Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Historiker Wolffsohn "Das hätte niemals passieren dürfen"

Israel gilt Islamisten wie der Hamas als Todfeind. Doch ihr Hass basiert auf verdrehten Argumenten. Wo die Fanatiker irren, erklärt Historiker Michael Wolffsohn.
Im Nahen Osten herrscht Krieg, schon wieder. Der Hamas und ihren Verbündeten ist Israels Existenz unerträglich, am 7. Oktober 2023 hat die islamistische Terrororganisation in einer Attacke mehr als 1.000 Menschen massakriert. Doch all dieser Hass auf Israel entbehrt der religiösen Grundlage, betont Michael Wolffsohn, Historiker und Autor des Buches "Feindliche Nähe. Von Juden, Christen und Muslimen".
Warum interpretieren Islamisten den Koran falsch? Weshalb hat ausgerechnet Donald Trump in der Nahostpolitik Erfolge vorzuweisen? Und inwiefern stehen sich Judentum, Christentum und Islam weit näher, als viele ahnen oder wahrhaben wollen? Diese Fragen beantwortet Michael Wolffsohn im Gespräch.
t-online: Professor Wolffsohn, die drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam haben einen gemeinsamen Ursprung. Nun lautet der Titel Ihres neuen Buches zum Thema: "Feindliche Nähe". Muss das so sein?
Michael Wolffsohn: Nein, Feindschaft muss keineswegs herrschen. Mein Buch ist das Angebot, einmal innezuhalten und nachzudenken. Deswegen ist es auch nicht allein ein Buch über Religion, sondern auch über Politisches geworden. Aber der Reihe nach: Ursprung und Gemeinsamkeit von Judentum, Christentum und Islam ist der Monotheismus, der Glaube an einen Gott. Sie heißen nach dem biblischen Stammvater Abraham auch abrahamitische Religionen, aber das ist fiktional, denn besagter Abraham war keine historische Figur.
Warum aber diese Feindseligkeit, auf die Juden immer wieder stoßen?
Auf der Mikroebene existierte und existiert ja durchaus jüdisch-christlich-postchristlich-muslimische Zusammenarbeit, auf der Makroebene sieht es anders aus. Da dominieren verbale und auch physische Gewalt vornehmlich gegen Juden und vornehmlich von Islamisten und ihren linken Rechtfertigern. Der von der Hamas verschuldete Gaza-Krieg seit 2023 ist ein Beispiel, die zunehmend offene Feindschaft gegen Juden und Israel in den westlich geprägten Gesellschaften ist ein weiteres.
Zur Person
Michael Wolffsohn, 1947 in Tel Aviv geboren, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2012 Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Heute ist der Autor zahlreicher Bücher publizistisch und als Vortragsredner tätig. Wolffsohn hat im Laufe der Zeit vielfache Ehrungen und Preise erhalten, so kürte ihn der Deutsche Hochschulverband 2017 zum Hochschullehrer des Jahres. 2023 erschien Wolffsohns Buch "Eine andere Jüdische Weltgeschichte", kürzlich veröffentlichte er sein neues Buch "Feindliche Nähe. Von Juden, Christen und Muslimen".
Moment! Die Bundesrepublik Deutschland hat sich immer wieder zu ihrer Verantwortung für Israel bekannt.
Das stimmt, ja. Nur nehmen Juden- und Israelfeindschaft in Deutschland trotzdem weiter zu. Der Hass auf Juden ist hierzulande aufseiten der Linken und der Rechten zu finden, die steigende Zahl von Menschen in Deutschland mit muslimischem Hintergrund tut ihr Übriges. Hier ist die Distanz zu Islamisten zu schwach.
Haben Sie einen Vorschlag, was sich dagegen unternehmen ließe?
Besser wäre es, die Gemeinsamkeiten von Juden, Christen und Muslimen herauszustellen, dann wäre schon ein großer Schritt gemacht, damit sie nicht weiter aufeinander einprügeln. Judentum, Christentum und Islam haben einen Stamm. Aus dem entwickelten sich drei Äste und aus denen verschiedene Zweige.
In Deutschland übersteigt die Zahl der Konfessionslosen allerdings mittlerweile die Zahl der Kirchenmitglieder.
Es ist erfreulich, dass Christen auf Juden heute mehrheitlich nicht mehr aus religiösen Gründen einschlagen. Kirchenaustritt bedeutet meistens auch ethische Indifferenz und Politisierung der Religion. Das bedeutet: Postchristen setzen Juden mit Israel gleich, also Politik. Ähnlich Muslime. Da ist von Anbeginn die Distanz zum Judentum. Seit 140 Jahren kommt der Kampf gegen Zionismus und Israel dazu. Letzteres aber weniger in der arabischen Welt als in der arabisch-islamischen Diaspora.
Bitte führen Sie diesen Punkt noch etwas aus.
Deutschland, zunächst der Westen selbstverständlich, hat sich nach 1945 darauf verständigt, dass Gewalt als Mittel der Politik nicht zu rechtfertigen ist. Daher auch der Slogan "Nie wieder Krieg", den wir alle so gut kennen, vor allem aber auch der tiefere Sinn dieser Worte: "Nie wieder Täter sein". Das ist gut so, das ist richtig. Die jüdische Seite hat nach Jahrtausenden der Verfolgung nach 1945 aber eine andere Schlussfolgerung gezogen: "Nie wieder Opfer sein". Das ist ebenfalls richtig so.
Bereits im Augenblick seiner Gründung musste sich Israel 1948 des Angriffs seiner arabischen Nachbarstaaten erwehren.
Das ist der Punkt. Jede Seite hat aus ihrer Sicht die richtige Schlussfolgerung aus der Geschichte gezogen: Die jüdische Welt will nie wieder Opfer sein, daher erklärt sich die Wehrhaftigkeit Israels. Die Weltjudenheit identifiziert sich vor dem Hintergrund der Verfolgung wiederum mit Israel und engagiert sich in seiner Verbandspolitik offensiv dafür – damit man nicht wehrlos ist. Die deutsche Gesellschaft wiederum hat sich zu einer strukturell pazifistischen Gesellschaft entwickelt. "Nie wieder Täter". Im schiitischen Islam, mehr als inzwischen im sunnitischen, will man Israel entfernen.
Kann sich Deutschland diesen strukturellen Pazifismus in Zeiten von Wladimir Putin und Donald Trump noch leisten?
Damit scheint Deutschland auf dem Holzweg. Die Beharrungskräfte sind aber massiv gegen eine Nach- und Aufrüstung trotz der offensichtlichen Bedrohungen. Das ist menschlich durchaus verständlich, Frieden ist wesentlich angenehmer und sympathischer als die Fragen von Krieg und Militär. Wer riskiert denn schon gerne sein Leben? Aber bleibt uns eine andere Wahl, als verteidigungsbereit zu werden?
Israel befindet sich quasi in permanenter Verteidigungsbereitschaft seit seiner Gründung.
Die Mentalität ist in Israel anders. Wehrfähigkeit oder Tod, das ist dort die Frage. 90 Prozent der Bevölkerung sind bereit, ihr Land zu verteidigen. Mit Ausnahme der Orthodoxen, die im Ernstfall eher Hilfe vom lieben Gott erhoffen.
Damit sind wir beim Iran, der Hamas und anderen Staaten sowie Terrorgruppen angelangt, die Israels Existenz nicht ertragen wollen.
Diese Leute haben den Koran nicht richtig verstanden – oder sie wollen ihn nicht richtig verstehen. In seiner Erzählweise stellt der Koran die Rechtlichkeit eines jüdischen Staates, bezogen auf das betreffende heutige israelische Gebiet, in keiner Weise infrage. Gemäß der Tradition der Fünf Bücher Mose des Alten Testaments heißt es im Koran: Gott – also Allah – habe den Juden dieses Land gegeben unter der Bedingung, dass sie seine Gebote einhalten.
Nun ist es mit der Auslegung eines überlieferten Textes so eine Sache: Jeder liest oder interpretiert ihn anders. Erst recht, wenn Radikalität und Fanatismus im Spiel sind.
Und darin besteht der Irrtum. Die Aussage ist klar und daher der irrtümliche Kommentar nachprüfbar. Die Argumente der Islamisten sind koranwidrig. Aber alles kann man verdrehen. Dadurch wird es nicht richtig. Warum sich der Islam schwer mit der Existenz Israels abfinden kann, ist machtpolitisch begründet.
In Ihrem Buch gehen Sie bis in die Antike zurück.
Ja. Lange vor Christentum und Islam waren die beiden antiken jüdischen Staaten, Judäa und Israel, durch andere Regionalmächte gefährdet, beide wurden schließlich zerstört. Nach der Eroberung Jerusalems 70 nach Christus durch die Römer gab es dann weder Tempel noch einen jüdischen Staat. Worauf will ich hinaus? Die Existenz Israels war immer umstritten und ist es noch immer. Die geografische Lage tritt hinzu, immer war dieser jüdische Staat ein Scharnier zwischen Westasien, dem östlichen Nordafrika und auch Richtung Europa. Die Konsequenz aus der Zerstörung des jüdischen Staates und der Vertreibung war ganz erheblich.
Inwiefern?
Jüdisches Leben und Überleben hängt seit rund 3.000 Jahren immer vom Wohlwollen der nichtjüdischen Mehrheitswelt ab. Es ist eine Existenz auf Widerruf. Im Grunde genommen ist das Verhalten des jüdischen Staates heute die Quittung, die die christliche, die postchristliche Welt und die islamische Welt bekommen für rund 2.000 beziehungsweise 1.400 Jahre der Diskriminierung und auch Liquidierung von Juden. Das klingt polemisch, ist aber wahr.
Die Terrorattacke der Hamas vom 7. Oktober 2023 mit mehr als 1.000 Toten war das größte Massaker an Juden seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
Auf diese Attacke musste Israel reagieren. Schlimm, dass es überhaupt so weit kommen musste. Alle waren sie einfach zu naiv.
Worauf spielen Sie an?
Fast die ganze Welt ging davon aus, dass sich die Hamas mit der Herrschaft über Gaza und dem Status quo begnügen würde. Doch das liegt nicht in der Natur von Terroristen. Diese Tatsache wurde allerdings von Benjamin Netanjahu und einem Großteil der sogenannten Experten sowie der internationalen Politik ignoriert, es schien einfach so bequem, auch trotz des fortwährenden Beschusses mit Raketen seitens der Hamas. Millionensummen aus Katar flossen über die Jahre nach Gaza. Aber keiner spürte einmal nach, wo dieses Geld eigentlich am Ende landete: Die Hamas investierte damit in Tunnel, Waffen und Luxusvillen für ihre Anführer. Das hätte niemals passieren dürfen. Jetzt herrscht wieder Krieg.
Sehen Sie irgendeine Hoffnung, dass irgendwann Frieden im Nahen Osten herrscht?
Dafür fehlt mir die Vorstellungskraft. Das palästinensische Volk hat seit Jahrzehnten ein schreckliches Schicksal erlitten. Aber das ist weitgehend seiner Führung geschuldet, die nicht kompromissfähig gewesen ist und diese Fähigkeit bis heute vermissen lässt. Bereits 1947 hätten die Palästinenser beim Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen ihren eigenen Staat haben können. Wie viele Chancen für die Palästinenser wurden seitdem ignoriert? Ich erinnere an das Oslo-Abkommen 1993, 2000/01 boten Premier Barak, 2008 Ministerpräsident Olmert dann sogar 97 Prozent des Westjordanlandes inklusive Ost-Jerusalems an. Israel räumte 2005 Gaza, statt diese Gelegenheit zu ergreifen für eine positive Zukunft, errichtete die Hamas dort ihr Regime.
Wie wird es weitergehen?
Von dieser Feindschaft hat niemand etwas. Das ist der entscheidende Gedanke meines Buches: Nehmt Vernunft an und besinnt euch auf euren gemeinsamen Ursprung! Für die Palästinenser ist diese Feindschaft selbstmörderisch, für Israel und die Weltjudenheit ist sie mörderisch.
Nun hat Donald Trump in den Gaza-Krieg eingegriffen, laut eigener Aussage will er das zerstörte Gebiet in eine "Riviera des Nahen Ostens" verwandeln. Was ist davon zu halten?
Trump setzt auf den Schockeffekt. Das ist alles andere als sympathisch, bisweilen ist er damit aber erfolgreich. Man denke an die Abraham-Abkommen, die zu Friedensverträgen Israels mit Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten etwa führten. Da hat Trump mit seiner rüden Art mehr vollbracht als andere. Auch Europa hat Trump nun aufgescheucht, wie man an der Aktivität in Sachen Verteidigung sieht. Traurig, dass so etwas nötig war.
Ihr Buch ist ein Appell an die Vernunft. Haben Sie Hoffnung, dass sie sich am Ende durchsetzen wird?
Ich bin ein konsequenter Pessimist, der seine Bücher in der Hoffnung schreibt, damit zumindest ein wenig bewegen zu können. Die Welt dreht sich langsam, aber sie bewegt sich doch. Nach rund 2.000 Jahren ist auch die christliche Welt mittlerweile zu der Erkenntnis gelangt, dass Jesus Jude gewesen ist.
Professor Wolffsohn, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Michael Wolffsohn via Telefon