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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Chaos als Regierungsstil "Trump greift ins fallende Messer"

Donald Trump regiert ohne Rücksicht auf Verluste, die Folgen sind bereits gravierend. Politologe Stephan Bierling erklärt, was den US-Präsidenten antreibt.
Die globale Wirtschaft ist erschüttert, die amerikanischen Verbündeten sind verunsichert und die Grundfesten der US-Demokratie werden attackiert, seit Donald Trump am 20. Januar 2025 erneut als Präsident vereidigt wurde.
Wie stellt sich die Lage rund 100 Tage nach seiner Rückkehr an die Macht dar? Was will Trump mit seiner chaotisch erscheinenden Politik bewirken? Und was könnte ihm Schwierigkeiten bereiten? Diese Fragen beantwortet Stephan Bierling, Politologe und Autor des Buches "Die Unvereinigten Staaten. Das politische System der USA und die Zukunft der Demokratie" im Gespräch.
t-online: Professor Bierling, knapp 100 Tage ist Donald Trump nun erneut Herr im Weißen Haus. Hat seine chaotische Politik irgendeine Methode?
Stephan Bierling: Bei Trump geht es zu wie im Zirkus. Es herrscht das Chaos, aber es hat eine gewisse Systematik. Allerdings handelt es sich um eine andere Systematik, als die meisten Mitglieder der Administration, die ich noch für zurechnungsfähig halte, hineininterpretieren wollen. Nehmen wir die Ukraine: Anfangs hat Außenminister Marco Rubio versucht, die entsprechende US-Politik als Trumps großangelegten Plan zu verkaufen, die Russen den Chinesen abspenstig zu machen.
Da war der Wunsch Vater des Gedankens.
Das kann man wohl sagen. Leute wie Marco Rubio, die dem republikanischen Establishment entstammen und sich der Rationalität verpflichtet fühlen, wollen geradezu zwanghaft Strategien in Trumps Politik erkennen. Menschlich ist das verständlich: Es ist ein verzweifelter Versuch, irgendeine Form von Konsistenz in Trumps Politik zu finden. Rubios Kollege im Finanzministerium, Scott Bessent, ergeht es ähnlich in Bezug auf die Zollpolitik. Sie wollen uns einreden, dass es bei all diesen Dingen im Grunde darum gehen würde, die amerikanische Verhandlungsposition zu stärken.
Zur Person
Stephan Bierling, geboren 1962, lehrt Internationale Politik an der Universität Regensburg. Der Politologe war Gastprofessor in den USA, Israel, Australien und Südafrika. 2013 wurde Bierling von der Zeitschrift "Unicum" zum "Professor des Jahres" gewählt. Regelmäßig analysiert Bierling für große Medienhäuser politische Entwicklungen in Deutschland und den Vereinigten Staaten. Nach seinem Spiegel-Bestseller "America First. Donald Trump im Weißen Haus. Eine Bilanz" (2020) brachte Bierling im Dezember 2024 sein Buch "Die Unvereinigten Staaten. Das politische System der USA und die Zukunft der Demokratie" in einer um Donald Trumps Wahlsieg erweiterten Neuauflage heraus.
Was denken Sie?
Ich halte das für Humbug. Das Chaos entstammt Trumps Bauchgefühl, der fünf Minuten vor einer Pressekonferenz nicht weiß, was er da tun und sagen wird. Nun kommen wir zur Systematik: Chaos ist Teil von Trumps Regierungsstil. So hat Trump immer funktioniert, das ist es, was Trump einst von seinem alten Einflüsterer Roy Cohn gelernt hat.
Cohn war ein berüchtigter Anwalt in New York, wo Trumps Karriere begonnen hat.
Cohn hat Trump einst sozusagen für die politische Sphäre ausgebildet. Die zentrale Lehre lautet: Verwirre den Gegner durch möglichst viele Initiativen. Steve Bannon, Trumps früherer Berater, nannte es einmal: "Flood the zone with shit". Wohlwollend lässt es sich so übersetzen: "Überflute die Öffentlichkeit mit Unsinn". Darin ist Trump ein absoluter Meister. Wir kommen bei seinen zahlreichen Sprüngen durch die Weltgeschichte doch gar nicht mehr mit: Gerade war die Ukraine das zentrale Thema, dann kamen die Zölle, es gibt diesen Konflikt mit Universitäten wie Harvard und die Abschiebungen nach El Salvador sollten wir auch nicht vergessen. Nun greift er mit Jerome Powell den US-Notenbankchef an. Wer soll da den Überblick behalten?
Wie erfolgreich ist Trump mit diesem Vorgehen?
Trump ist viel zu erfolgreich damit. Er überlädt das so wichtige System der Checks and Balances innerhalb der amerikanischen Politik systematisch. Der Kongress, die Gerichte und die Medien hinken ihm hinterher. Logisch, ein guter Journalist braucht eine gewisse Zeit, um ordentlich zu recherchieren. Das gilt auch für die Gerichte und ebenso für den Kongress. Trump ist in dieser Spanne bereits drei, vier Themen weiter. Wir leben sozusagen in seiner Reality-TV-Show, Trump veranstaltet eine Art Dschungelcamp, in dem er die Nase vorn hat, weil wir noch dabei sind, seine letzten Streiche zu verdauen.
Trump verspricht seinen Wählern und Anhängern, die USA wieder "großartig" zu machen. Kann er liefern, was auch immer er damit meint?
Amerika war "großartig", bevor Trump das Land übernommen hat. Zumindest im Vergleich zu den Problemen der großen Wettbewerber in Form Chinas, Russlands und der Europäischen Union. Am Ende der Regierungszeit Joe Bidens lief die Wirtschaft der Vereinigten Staaten ziemlich gut, sie hatte auch keine größeren außenpolitischen Probleme. Weder waren die USA in einen endlosen Krieg verstrickt wie Wladimir Putin, noch haben sie einen ökonomischen Fehler nach dem anderen gemacht wie Xi Jinping.
Trump konnte allerdings kaum Wahlkampf mit der Aussage machen, dass in Amerika alles bestens wäre?
Deswegen poltert Trump so herum, deswegen mischt er die amerikanische Politik auf. Unter anderem mithilfe eines Elon Musk, der seine eigenen Ziele verfolgt. Hinter dem ganzen Chaos, das Trump erzeugt, steckt noch ein weiterer psychologischer Effekt: Trump will der große Zampano sein, der bekannteste Mensch dieses Planeten, der alles bestimmt und der alle Macht auf sich konzentriert. Das treibt ihn um, seit er der Pubertät entwachsen ist.
Es gibt von Diktatur bis Faschismus zahlreiche Versuche, Trump zu deuten. Was sagen Sie?
Der Soziologe Max Weber hat den Begriff von der patrimonialen Herrschaft geprägt. Damit beschrieb Weber ein politisches System, in dem noch mehr oder weniger normale Verfahren existieren, wie Wahlen und im Grunde eine Volksvertretung, in dem aber alle wichtigen politischen Entscheidungen vom Patron abhängen. Also von einer Person, die ihre Legitimation außerhalb des normalen politischen Systems aus sich selbst – und im Falle Trumps müssen wir die Familie dazu nehmen – heraus entwickelt.
Respektiert Trump deswegen nicht die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze des politischen Systems? In Ihrem aktuellen Buch "Die Unvereinigten Staaten" analysieren Sie diese.
Trump ist bereit, jedes Tabu zu brechen, er ist bereit, jede heilige Kuh zu schlachten. Die Normen, die sich in den USA in mehr als 200 Jahren entwickelt haben, kassiert er eine nach der anderen. Trumps Berater machen auch deswegen so oft widersprüchliche Aussagen, weil sie gar nicht wissen können, was ihren Meister im Oval Office kurzfristig umtreibt. Trump wechselt die Themen wie andere die Unterwäsche. Die Begriffe Diktatur oder Faschismus beschreiben nicht, womit wir es zu tun haben: Wir erleben die Selbstglorifizierung und die Allmachtsfantasien einer Person, die das System überwölben, ohne dass eine konsistente Ideologie oder eine langfristige und rationale Strategie dahintersteht.
Wir erleben die Reality-Show "The Apprentice", die Trump endgültig berühmt gemacht hatte, also nun im Weißen Haus?
Es ist die Fortsetzung, ja. Trump sitzt da und sagt den Leuten: You're fired! Das macht er nicht nur mit seinen innenpolitischen Gegnern, sondern auch international ebenso. Die besten Freunde der USA – die Kanadier, die Europäer, die Mexikaner und andere – haben es schon erlebt. Für Trump ist das ein Ausdruck der Stärke. Aber es dürfte eher einer tiefen persönlichen Unsicherheit entstammen.
Wie weit kann es Trump treiben?
Die Gesetze der Realität kann Trump nicht außer Kraft setzen. Da ist auch er machtlos. Trump hat es nun geschafft, in knapp 100 Tagen die amerikanische Wirtschaft stärker zu beschädigen als jeder seiner Vorgänger in 90 Jahren. Das ist Trumps Negativrekord. Was, wenn er so weitermacht? Das kann in der Katastrophe für die amerikanische Wirtschaft enden. Trump hat viel Vertrauen in die USA zerstört, und Vertrauen lässt sich nur sehr schwer wieder aufbauen.
Trump zeigt Europa die kalte Schulter, welche Alternativen bieten sich den Europäern?
Mit der Selbstisolierung der USA bewirkt die Trump-Administration das, was ihre Vorgänger zu verhindern suchten – und zwar, dass die Welt tatsächlich multipolar wird. Russland und China waren immer neidisch auf die USA, denn die Vereinigten Staaten haben ein Netz von rund 50 engen sicherheitspolitischen Partnern um den Globus herum aufgebaut. Darunter befinden sich zahlreiche der ökonomisch wichtigsten Staaten dieser Erde. Das zerstört Trump gerade, keineswegs fahrlässig, sondern mutwillig. Es ist ein unfassbares machtpolitisches Eigentor. Aber eines mit Folgen für die Europäer, denn sie stehen nackt da. Nun bieten sich vier Möglichkeiten.
Welche?
Es könnte das geschehen, was wir seit 1945 zu verhindern versucht haben: Nämlich, dass wir vom Wohl und Wehe Russlands abhängen. Dann diktiert uns der Kreml die Regeln. Dort würde entschieden, mit wem wir Handel treiben, mit wem wir auf freundschaftlichem Fuß stehen dürfen. Das wäre dann die Selbstkastration Europas. Die zweite Variante besteht darin, mit China zusammenzugehen.
Dann würde uns allerdings Peking dominieren.
Richtig. China liegt weit weg von Europa, damit würde immerhin keine direkte militärische Intervention drohen, wie es im Falle Russlands passieren könnte. Aber im Grunde droht von dort eine ähnliche politische Abhängigkeit. Zumal uns China bereits unterminiert und umzingelt. Viktor Orbán aus Ungarn sitzt zum Beispiel praktisch auf Pekings Schoß.
Worin bestehen die weiteren Möglichkeiten?
Die wahrscheinlichste Variante ist, dass die Europäer das tun, worin sie am besten sind: Sie regen sich furchtbar auf über Trump und seine Politik auf, aber außer moralischer Empörung passiert nicht viel. So praktiziert es Europa schon viel zu lange. Die beste Variante besteht wiederum darin, dass die Europäer endlich die Zeichen der Zeit erkennen – und vom Reden ins Handeln kommen. Es braucht eine "Koalition der Willigen" – bei der Deutschland dabei ist, aber auch die Briten, die gerade wie ein Phönix aus der Asche ein europäisches Comeback feiern.
Wen braucht es noch?
Nicht zu vergessen die Polen, weil sie bald derart militärisch potent sind und auch die Franzosen. Wenn diese "Koalition der Willigen" klug beraten ist, wird sie auch die Ukraine umfassen. Ohne die Ukrainer wird diese materiell nicht bestehen können. Die Ukraine hat derart viele Soldaten unter Waffen, zudem ist sie führend in der Produktion von Drohnen – nicht nur von der Zahl her, sondern auch von der Qualität. Zudem ist die Ukraine der Frontstaat, Europas Überleben hängt vom Leben der Ukraine ab. Die Ukrainer erkaufen uns im Moment mit ihrem heldenhaften Abwehrkrieg die drei, vier Jahre, um uns zumindest rudimentär endlich abwehrbereit zu machen.
Kommen wir noch einmal auf die USA zu sprechen: Der Widerstand gegen Trump ist gering, gerade von den Demokraten. Warum?
Die Demokraten sind konsterniert, weil sie im letzten November Wahlen verloren haben, von denen man glaubte, sie nicht verlieren zu können: Das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses gingen an die Republikaner. In dieser Zeit der parteipolitischen Polarisierung kann Trump dort also durchregieren, die Demokraten haben rein formal kaum Möglichkeiten, ihm dort Widerstand entgegenzusetzen. Das klingt nun erst mal desillusionierend, aber wir müssen uns immer wieder eine Tatsache vergegenwärtigen: Trump ist der am knappsten gewählte US-Präsident seit 2000. Er redet uns nur ein, dass er einen grandiosen Erdrutsch-Sieg erzielt habe. Diesen Unsinn sollten wir ihm nicht glauben.
Sehen Sie aufseiten der Demokraten einen Kandidaten, der es mit Trump aufnehmen könnte?
Es herrscht auch eine personelle Desorientierung bei den Demokraten. Bislang hat sich noch niemand herauskristallisiert. Joe Biden hat nun eine Rede gehalten, Kamala Harris gleich mehrere. Aber sie beide verkörpern nicht die Zukunft der Partei. Josh Shapiro, der Gouverneur von Pennsylvania, hat Potenzial, aber er wird den Teufel tun, sich zu früh zu positionieren. Zumal er eins weiß: Die Zeit arbeitet gegen Trump. Was Trump im Moment anrichtet, hat seine Zustimmungsraten in Rekordzeit abstürzen lassen. Gerade seine sogenannte ökonomische Kompetenz nehmen ihm immer weniger Leute ab. Trump greift ins fallende Messer, erst recht, wenn er so weiter macht.
Die Demokraten wollen Trump also dabei zusehen, wie er sich selbst demontiert?
Sie haben erkannt, dass sich Trump im Moment selbst mehr Schaden zufügt, als sie dazu imstande wären. Zudem ist ihnen noch nicht klar, wie sie sich selbst politisch zukünftig aufstellen wollen. Ich würde den Demokraten dazu raten, von den toxischen Themen wegzukommen, die ihnen Trump immer wieder erfolgreich um die Ohren haut. Eines davon ist die Immigration, bei der Joe Biden tatsächlich ziemlich versagt hat. Trump liefert in dieser Hinsicht, seinen Anhängern ist es völlig egal, ob er dabei gegen Gesetze oder gar die Verfassung verstößt. Deswegen ist bei seinen Fans die Zustimmung weiter hoch. Die Demokraten müssen an die Wechselwähler ran.
Im November 2026 stehen Zwischenwahlen in den USA an, die die Mehrheitsverhältnisse im Kongress ändern könnten. Besteht Hoffnung darauf?
Mit Trumps Selbstherrlichkeit könnte es dann schnell vorbei sein. Bis dahin muss die Welt aber durchhalten.
Professor Bierling, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Stephan Bierling via Videokonferenz