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NSU-Mord an Enver Şimşek: Sohn spricht über Folgen des Anschlags


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Zum Tod von Enver Şimşek
Hinterbliebener Sohn spricht über die Folgen des ersten NSU-Mords

  • Jonas Mueller-Töwe
InterviewVon Jonas Mueller-Töwe

Aktualisiert am 09.09.2020Lesedauer: 11 Min.
Abdulkerim Şimşek im Interview: Der "Nationalsozialistische Untergrund" ermordete seinen Vater Enver Şimşek.Vergrößern des Bildes
Abdulkerim Şimşek im Interview: Der "Nationalsozialistische Untergrund" ermordete seinen Vater Enver Şimşek. (Quelle: Jonas Mueller-Töwe/t-online)
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Abdulkerim Şimşeks Vater war vor 20 Jahren das erste Mordopfer des NSU. Er spricht über das Leid der Opferfamilien, falsche Verdächtigungen, Ermittlungspannen und ungeklärte Fragen.

Eine hessische Kleinstadt in der Nähe von Frankfurt. Abdulkerim Şimşek empfing uns 2018 in einer praktisch und karg eingerichteten Wohnung, die er für seine Schwester geplant hatte, die jetzt größtenteils in der Türkei lebt, so wie seine Mutter. Sie alle sind Hinterbliebene des am 9. September 2000 von den NSU-Terroristen niedergeschossenen Enver Şimşek, dem ersten Opfer der rechtsextremen Mordserie.

Zum damaligen Ende des NSU-Prozesses hatte Şimşek mit einer Rede vor Gericht großes Aufsehen erregt, in der er nach vielen Prozesstagen noch einmal das Leid der Opferfamilien in den Mittelpunkt rückte. Wir besuchten ihn daraufhin. Er zeigte alte Fotos aus dem glücklichen Leben vor dem Mord.

In seinem ersten großen Interview sprach er sehr beherrscht drei Stunden lang über den Tag, an dem sein Vater erschossen wurde. Über die Jahre danach, in denen die Familie fast verzweifelte, weil die Polizei den Blumenhändler verdächtigte, Teil eines Mafiaclans zu sein. Und über seine Versuche, zu einem normalen Leben zurückzufinden. Er hat jetzt eine eigene Familie.

t-online: Herr Şimşek, bei den Abschlussplädoyers des NSU-Prozesses haben Sie eine aufsehenerregende Rede gehalten, die mit den Worten begann: "Ich bin der Sohn von Enver Şimşek. Ich war 13 Jahre alt, als mein Vater umgebracht wurde." Nach über 400 Verhandlungstagen und über 800 Aussagen von Zeugen und Sachverständigen haben Sie damit die Ungeheuerlichkeit der NSU-Mordserie noch einmal in Erinnerung gerufen – und den Ermittlern und dem Staat viele Versäumnisse vorgeworfen.

Abdulkerim Şimşek: Ich wollte dem Gericht meine Gefühle mitteilen – schildern, was ich durchlebt habe. In dem Verfahren geht es um Akten, um Papiere und immer wieder nur noch um Zschäpe. Ich wollte daran erinnern: Mein Vater ist gestorben.

Sie fragten: "Wie krank ist es, einen Menschen nur aufgrund seiner Herkunft oder seiner Hautfarbe mit acht Schüssen zu töten?" Haben Sie darauf geachtet, wie die Angeklagten reagiert haben?

Ich habe sie keines Blickes gewürdigt. Ihre Einstellung hat sich nicht geändert. Null Reue. Die stehen immer noch zu ihren Taten – mit Stolz. Deswegen habe ich sie nicht mal angeschaut.

Können Sie uns den 9. September 2000 schildern – den Tag, an dem Ihr Vater in Nürnberg ermordet wurde?

Mein Vater wurde erschossen, genau eine Woche nachdem wir meinen 13. Geburtstag gefeiert haben. Wir lebten damals in Schlüchtern, einer kleinen Stadt in Hessen. Mein Vater hatte einen Blumengroßhandel und fuhr deswegen oft durch ganz Deutschland. Er lieferte Blumen aus und hatte auch ein paar Stände hier und da, an denen Mitarbeiter verkauften. Einer von ihnen, aus Nürnberg, hatte sich Urlaub genommen – deswegen übernahm mein Vater. Als Vertretung.

Die rechtsextreme Terrorgruppe NSU ermordete zwischen 2000 und 2009 neun Menschen mit ausländischen Wurzeln sowie eine Polizistin. Auf ihr Konto gehen außerdem Brandanschläge und Raubüberfälle. Die beiden Haupttäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt begingen 2011 Suizid. Ihre Begleiterin Beate Zschäpe wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Noch ist das Urteil aber nicht rechtskräftig. Auch vier Unterstützer wurden verurteilt.

Sie gingen zu dieser Zeit auf ein Internat in Saarbrücken.

An diesem Samstag hat mich mein Lehrer um fünf oder sechs Uhr morgens aufgeweckt. "Abdulkerim, Du musst nach Nürnberg fahren", hat er gesagt. "Mit der Bahn ganz früh." Ich hatte gleich ein komisches Gefühl – das war ja nicht normal. Aber ich habe telefonisch niemanden erreicht. Mein Onkel holte mich in Nürnberg dann vom Bahnhof ab. Mein Vater hätte eine kleine Schlägerei gehabt, hat er gesagt. Nichts Schlimmes. Dann kam ich im Krankenhaus an.

Wo Ihr Vater auf der Intensivstation lag.

Meine Mutter war am Boden zerstört, gar nicht ansprechbar. Sie hat noch nicht mal bemerkt, dass ich da bin – so fertig war sie. Alle Verwandten weinten. Keiner wollte mir etwas sagen. Ich wollte zu meinem Vater und durfte nicht. Niemand durfte rein. Erst viele Stunden später konnten meine Mutter, mein Onkel, meine Schwester und ich zu ihm.

Als erstes bemerkte ich das Auge. Mein Vater lag dort, an Maschinen angeschlossen, mit einem weißen Tuch bedeckt. Das Auge war komplett zerfetzt. Im Gesicht sah ich blutverschmierte Löcher. Kleine, kleine Löcher. Ich fing an sie zu zählen – und sah immer mehr, je näher ich kam. Am ganzen Körper. Da wusste ich, es ist vorbei. Das war mir klar. Meine Mutter hielt weinend die Hand meines Vaters, bis die Maschinen aufhörten zu piepen. Wir wurden rausgedrängt. Und das war das letzte Mal, dass ich meinen Vater lebend gesehen habe.

Hatten Sie bis dahin Kontakt zu einer Welt, in der es Gewalt und Schießereien gab?

Überhaupt nicht. Mein Vater war ein sehr friedlicher Mensch, sehr engagiert. Jeder mochte uns. Wir mochten jeden. Gewalt war absolut unvorstellbar. An dem Tag, als wir aus dem Krankenhaus kamen, wurde meine Mutter vernommen. Es war schwer für sie, aber sie hat versucht, sich zusammenzureißen. Wir haben zu dem Zeitpunkt ja noch gedacht, man will die Täter finden. Dass die Polizei auf uns losgehen würde, das war uns nicht klar.

Ihre Familie ist ins Visier der Polizei geraten.

Die Polizei durchsuchte vor meinen Augen unsere ganze Wohnung. In den Zeitungen stand, mein Vater sei ein Drogendealer gewesen. Weil er jede Woche mit seinem Lkw nach Holland fuhr – um Blumen zu kaufen! Erpressung, Glücksspiel: Die Polizei beschuldigte uns. Immer wieder uns. Und so stand es dann auch in den Zeitungen.

Dass die Polizei auch im Umfeld des Opfers ermittelt, gehört bei Ermittlungen dazu. Sie haben beklagt, dass das in Ihren Augen über ein normales Maß hinausging.

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Anfangs hatten wir schon das Gefühl, dass die Polizei die Täter fassen will. Wir waren die erste Opferfamilie. Dass sie da in jede Richtung ermitteln, das kann ich verstehen. Aber sie haben alle Opferfamilien so unter Druck gesetzt wie uns. Beim zweiten, beim dritten, beim vierten, fünften und sechsten Opfer. Da hört mein Verständnis dann auf. Spätestens beim dritten Mordopfer mit der gleichen Waffe muss doch klar sein: Die Familie ist unschuldig!

Wie wurde Ihre Familie von der Polizei unter Druck gesetzt?

Ermittler zeigten meiner Mutter zum Beispiel einmal ein Foto einer Frau. Das sei die Geliebte meines Vaters, sagten sie ihr. Er hätte sogar Kinder mit ihr. Das war eine Erfindung, eine Lüge. Sie wollten meine Mutter dazu verleiten, irgendetwas zu erzählen.

Hat die Polizei diese Lüge jemals aufgeklärt?

Nein. Wir wissen das nur aus den Akten. Darin steht auch: Gegen meinen Onkel wurde ermittelt, gegen meine Verwandten. Ihre Handys und Telefone wurden abgehört. Die Polizei hat alles versucht, um meinen Vater als Schuldigen darzustellen. Erst im Prozess hat ein Polizist ausgesagt, dass nie etwas gefunden wurde. Dass mein Vater unschuldig sei. Dabei gingen wir schon immer davon aus, dass Nazis oder Erpresser meinen Vater ermordet haben müssen.

Seit wann hatten Sie diesen Verdacht?

Schon relativ früh. Wir wussten ja, dass wir unschuldig sind. Von einer Erpressung wusste niemand etwas – nicht mal die engsten Freunde. Das passte nicht zu meinem Vater, der bestimmt darüber gesprochen hätte. Also blieben nur noch Nazis. Aber das interessierte die Polizei gar nicht. "Kein Bekennerschreiben", sagten sie nur. "Dann kann es ja nichts Politisches sein." Immer wenn wieder jemand erschossen wurde, kamen die Ermittler wieder. Immer die gleichen Beschuldigungen. Immer wieder Schlagzeilen: "Dönermorde". Elf Jahre lang. Das war schwer.

Sie waren ein Jugendlicher damals. Wie sind Sie damit umgegangen, von der Polizei öffentlich verdächtigt zu werden?

Ich habe jahrelang verheimlicht, dass mein Vater erschossen wurde. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass mein Vater kein Krimineller war. Aber andere? Ich wollte nicht, dass man mit dem Finger auf mich zeigt: "Das ist der Junge vom Drogendealer." Auch meine Schwester und viele andere Opferfamilien haben das so gemacht. Die Leute glauben eben eher der Polizei oder den Medien. "Ich werde ja nicht erschossen", sagen sie. "Die müssen ja was gemacht haben, wenn sie erschossen werden." Solche dummen Sprüche.

Hatten Sie Freunde, die zu Ihnen standen?

Nur sehr enge Freunde wussten es. Aber es war eine Riesenbelastung.

Wie ging es Ihrer Familie während dieser Zeit?

Vor dem Mord war es so: Der Vater verdiente die Brötchen, die Mama war zu Hause. Das stürzte alles ein. Meine Mutter ging dann arbeiten im Altersheim. Es ging ihr nicht gut. Es gab weitere Morde – die Ermittler beschuldigten uns. Und meine Mutter hatte immer den Gedanken, dass es nun auch anderen Familien so ergeht wie uns. Sie hat so mitgefühlt.

Meine Schwester und ich haben versucht, ihr so wenig wie möglich zur Last zu fallen. Wir sind beide viel arbeiten gegangen, schon sehr früh. Meine Kindheit endete an dem Tag, als mein Vater starb.

Wie konnten Sie in einem Land weiterleben, in dem Sie so etwas durchmachen mussten?

Ich war viele Jahre sehr wütend. Auf alles eigentlich: auf die Polizei, auf das System, auf Deutschland. Die Hilflosigkeit machte mir zu schaffen. Ich hatte das Gefühl, dass man die Taten zulässt, weil wir Ausländer sind. So viele Leute mussten sterben. Normalerweise finden sie in Deutschland jeden, der zu schnell auf der Autobahn unterwegs ist. Aber es wurde immer weiter getötet. Das schien kein Ende zu nehmen. Ich war enttäuscht. Und dann immer wieder diese Lügen in den Medien. Ich hatte Wut in mir. Richtige Wut.

Welches Bild von Deutschland hatten Sie vor dem Mord?

Ein ganz anderes. Ich war ein Kind. Hier geboren und aufgewachsen. Deutsch-Türke, für mich war das selbstverständlich. Ob Deutscher oder Türke: Mein Vater hat uns beigebracht, dass man jeden respektieren muss, so wie er ist. Nie schlecht denken oder reden von jemandem. Mitgefühl zeigen. Danach lebten wir.

Haben Sie später jemals mit dem Gedanken gespielt, aus Deutschland wegzugehen?

Ja, natürlich. Als Jugendlicher habe ich mich gefragt, was ich hier in Deutschland überhaupt mache. Mit der Zeit habe ich dann festgestellt: Das ist mein Land. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Wieso sollte ich mein Land verlassen, nur weil einige Leute so krank denken? Wir lassen uns keine Angst machen. Meine Familie sieht das auch so.

Wenn ich Deutschland eines Tages doch verlassen sollte, dann aus ganz anderen Gründen. Meine Schwester und meine Mutter leben heute überwiegend in der Türkei und pendeln. Meine Mutter pflegt meine Großmutter, die wir nach einem Schlaganfall nicht zu uns nach Deutschland holen durften. Meine Schwester hat dort ihren Mann kennengelernt.

Ihr Vater war das erste Opfer in einer Mordserie, in der neun türkische und griechische Geschäftsleute umgebracht wurden – alle mit derselben Waffe, einer Ceska 83. Die Presse sprach von "Dönermorden", die Polizei von türkischer Mafia. Das änderte sich erst am 4. November 2011. An diesem Tag brachten sich die Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem Banküberfall anscheinend um. Wissen Sie noch, wo Sie waren, als Sie das erfuhren?

Ich saß im Auto. Das Radio lief. Ich habe nur "Ceska" und "Mordserie" gehört und bin sofort nach Hause gefahren. Meine Schwester und ich lebten damals zusammen. Mach den Fernseher an, habe ich zu ihr gesagt. Da lief es überall. Wir haben dann unsere Mutter angerufen. "Haben sie die Nazis endlich erwischt?", hat sie gefragt. "Wie viele sind es gewesen?" Sie war schockiert, als sie gehört hat, wie jung die Täter waren. Selbst mit ihnen fühlt sie mit – weil sie so früh auf die schiefe Bahn geraten sind.

Wie haben Sie reagiert?

Für mich war es eine unglaubliche Erleichterung. Die Unschuld meines Vaters war bewiesen. Das war uns sehr wichtig. Die Polizei kam allerdings erst Monate später, um uns aufzuklären – erst nachdem wir medial Druck gemacht haben. Das fand ich ärgerlich. Jahrelang hat man nichts von ihnen gehört. Und als es überall in den Medien zu sehen war, dass wir unschuldig waren, mussten wir hinterherrennen, um Informationen zu bekommen.

Über all die Jahre haben sie kaum etwas von der Polizei gehört?

Genau. Wir hatten das Gefühl: Die machen gar nichts. Die wollen nicht, dass die Täter gefasst werden. Später ist herausgekommen, dass die Polizisten viele, viele Hinweise auf Neonazis als Täter hatten. Sie sind denen nur nicht nachgegangen und haben sich auf die Opfer konzentriert. Das finde ich immer noch unvorstellbar.

Wie haben Sie sich das erklärt?

Rassismus. Mein Anwalt hat in den Akten später ein Bild gefunden. Am Tatort wurde ein Auto mit zwei Schwarzen gesehen. "Neger-Auto" stand unter dem Foto. Unsere Anwältin hat das auch im Plädoyer angesprochen. Es ist frustrierend, dass durch diese Vorurteile der Beamten die Morde nicht aufgeklärt werden konnten. Noch heute sind NSU-Täter auf freiem Fuß. Ich kann mit dem Thema nicht völlig abschließen, bis diese Leute gefunden sind.

Sie vermuten weitere Täter und Helfer. Warum glauben Sie nicht, dass Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos die Morde allein begangen haben?

Es muss auf jeden Fall noch jemanden in Nürnberg geben, der ihnen geholfen hat. Möglicherweise auch anderswo. Die Terroristen kannten sich an den Tatorten ja nicht aus. Sie kamen aus Zwickau. Drei Opfer wurden in Nürnberg ermordet. Jemand muss ihnen dort Informationen gegeben haben. Es wurden Notizen entdeckt, auf denen stand: "Asylheim Keller immer offen" oder "Imbiss, aber aufpassen, von der Tankstelle kommt jede freie Minute ein Mitarbeiter vorbei". Derjenige, der diese Orte über einen längeren Zeitraum ausgekundschaftet hat, sitzt nicht auf der Anklagebank. Es gab garantiert Helfer.

Sie glauben nicht, dass Ihr Vater zufällig Opfer wurde?

Anfangs dachte ich das. Heute glaube ich nicht mehr daran. Ich weiß aber nicht, ob ich es jemals herausfinden werde. Es wurden keine Angestellten oder Mitarbeiter getötet – immer nur Selbstständige. Mein Vater wurde vermutlich gezielt ausgewählt. An dem Ort, an dem mein Vater seinen Blumenstand hatte, kommt man nicht zufällig vorbei, wenn man von Zwickau nach Nürnberg kommt.

Erfüllt der Prozess in München Ihre Erwartungen, die Sie an die versprochene Aufklärung hatten?

Leider nein. Die meisten Opferfamilien sehen das ähnlich. Ich möchte wirklich eine hundertprozentige Aufklärung. Der Prozess kann mir das nicht liefern – auch wenn der Richter seine Arbeit sehr gut macht. Die Angeklagten könnten es, tun es aber nicht. Und wichtige Akten werden nicht freigegeben. Viele Fragen sind noch offen.

Welche zum Beispiel?

Wer waren die Helfer und Unterstützer? Warum ist 2006 in Kassel der Verfassungsschützer Andreas Temme zur Tatzeit am Tatort, als Halit Yozgat erschossen wird – will aber nichts gesehen oder gehört haben? Er hatte kurz vor und nach dem Mord an Halit Yozgat Kontakt zu einem V-Mann. Was wurde besprochen? Welche Rolle hat der Staat gespielt? Warum hat der damalige hessische Innenminister Bouffier dem V-Mann keine Aussagegenehmigung erteilt, damit dieser von der Polizei vernommen werden konnte? Wer zog die Fäden?

Was glauben Sie, warum die Mordserie 2006 zunächst aufhörte – bis 2007 die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen wird?

Meiner Ansicht nach hat der Verfassungsschutz das Trio durch Zahlungen an V-Leute mitunterstützt. V-Leute im Umfeld des NSU haben vom Verfassungsschutz 200.000 Mark bekommen. Das ist belegt. Wofür? Für 'unsere Sache', soll ein V-Mann dem Verfassungsschutz gesagt haben. Niemand würde für banale Informationen so viel Geld zahlen.

Was steckt Ihrer Meinung nach hinter diesen Zahlungen?

Das würde ich gerne wissen. Aufklärung bedeutet, dass man mir diese Fragen beantwortet.

Haben die Untersuchungsausschüsse etwas zur Aufklärung beigetragen?

Auch die bekommen die Akten der einzelnen Verfassungsschutzbehörden nicht zu sehen. Staatsgeheimnis. Das und die Persönlichkeitsrechte möglicher Unterstützer sind offenbar mehr wert als das Leben der Opfer.

Viele Akten wurden auch vernichtet.

Jahrelang wurden diese Akten aufgehoben. Erst als der Generalstaatsanwalt sie haben will, werden sie geschreddert: Frist abgelaufen. Das kann doch kein Zufall sein. Dagegen kann man aber nichts tun. Und das ist das Schlimmste. Vermutlich gab es jemanden in höherer Position, der alles koordiniert und geplant hat. Möglicherweise auch eine Art Netzwerk. Das ist meine Meinung, aber nur eine Vermutung. Der Prozess und die Ausschüsse klären das jedenfalls nicht auf.

Wer kommt denn für ein NSU-Netzwerk infrage?

Im Zusammenhang mit dem NSU wird angeblich gegen weitere fünf bis zehn Personen ermittelt. Uns wird aber nichts verraten. Wir kennen keine Namen. Wir wissen nichts über den Stand der Ermittlungen. Wird es Anklagen geben? Unsere Anwälte glauben: Wenn dieser Prozess endet, wird man keinen weiteren wollen – und alles unter den Teppich kehren.

Sie haben eine kleine Tochter, was werden Sie ihr in zehn Jahren erzählen?

Die Kleine fragt jetzt schon nach ihrem Opa. Der ist nicht mehr da, sage ich dann. Irgendwann werde ich ihr erzählen müssen, dass ihr Opa aufgrund seiner Herkunft von Nazis erschossen wurde. Es ist im Jahr 2000 passiert. Es ist unverzeihlich. Und Deutschland trägt leider einen großen Teil der Schuld daran.

Inwiefern?

Kinder und Jugendliche müssen davor bewahrt und geschützt werden, zu Neonazis zu werden. Deutschland müsste da viel mehr tun, finde ich. Gerade in Ostdeutschland. Menschenwürde, Grundgesetz, Gleichberechtigung, Respekt. Das müssen Kinder beigebracht bekommen. Die Rechten werden immer stärker und Deutschland tut zu wenig dagegen. Bis das Land brennt. So empfinde ich das.

Herr Şimşek, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Das Interview mit Abdulkerim Şimşek erschien erstmals am 9. Juli 2018, kurz vor Ende des Prozesses gegen Mitglieder und Unterstützer des NSU.
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