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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Militärhistoriker Sönke Neitzel "Es ist das Ende der Gewissheiten"

Nicht nur Putin stellt die internationale Sicherheit auf den Prüfstand, neuerdings auch die USA unter Donald Trump. Schlittert die Welt gar in einen neuen großen Krieg? Militärhistoriker Sönke Neitzel hält das für unwahrscheinlich – und spricht dennoch eine Warnung aus.
Es findet erst in sechs Monaten statt, doch schon jetzt wirft das Zapad-Manöver seinen langen Schatten voraus. Im September wollen Russland und Belarus ihre große, vierjährliche Militärübung abhalten. Verteidigungsexperten in Europa warnen bereits jetzt: Russland könnte dieses Manöver als Kriegsvorbereitung nutzen. Militärhistoriker Sönke Neitzel erklärte mit Blick darauf Anfang März im Sender Phoenix: "Vielleicht ist dieser Sommer der letzte Sommer, den wir noch im Frieden erleben."
Neitzels Worte hallten nach – insbesondere angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und der 180-Grad-Wende in der Außen- und Sicherheitspolitik der USA unter Präsident Donald Trump. Im Gespräch mit t-online warnt der Historiker: "Wir leben in unsicheren Zeiten." Außerdem erklärt Neitzel, was er mit seiner Warnung vor dem womöglich letzten Sommer in Friedenszeiten meinte und was er vom wohl künftigen Bundeskanzler Friedrich Merz erwartet.
t-online: Herr Neitzel, globale Krisen von der Ukraine über den Nahen Osten bis nach Afrika halten derzeit die Welt in Atem. Dazu agiert US-Präsident Donald Trump schlingernd bis destruktiv, die Spannungen zwischen den Großmächten nehmen zu. Sind Sie angesichts dessen besorgt?
Sönke Neitzel: Ja, ich bin besorgt. Denn wir müssen aus der russischen Vollinvasion in die Ukraine und auch nach dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 eine Schlussfolgerung ziehen: Es ist das Ende der Gewissheiten. Auch ich habe aus rationalen Überlegungen heraus geglaubt, dass Putin mit seinem Truppenaufmarsch im Winter 2021/2022 nur bluffen würde. Dennoch sind die Russen in die Ukraine einmarschiert.

Zur Person
Sönke Neitzel (geb. 1968) ist Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam. Sein Schwerpunkt liegt auf der internationalen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie auf der Geschichte der Bundeswehr. Am 20. März erscheint Neitzels neues Buch "Die Bundeswehr: Von der Wiederbewaffnung bis zur Zeitenwende" im Verlag C.H. Beck.
Kürzlich warnten Sie, dass der kommende Sommer unser letzter in Frieden sein könnte. Eine steigende Zahl von Experten hält laut einer aktuellen Umfrage des Atlantic Council einen Dritten Weltkrieg im kommenden Jahrzehnt für möglich. Stimmen Sie mit ein?
Das Beispiel der russischen Vollinvasion macht es bereits deutlich: Wir können zwar Überlegungen anstellen, aber was dann wirklich eintritt, steht auf einem anderen Blatt. Ich sehe nur, dass meine Freunde in Litauen Angst haben. Im Herbst findet an der Nato-Ostflanke das russische Zapad-Manöver statt. Vilnius liegt nur 30 Kilometer davon entfernt. Mein Verweis auf das Manöver diente vor allem dazu, den Ernst der Lage hervorzuheben. Russland könnte das als Möglichkeit sehen, die Nato in einem schwachen Moment zu testen.
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Halten Sie einen Dritten Weltkrieg für möglich?
Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Aktuell sehe ich keinen Staat, der die totale nukleare Zerstörung herausfordern würde, nicht einmal Russland. Das wäre aber die Folge eines Dritten Weltkriegs. Es gibt in diesem Punkt durchaus Parallelen zum Kalten Krieg. Ich interpretiere jene Epoche so, dass es auch damals, selbst während der Kuba-Krise, sehr unwahrscheinlich war, dass es zu einem Weltkrieg kommt. Letztlich überwogen immer die Hemmungen in Moskau und Washington, den Untergang des eigenen Landes zu riskieren.
Sie haben eingangs angedeutet, Putin habe bei der Vollinvasion in die Ukraine irrational gehandelt. Gibt es diese Hemmungen also tatsächlich bei ihm?
Auch Putin würde wohl nicht den Untergang Moskaus riskieren. Aber Putin könnte natürlich seine Soldaten über die Nato-Grenze schicken. Das muss nicht einmal weit sein. Dann könnten sie sich dort in Litauen oder Estland oder Moldau eingraben und auf die Reaktion der Nato warten. Ich kann mir also durchaus eine kriegerische Auseinandersetzung vorstellen, einen Dritten Weltkrieg jedoch nicht. Die Nato bereitet sich auch auf ersteres Szenario vor, überlegt, wo und wie die Nato Response Force, also die schnelle Eingreiftruppe, eingesetzt werden könnte.
Aber nicht nur Putin testet die Nato, besonders Donald Trump weckt aktuell erhebliche Zweifel am Zusammenhalt des Bündnisses. Wie kann man Russland entgegentreten?
Was Trump in Zukunft tut, weiß nur er selbst. Die Nato aber entwirft unabhängig von ihm Pläne. Die würden auch nicht verschwinden, sollte Trump die USA tatsächlich aus der Nato herausführen. Wir leben in unsicheren Zeiten: Die Ukraine zeigt, dass konventionelle Kriege in Europa wieder führbar sind. Wir müssen deshalb entschlossen agieren. Noch mal: Es gibt keine Gewissheit mehr. Wichtig ist jetzt, dass wir nach dieser Schlussfolgerung den richtigen nächsten Schritt gehen.
Es braucht nach Schengen und dem Euro den nächsten Schritt der europäischen Integration.
Sönke Neitzel
Welcher Schritt muss das sein?
Wir müssen in der Lage sein, die europäischen Sicherheitsinteressen zu verteidigen – und das bis an die Grenzen Europas. Bisher konnten sich die Europäer aber selten auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Ein Beispiel: Wir haben zwar viel für die Ukraine getan. Aber – und in diesem Punkt hat Trump sogar recht – ohne die USA würde die Ukraine nicht mehr existieren. Europa hat aufgeholt, aber wir stehen noch nicht auf eigenen Füßen.
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Was sollten die Europäer also tun, um unabhängiger zu werden?
Es braucht nach Schengen und dem Euro den nächsten Schritt der europäischen Integration: im Bereich der Verteidigung, Sicherheitspolitik, Außenpolitik und ganz konkret in der Rüstung. Das ist eine Maßnahme, die jetzt umgesetzt werden muss. Noch sehe ich dafür aber weder einen Plan noch einen Ansatz.
Die EU-Kommission will mit einem 800 Milliarden Euro schweren "Plan zur Wiederaufrüstung" die gemeinsame Rüstungsbeschaffung ankurbeln. Und auch auf nationaler Ebene kommt Bewegung in das Thema: Union und SPD haben sich am Freitag mit den Grünen auf ein Finanzpaket geeinigt, das auch massive Investitionen in die Verteidigung vorsieht. Reicht das nicht?
Es kommt jetzt darauf an, ob Merz – und auch die EU – den holden Gedanken einer Stärkung der Verteidigung auch in die Tat umsetzen können. Das war das Problem von Olaf Scholz: Er hat zwar das Sondervermögen für die Bundeswehr umgesetzt, eine richtige Bundeswehrreform haben wir aber nicht gesehen. Es gibt kleine Fortschritte, aber das reicht nicht.
Was muss Merz in Sachen Verteidigung anders machen als Scholz?
Merz muss klare Prioritäten setzen. Ich wünsche mir, dass er einen Ausschuss im Kabinett damit beauftragt. Es muss klar sein: Der Verteidigungsminister allein ist mit einer Bundeswehrreform überfordert, egal ob es Boris Pistorius oder ein anderer Politiker ist. Zu dieser Gruppe müssten unter anderem die Ministerien für Justiz, Verkehr, Arbeit, Wirtschaft und Bauen gehören. Und die Beteiligten sollten alle Vorhaben zwei Fragen unterordnen: Wie können wir die Kampfkraft der Bundeswehr steigern? Wie können wir die Gesetze und Regeln so ändern, dass die Bundeswehr wieder zu einer funktionalen Institution wird? Dieses strategische Denken vermisse ich bisher. Merz und sein Kabinett müssen das leisten.
Die russische Vollinvasion in die Ukraine hatte die Zeitenwende von Scholz angestoßen. Die Merz'sche Wende in der Verteidigungspolitik fußt nun auf dem zeitweisen Stopp der US-Militärhilfen für die Ukraine. Warum sollte Merz plötzlich mehr erreichen als seinerzeit Scholz?
Einerseits ist der Druck jetzt noch mal höher. Andererseits ist für Merz die politische Lage einfacher. Wie es derzeit aussieht, wird er ein Zweierbündnis anführen. Noch dazu scheint der pazifistische Flügel der SPD etwa durch den Rücktritt von Rolf Mützenich schwächer als zuvor. Das ist schon mal eine leichtere Konstellation für die Sicherheitspolitik. Ob das Kabinett Merz es schafft, dass ganz konkret die 10. Panzerdivision real kampfkräftiger wird, bleibt abzuwarten.
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Welche Reformen schlagen Sie dafür vor?
Die Bundeswehr ist nach wie vor eine vollendete Karikatur der deutschen Bürokratie. Es ist absurd. Versuchen Sie etwa mal Reserveoffizier zu werden – Sie erleben einen Schildbürgerstreich nach dem anderen. Boris Pistorius hat zwar eine Veränderung des Diskurses angeschoben. Das ist ihm hoch anzurechnen. Aber das reicht nicht. Man muss mehr PS auf den Boden kriegen und die verkrusteten Strukturen aufbrechen. Es muss auch beim letzten Grenadier ankommen: Hier ändert sich etwas, der Staat tut etwas.
Was könnte der nächste Verteidigungsminister konkret tun, damit die Soldaten dieses Gefühl bekommen?
Er muss die soziale Praxis der Soldaten verändern. Auf allen Ebenen muss spürbar sein, dass nicht nur über Kriegstüchtigkeit geredet wird, sondern dass die neuen Aufgaben auch die Realität in der Truppe verändern. Wichtigster Punkt: die groteske Bürokratie abbauen, dezentraler agieren und endlich den Kommandeuren vertrauen und ihnen deutlich mehr Spielräume geben. Und: Vielleicht schafft es ja doch noch einmal jemand, die Namen der Träger des Ehrenkreuzes für Tapferkeit, der höchsten Auszeichnung der Bundeswehr, auf die Website des Verteidigungsministeriums zu stellen. Kleiner Tipp: Der Datenschutz ist wirklich kein treffendes Argument, es nicht zu tun.
Der jüngste Bericht der Wehrbeauftragten Eva Högl bestätigt dieses düstere Bild der Bundeswehr. Es fehlt an allen Ecken und Enden, vor allem an Personal und Material. Wenn es um militärische Fähigkeiten geht: Wo würden Sie Prioritäten setzen?
Zuvorderst muss ausreichend Munition beschafft werden. Dann braucht es Fähigkeiten in der Luftverteidigung. Außerdem muss der Drohnenbereich vor allem im Heer unbedingt massiv gestärkt werden. Nicht zuletzt aber geht es auch um Kommunikation, Führungsfähigkeiten und Satellitentechnik. Und der Ukraine-Krieg hat es abermals gezeigt: Trotz moderner Technologien braucht es weiterhin die "alten" Fähigkeiten, also Artillerie, Panzer und dergleichen.
Wenn jetzt jemand sagen würde, wir kürzen wegen der Verteidigung das Gehalt der Professoren um zehn Prozent, dann wäre ich dabei.
Sönke Neitzel
Das klingt nach horrenden Ausgaben für den Staat. Wie soll das alles zu stemmen sein?
Man sollte nicht einfach nur Schulden machen. Es braucht gleichzeitig Einsparungen. Bisher hat man dieses Problem umschifft, um Konflikte zu vermeiden.
Einsparungen im Staatshaushalt könnten Sie als Universitätsprofessor ganz persönlich treffen. Oftmals leiden die Bereiche Bildung und Forschung zuerst unter Kürzungen. Würden Sie das dennoch befürworten?
Sicherlich kann man auch an den Universitäten sparen. Längst nicht alles, was wir dort tun, ist sinnvoll. Jeder Euro sollte klug investiert werden. Wenn jetzt jemand sagen würde, wir kürzen wegen der Verteidigung das Gehalt der Professoren um zehn Prozent, dann wäre ich dabei. Genauso finde ich den Vorschlag sinnvoll, die Zahl der Beamten um zehn Prozent zu reduzieren. Es geht um die Bundesrepublik und Europa, da muss man auch individuell kürzertreten.
Herr Neitzel, vielen Dank für dieses Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Sönke Neitzel in Berlin