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Messerangriff in Solingen: Die "Europäisierung" des Islamismus


Meinung
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Deutsche Vernachlässigung
"Der Islamismus 'gehört' zu Europa"

MeinungEin Gastbeitrag von Ruben Gerczikow

27.08.2024Lesedauer: 4 Min.
Die Nachrichtenagentur der Terrormiliz IS hat ein Foto geteilt, das den mutmaßlichen Täter von Solingen zeigen soll.Vergrößern des Bildes
Issa al-Hassan: Er soll in seinem Asylverfahren falsche Angaben gemacht haben. (Quelle: Amaq News Agency)
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Der Schock nach dem mutmaßlich islamistischen Attentat in Solingen ist groß. Dabei besteht die Gefahr seit vielen Jahren. Ein Gastbeitrag von Ruben Gerczikow.

Die Solinger wollten drei Tage lang ihre Heimatstadt feiern. Dafür hatte die Stadt ein diverses Programm mit etlichen Veranstaltungen geplant. Solingen wollte sich mit dem "Festival der Vielfalt" zur Gründung vor 650 Jahren selbst beschenken. Doch das fröhliche, ausgelassene Feiern wurde jäh unterbrochen. Am Freitag stach ein Mann auf dem dicht gefüllten Marktplatz auf mehrere Menschen ein.

Er ermordete drei Menschen und verletzte acht weitere. Es ist der zweite mutmaßlich islamistische Anschlag in Deutschland innerhalb weniger Monate. Bereits am 31. Mai 2024 hatte ein 25-jähriger afghanischer Staatsbürger und möglicher Anhänger der Taliban den Polizisten Rouven Laur tödlich mit einem Messer verletzt.

Kein Phänomen des vergangenen Jahrzehnts

Es vergingen nicht einmal 24 Stunden, ehe das Internet voll mit Spekulationen, Diskussionen und politischen Beileidsbekundungen war. Inzwischen hat sich ein 26-jähriger Syrer der Polizei gestellt, der Generalbundesanwalt hat die Ermittlungen übernommen, und der "Islamische Staat" hat den Terroranschlag für sich reklamiert.

Für die Alternative für Deutschland (AfD) und weitere rechte bis rechtsextreme Gruppierungen ist der Fall eindeutig. Schuld an der islamistischen Bedrohung sei einzig und allein die deutsche Migrationspolitik und die sogenannte Flüchtlingskrise 2015. Viele Diskussionen um Islamismus hierzulande fokussieren sich so stark auf das Jahr 2015, dabei werden – bewusst oder dies wird zumindest in Kauf genommen – einige Aspekte grundsätzlich ausgelassen.

Denn Islamismus in Deutschland ist keineswegs ein Phänomen des vergangenen Jahrzehnts, wie ein Blick auf den wohl bekanntesten Terroranschlag der Welt zeigt. So lebten und studierten mehrere Terroristen der Anschläge vom 11. September 2001 in Hamburg. Zwar wurde 9/11 in Afghanistan geplant, aber die Hamburger Terrorzelle um Mohammed Atta spielte eine zentrale Rolle.

"Europäisierung" des Islamismus

Peter R. Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am Londoner King’s College und beobachtet die Entwicklungen des islamistischen Terrorismus. Gerade mit Blick auf den von US-Präsident George W. Bush verkündeten "Krieg gegen den Terror" sieht er eine Entwicklung, die auch für spätere Anschlagspläne in Deutschland als relevant erscheint. Nach dem Beginn des Irakkrieges 2003 schlossen sich immer mehr in Europa geborene Muslime der zweiten oder dritten Generation islamistischer Gruppen an. Ebenso wie aus anderen Religionen konvertierte Menschen.

Autor Ruben Gerczikow
Autor Ruben Gerczikow (Quelle: Rina Gechtina)

Zur Person

Ruben Gerczikow ist Autor und hat Publizistik und Kommunikationswissenschaften studiert. Anfang 2023 ist sein gemeinsam mit Monty Ott verfasster Reportageband "Wir lassen uns nicht unterkriegen – Junge jüdische Politik in Deutschland" im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen.

Neumann spricht von einer "Europäisierung", da sich die islamistischen Gruppen primär mit Fragen der europäischen Politik und nicht nur der muslimischen Welt beschäftigen. So nahmen in Deutschland 2007 die Sicherheitsbehörden zwei deutsche Konvertiten sowie zwei türkischstämmige Männer fest, die die sogenannte "Sauerland-Gruppe" gegründet hatten. Die Zelle der "Islamischen Djihad Union" plante Autobombenanschläge.

Knapp zehn Jahre nach 9/11, am 2. März 2011, ereignete sich am Frankfurter Flughafen der erste islamistische Anschlag in Deutschland mit Todesopfern. Der im Kosovo geborene Terrorist ermordete zwei US-Soldaten und verletzte zwei weitere Personen. Er soll mit dem späteren IS-Terroristen und Gangster-Rapper Denis Cuspert alias "Deso Dogg" in Kontakt gestanden haben.

Traditionslinie von islamistischen Ideologien in Deutschland

Ab 2011 reisten 1.150 Menschen aus islamistischer Motivation nach Syrien oder den Irak. Die meisten Ausreisen erfolgten zwischen 2013 und 2015, wie aus einer Antwort der Bundesregierung hervorgeht. Zu diesem Zeitpunkt zählte Pierre Vogel, der salafistische Prediger und Konvertit mit dem kölschen Dialekt, zu den bekanntesten Gesichtern des radikalen Islams in Deutschland, was ihm auch ausreichend Sendezeit in deutschen Talkshows bescherte.

Es gibt also auch eine Traditionslinie von islamistischen Ideologien in Deutschland vor 2015, obgleich seit 2015 eine Vielzahl islamistischer Anschläge im gesamten Bundesgebiet verzeichnet werden konnte. Das gilt es bei gegenwärtigen Debatten im Kopf zu behalten. Ebenso, dass Islamismus eben nicht gleich Islamismus ist. So gibt es beispielsweise diverse ideologische Unterschiede zwischen dem IS, al-Qaida, der Hamas oder den Taliban. Dennoch hat sich der islamistische Terror in den vergangenen Jahren verändert, aber er ist sicherlich kein neues Phänomen in Deutschland.

"Der gewalttätige Islamismus war niemals ganz weg"

Das weiß auch Peter R. Neumann: "Der gewalttätige Islamismus hat mehrere Wellen durchschritten. Er war niemals ganz weg. Und obwohl oft von außen inspiriert (Syrien, Afghanistan, Israel/Palästina), hat er sich gleichzeitig europäisiert. Ich befürchte, dass wir am Anfang einer neuen dschihadistischen Welle stehen, von der Solingen nur eines der ersten Signale ist. Das Volumen dschihadistischer Aktivität hat sich seit dem 7. Oktober 2023 verglichen mit 2022 vervierfacht."

Bereits kurz nach dem Anschlag von Solingen überschlagen sich die Abschiebe-Debatten über fast das gesamte Parteienspektrum hinweg. Für Neumann unverständlich: "Islamismus lässt sich nicht einfach abschieben, weil ein großer Teil seiner Unterstützer Europäer sind, die hier geboren wurden und aufgewachsen sind. Mit anderen Worten: Der Islamismus ist in großen Teilen mittlerweile eben keine importierte, sondern eine hier verwurzelte Bewegung. Er 'gehört' zu Europa."

Wenn wir also in Zukunft dem islamistischen Terror den Nährboden entziehen wollen (verhindern werden wir ihn in Gänze nie), dann sollten wir ehrlicher in der Kommunikation sein. Das gilt sowohl für die Politik als auch für die Medien.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Gespräch mit Peter R. Neumann
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