Die Waldenser von Brescia Eine Kirche lehnt sich gegen Italiens Rechte auf
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Italiens Innenminister Matteo Salvini beschimpft Migranten – und viele Landsleute stimmen ihm zu. Eine Kirche in der Lombardei will da nicht mitmachen: Sie integriert Asylbewerber in ihre Gemeinde.
Als sie 26 Jahre alt war, bekam Francesca Zoccali Angst vorm Tod. Einfach so, es war nur der Gedanke. Nicht, weil jemand gestorben war. Eine katholische Freundin wollte sie trösten: Sie müsse keine Angst haben, nach dem Tod gehe es weiter, sie solle mal zur Kirche gehen. Zoccali probierte verschiedene Gottesdienste aus."Aber nur in einem habe ich geweint", sagt die heute 33-Jährige, "bei den Waldensern."
Sie saß in der Gemeinde von Brescia zwischen Italienern, Afrikanern, Holländern, Südkoreanern. Eine Frau aus Deutschland predigte, ein Chor von Ghanaern sang und trommelte. "Und plötzlich verstand ich, dass Versöhnung möglich ist."
Was das mit ihrer Angst vor dem Tod zu tun hatte? "Ich verstand: Es geht gar nicht um die Zukunft", sagt Francesca Zoccali. "Es geht auch nicht um das, was nach dem Tod kommt. – Es geht darum, wie wir jetzt leben."
Versöhnung – ein großes Wort in einem Land, in dem der Innenminister die Menschen gegen Migranten aufhetzt und damit auf Stimmenfang geht. Matteo Salvini kündigte an, 500.000 Zugewanderte auszuweisen. Er verweigerte Bootsflüchtlingen den Zutritt zu italienischen Häfen. Er nannte Massenunterkünfte für Asylbewerber Horte der Kriminalität und ließ sie räumen. Er ließ eine Siedlung afrikanischer Arbeitsmigranten mit Abrissbaggern zerstören. Und viele Italiener jubeln ihm zu. Salvini ist auch Vorsitzender der rechtspopulistischen Partei Lega.
Kirche verteilt 30 Millionen Euro
Die Waldenserkirche in Brescia ist ein für italienische Verhältnisse schlichter, aus Backsteinen gemauerter Bau. Überm Eingangsportal ist ein Kerzenleuchter gemalt, der auf einer Bibel steht. Darüber der biblische Wahlspruch der Waldenser: Lux lucet in tenebris – Das Licht leuchtet in der Finsternis. Von den harten Holzbänken aus sieht man auf eine halbrunde Apsis mit Altar und Kanzel. In der Kuppel darüber steht: Dio è amore – Gott ist Liebe.
Hier begegnete Francesca Zoccali dem anderen Italien, Menschen wie Alberto Nencini: Die Woche über arbeitet der 51-Jährige als Bankdirektor. Wenn er abends als Vorsitzender des Gemeinderates oder am Wochenende zum Gottesdienst in seine Kirche kommt, in schwarzer Lederjacke, mit Vollbart und freundlichem Blick, wirkt er eher unscheinbar. Dabei ist er für die Evangelisch-Waldensische Kirche eine sehr wichtige Person. Zusammen mit sechs weiteren Waldensern verteilt er Jahr für Jahr über 30 Millionen Euro. Geld, das die Waldenser über die Kultur- und Religionssteuer bekommen.
So funktioniert das in Italien: Steuerzahler müssen acht Promille ihres Einkommens entweder an eine Religionsgemeinschaft oder an den Staat abgeben. An wen genau, bestimmen sie selbst. Zur Wahl stehen Katholiken, Waldenser, Baptisten, Lutheraner, Siebenten-Tags-Adventisten, Juden, Orthodoxe, Buddhisten, Hindus. Deutlich über 400.000 Italiener kreuzen jedes Jahr auf ihrer Steuererklärung die Evangelisch-Waldensische Kirche an. Dabei hat sie nur 35.000 Mitglieder.
Die Waldenser sind die Einzigen, die von dem Geld nichts für sich behalten. Sie leiten alles an Hilfsprojekte weiter. Im Internet findet man die Liste jener 673 Hilfsprojekte, die 2018 davon profitierten. Darunter: ein Verein in Padua, der Migrantenkindern Italienisch beibringt und italienische Kinder spielerisch anregt, Vorurteile zu überdenken. Ein Diakoniezentrum auf Sizilien, das syrische Flüchtlinge aufnimmt, die über gesetzlich geregelte "humanitäre Korridore" nach Italien kommen. Ein Verein in Rom, der vor allem Migranten anwaltlich unterstützt.
"Jetzt wird auch Europa verändert"
"Eine syrische Familie hat nach einem Jahr ein Take-away-Restaurant eröffnet, auch mit unserer Hilfe", erzählt Alberto Nencini stolz. Und er fügt gleich hinzu: "Die Leute aus der Bank fragen mich: Warum? – Wir schließen die Grenzen, und ihr holt die Flüchtlinge herein!"
Der Innenminister Salvini von der rechtspopulistischen Partei Lega nennt Leute wie Francesca Zoccali und Alberto Nencini verächtlich buonisti: Gutmenschen. Und mit seiner Taktik, das Land zu spalten, hat er Erfolg. Bei Regionalwahlen Anfang des Jahres in den Abruzzen und auf Sardinien waren die Kandidaten seiner rechtspopulistischen Lega klar überlegen. „Die Lega hat in einem Jahr ihre Stimmen verdreifacht“, twitterte Salvini triumphal, nach dem auch in Basilikata der Kandidat seines Parteienbündnisses gesiegt hatte. Und er fügte mit Blick auf die anstehende Europawahl hinzu: "Jetzt wird auch Europa verändert."
Buonisti gibt es überall in Italien. Und sie machen unverdrossen weiter. Auf Sizilien helfen Bürger ankommenden Bootsflüchtlingen. Der Bürgermeister von Palermo widersetzt sich einem Gesetz des Innenministers, nach dem sich Flüchtlinge nicht mehr melden dürfen und so weder ärztliche Hilfe noch Kindergartenplätze bekommen.
In Castelnuovo di Porto nördlich von Rom hatten Anwohner jahrelang dafür gesorgt, dass die Kinder aus einem Asylbewerberheim zur Schule gingen. Und dass ihre Eltern Italienisch lernten und Jobs fanden. Sie halfen, wie Bürger überall im Land. Als Salvini Busse schickte, um die Massenunterkunft zu räumen, eilten die Anwohner herbei und gaben ihren Schützlingen Verpflegung mit auf den Weg.
Geblieben ist das Misstrauen gegen den Staat
In Mailand demonstrierten im März 200.000 Italiener gegen die fremdenfeindliche Politik ihrer Regierung. Es waren mehr gekommen, als die Veranstalter zu hoffen gewagt hatten. Dass die Waldenser den Migranten helfen, hat auch mit ihrer Geschichte zu tun. 650 Jahre lang waren sie selbst verfolgt, mussten immer wieder ausweichen. Geblieben ist das Misstrauen gegenüber dem Staat und generell gegenüber Autoritäten. Und dass sie pragmatisch helfen, wo es nötig ist.
Waldenser sichern zu, für den Unterhalt von Bootsflüchtlingen aufzukommen, damit die Regierung sie schließlich doch von Bord lässt. Sie tun sich mit der katholischen Laienbewegung Sant’ Egidio zusammen und holen mehr als 1.000 Bürgerkriegsvertriebene nach Italien – über humanitäre Korridore.
Vor allem aber nehmen sie die Fremden in ihre Gemeinden auf. Und sie arbeiten sich an den kulturellen Differenzen und Missverständnissen ab und versuchen, sie zu überwinden.
Manchmal predigt Emmanuel Kodua in der Waldensergemeinde von Brescia, ein kahlköpfiger 57-Jähriger mit markantem Gesicht und sehr dunkler Haut. 2007 war er seiner Frau aus Ghana nach Italien gefolgt, sie besaß ein Arbeitsvisum. Die Gemeinde bezahlte Emmanuel Kodua einen Italienischkurs.
Waldenser nehmen jeden auf
Und sie ermöglichte ihm, sich als Prediger für die italienische Gemeinde zu qualifizieren. Er ist zwar Methodist. Aber das passt. Seit 1975 bilden die Waldenser zusammen mit den Methodisten eine Kirche. Jetzt ist Emmanuel Kodua der vierte Prediger – neben der Pastorin, einem alteingesessenen Waldenser und einem konvertierten Ex-Mönch.
"Waldenser nehmen jede und jeden auf, egal aus welchem Land, aus welcher Kultur, mit welcher Tradition. Da gibt es keine Diskriminierung, absolut nicht", sagt Emmanuel Kodua so ernsthaft und mit weit aufgerissenen Augen, als staune er noch immer darüber: "Wir essen zusammen, wir singen zusammen, sie sind auch bereit, unsere Traditionen zu übernehmen."
Die einzige hauptamtliche Predigerin der Gemeinde, Anne Zell, ist Deutsche. Sie hat schulterlanges, dunkelblondes Haar, und sie blickt ihr Gegenüber freundlich und abwartend an. Nach ihrer Ausbildung zur Pfarrerin nahm sie eine Auszeit von ihrer badischen Landeskirche und ging – erst einmal nur für zwei Jahre – als Waldenserpfarrerin nach Pinerolo, westlich von Turin. Dann verlängerte sie, wieder und wieder. Sie nahm eine Stelle in Mailand an. Irgendwann wollte ihre Arbeitgeberin in Deutschland eine Entscheidung: zurückkommen oder in Italien bleiben. Anne Zell blieb. Jetzt ist sie 56 und seit neun Jahren Waldenserpfarrerin in Brescia.
"Kofi und Ama" Ghanaer führen ungewöhnliches Spendenritual ein
Da die Evangelisch-Waldensische Kirche von den Steuereinnahmen nichts für sich beansprucht, erhebt sie das Geld für die Pfarrgehälter und den Gebäudeunterhalt allein über Spenden. Die Gemeinde von Brescia muss – wie jede waldensisch-methodistische Gemeinde in Italien – monatlich eine festgelegte Mindestsumme an die Kirchenleitung in Rom überweisen. Dafür reichen die regelmäßig eintreffenden Beiträge der Gemeindemitglieder in aller Regel nicht aus. Man ist dankbar für jede Idee, die Mitglieder zum weiteren Spenden zu motivieren.
Zum Beispiel mit "Kofi und Ama", einem Ritual, das die Ghanaer eingeführt haben. An jedem dritten Sonntag im Monat wird im Gottesdienst aufgerufen: "Wer an einem Freitag geboren ist, kommt jetzt vor und spendet." Die Freitaggeborenen – in Ghana tragen sie den Freitag, Kofi, in ihrem Namen – treten unter Gesang des Chores und mit Trommelbegleitung vor und legen ihren Beitrag auf den Altar. Dann die Samstaggeborenen, die Sonntag- und Montaggeborenen und so weiter. Am Ende wird nachgesehen, wie viel Geld jeder Wochentag gespendet hat.
Finden es die Europäer nicht übergriffig, wenn ihnen mit dem Aufruf "Kofi und Ama" das Spenden quasi aufgenötigt wird? "Es ist tatsächlich ein großer Spaß für alle", sagt die Pastorin der Gemeinde. "Inzwischen gehört es in unserer Gemeinde dazu."
Multikulti bringt auch Probleme mit sich
Das Leben in einer multikulturellen Gemeinde kann aber auch anstrengend sein. Am 26. Juni 2011 segnete Anne Zell ein homosexuelles Paar in ihrer früheren Gemeinde in Mailand. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen berichtete. Das italienische Publikum war erstaunt. Nicht nur, dass die Kirche nun auch dem Lebensbund schwuler Männer ihren Segen gibt. Schon die Frau im Talar befremdete viele Katholiken. Ein Video der Segnung von 2011 findet sich heute noch unter den ersten zehn Treffern, wenn man den Namen "Anne Zell" in eine Suchmaschine eingibt – auf der Website eines italienischen Evangelikalen, der Homosexuelle als gottlos beschimpft.
In der Woche nach der umstrittenen Segnung verließ ein unter den Ghanaern angesehener Afrikaner unter Protest die Waldenser Gemeinde in Brescia. Homosexualität sei eine Sünde, fand er. Die Pastorin hätte das Paar nicht segnen dürfen. Eine kleine Gruppe von Ghanaern schloss sich ihm an und trat aus, nicht alle. Anne Zell blieb standhaft. "Wenn Gott mir eines Tages von Angesicht zu Angesicht gegenübertritt, dann will ich lieber hören: 'Du hast zu viele Türen aufgetan' als: 'Du hast denjenigen, die dich brauchten, die Tür zugeschlagen'", argumentiert sie. Die Ghanaer, die in der Gemeinde geblieben sind, beharren bis heute auf ihrer ablehnenden Haltung. Einig, sagt die Pastorin, sei man sich nur darüber, dass man in diesem Punkt uneins sei.
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Ende März trat Innenminister Matteo Salvini als Redner auf einem evangelikalen "Weltkongress der Familien" in Verona auf. Auf einer stramm konservativen Veranstaltung, die sich "gegen gleichgeschlechtliche Ehen, Pornografie und Abtreibung" richtete.
"Unsere Herausforderung besteht darin, einen liberalen Protestantismus vorzuleben", sagt der Vorsitzende der Evangelisch-Waldensischen Kirche Italiens. Eine Minderheitenkirche – so fährt Moderatore Eugenio Bernardini fort – müsse das "Salz der Erde" sein.
chrismon: Warum sind Waldensern und Methodisten in Italien die Migranten so wichtig?
Eugenio Bernardini: Weil wir auf den Auftrag der Liebe Jesu Christi antworten. 2013 ist nahe der Stadt Scicli ein Flüchtlingsboot angelandet. Das Boot war auseinandergebrochen. Einige schafften es an Land, viele ertranken. Die Menschen aus der alten methodistischen Gemeinschaft halfen. Stellen Sie sich den Schock vor: Das ist eine Ferienregion mit Häusern am Meer. Und dann werden tote oder verhungernde Menschen angespült. Seit den 1990er Jahren ist die Migration zum Notfall geworden, zu einem der am schwierigsten zu lösenden Probleme. Italien war darauf kulturell nicht vorbereitet. Wir waren immer ein Auswanderungsland. Noch heute verlassen jedes Jahr 130.000 Menschen Italien, um im Ausland zu arbeiten.
Hat die Anteilnahme der Waldenser auch mit ihrer Geschichte zu tun?
Sicherlich. Nämlich damit, dass wir schon immer eine religiöse Minderheit waren. In Italien denkt niemand daran, dass Migranten ihre eigene Religion haben. Wir haben als Einzige gesagt, dass wir bei der Aufnahme von Migranten über die Religion reden müssen.
Weckt die fremde Religion das Misstrauen gegenüber den Migranten?
Ja. Aber die meisten Migranten in Italien sind nicht Muslime, sondern Christen. 60 Prozent sind orthodox, weil die meisten aus einem osteuropäischen Land stammen: Rumänien, Moldawien, Weißrussland, Bulgarien, Kroatien, Albanien. Aber sie sind weiß. Und deshalb bemerkt man sie nicht. Wir würden nie eine syrisch-christliche Familie und eine syrisch-muslimische Familie in einem Haus unterbringen. Andere machen es, ohne zu verstehen, dass dies so nicht geht.
Wie reagieren die Italiener darauf, dass die Waldenserkirche Migranten hilft? Gibt es Beschwerden?
Aber ja. Wir erhalten ständig Posts in unseren sozialen Netzwerken von Leuten, die uns sagen, dass sie ganz anderer Meinung sind, dass sie uns bislang ihre "Acht-Promill-Steuer" zuwiesen, nun aber nicht mehr. Das betrifft etwa zehn bis 15 Prozent derer, die uns mit der Steuer bedacht haben. Alle anderen stimmen uns zu. Wir sind ja eigentlich als progressiv bekannt. Wenn jemand es zuvor noch nicht bemerkt hatte, dann ist er jetzt von uns enttäuscht.
Essere chiesa insieme: gemeinsam Kirche sein, das ist das Motto der Waldenser und Methodisten – also auch der Ghanaer. Sie haben den Ex-Mönch zu einem der vier Prediger in der Gemeinde mitgewählt. Er lebt offen schwul und betreibt mit seinem Lebensgefährten eine Pension in der Altstadt von Brescia. "Und sie kommen zu ihm in den Gottesdienst und hören ihm zu", sagt die Pastorin.
Vor kurzem ist auch der Afrikaner, der damals den Aufruhr anführte, wieder in ihre Gemeinde in Brescia zurückgekehrt.
Diese Geschichte erscheint in Kooperation mit dem Magazin "chrismon". Die Zeitschrift der evangelischen Kirche liegt jeden Monat mit 1,6 Millionen Exemplaren in großen Tages- und Wochenzeitungen bei – unter anderem "Süddeutsche Zeitung", "Die Zeit", "Die Welt", "Welt kompakt", "Welt am Sonntag" (Norddeutschland), "FAZ" (Frankfurt, Rhein-Main), "Leipziger Volkszeitung" und "Dresdner Neueste Nachrichten". Die erweiterte Ausgabe "chrismon plus" ist im Abonnement sowie im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel erhältlich. Mehr auf: chrismon.de
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