum Weg der Ceska
- Bericht der "Süddeutschen Zeitung" zu den Waffen im Prozess
- Chronik des NSU-Prozesses beim "Tagesspiegel"
- Stefan Aust, Dirk Laabs: "Heimatschutz". Pantheon, 2014.
- dpa
- Eigene Recherchen