Kommentar zum Fall Yücel Jetzt muss Merkel die Muskeln spielen lassen
Ein Kommentar von Julian Moering
Kanzlerin Merkel nennt den Fall Yücel "enttäuschend", die EU zeigt sich "sehr besorgt" – die Chefetagen Europas haben sich endlich der unsäglichen Säuberungsaktionen Erdogans angenommen. Das ist gut so und es wurde auch Zeit. Doch Worte werden nicht reichen, den machtbesessenen türkischen Staatschef zur Raison zu bringen. Es müssen Taten folgen, auch auf Kosten eigener Nachteile. Pressefreiheit ist zu wertvoll, um sie zugunsten der Diplomatie zu opfern.
Seit fast zwei Wochen sitzt der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel nun in einem türkischen Gefängnis, weil er einen PKK-Führer interviewt und somit angeblich "Terrorpropaganda" betrieben haben soll. Ein unerträglicher Zustand. Doch Erdogan wähnt sich in Sicherheit. Sein größtes Faustpfand ist das Flüchtlingsabkommen mit der EU. Es hat ihn bislang vor beherztem Eingreifen und etwaigen Sanktionen bewahrt. Doch Europa und insbesondere die Bundesregierung müssen sich nun entscheiden: Wollen sie sich weiterhin von einem zunehmend diktatorisch auftretenden Staatschef am Nasenring durch die Arena führen lassen, oder lassen sie endlich ihre Muskeln spielen.
Zweifelsohne hätten Berlin und Brüssel die Möglichkeiten, Erdogan empfindlich zu treffen. Wirtschaftlich befindet sich die Türkei in einem rasanten Niedergang. Laut Medienberichten hat Ankara schon heimlich still und leise Hilfe von der Bundesregierung erbeten. Das ist der Hebel, wo Berlin und Brüssel ansetzen können: Schränken die europäischen Partner auf wirtschaftlicher Ebene die Zusammenarbeit mit der Türkei ein, würde das die Lage am Bosporus noch verschärfen. Und das Faustpfand würde die Seiten wechseln. Erdogan müsste reagieren.
Dass sich die Flüchtlingsproblematik durch die dann wohl zwangsläufig erfolgende Aufkündigung des Pakts mit Ankara kurzfristig noch einmal verschärfen könnte, ist verkraftbar. Zumal Deutschland und Europa ohnehin genügend Kapazitäten und Kompetenzen besitzen, um die Herausforderungen meistern zu können. Vielmehr könnte ein starkes und bestimmtes Einschreiten gegen Erdogan einer verunsicherten und an sich selbst zweifelnden EU den Glauben an die eigene Stärke wiedergeben.