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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ukrainischer Ex-Kriegsgefangener "Wir schliffen unsere Fingernägel an der Wand ab"

Einst trat er für den Frieden ein. Doch als Russland in die Ukraine einmarschierte, meldete sich Maksym Butkevych sogleich zum Militärdienst. Dann kam er in russische Kriegsgefangenschaft. Im Interview berichtet er über seine Erlebnisse.
Ein Kamerad lockte ihn in den Hinterhalt. Maksym Butkevych führte im Juni 2022 einen Zug des Berlingo-Bataillons der ukrainischen Armee im Gebiet Luhansk an. Die Männer sollten russische Truppenbewegungen auskundschaften und bemerkten bald, dass sie eingekreist wurden. Dann brach der Funkkontakt zum Kommando ab.
Als das Funkgerät plötzlich wieder zum Leben erwachte, meldete sich ein Soldat einer benachbarten ukrainischen Einheit. Sie sollten seinen Anweisungen folgen, um der Einkreisung durch die Russen zu entkommen. Was Butkevych und seine Männer nicht wussten: Der scheinbare Verbündete war eine Nacht zuvor selbst in russische Gefangenschaft geraten – wohin er auch seine Kameraden auf Geheiß der Russen führte.
Was darauf folgte, waren rund zwei Jahre und vier Monate in russischer Kriegsgefangenschaft. In dieser Zeit wurde er in Russland zudem zu 13 Jahren Straflager wegen angeblicher Kriegsverbrechen verurteilt. Im Oktober 2024 kam Butkevych aber im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei. t-online trifft ihn bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin. Der Menschenrechtsaktivist, Journalist und ehemalige Soldat berichtet im Interview von seinen Erlebnissen in der Gefangenschaft.
t-online: Herr Butkevych, vor weniger als fünf Monaten waren Sie noch in russischer Kriegsgefangenschaft. Nun sitzen Sie in Berlin, in Freiheit, und geben ein Interview. Hätten Sie das für möglich gehalten?
Maksym Butkevych: Hätte man mir das vor fünf Monaten gesagt, hätte ich es vielleicht für möglich gehalten, aber kaum geglaubt. Es ist überwältigend. Noch immer gibt es Momente, in denen ich daran zweifle, dass meine Freiheit Realität ist. Ich denke dann für einen Sekundenbruchteil, dass alles um mich herum nur eingebildet ist, dass ich eigentlich noch in Gefangenschaft bin. Im selben Moment merke ich aber, dass es die Realität ist und ich meine Freiheit buchstäblich anfassen kann. Dann bin ich sehr glücklich.
Woher nehmen Sie die Kraft, um nach so kurzer Zeit bereits in verschiedenen Städten Europas über ihre Erfahrungen zu erzählen?
Es ist vor allem die Erkenntnis, dass ich wieder meine eigenen Entscheidungen fällen kann. Außerdem treffe ich viele Menschen: Manche von ihnen haben viel für meine Freilassung getan, andere geben mir aufmunternde Worte mit auf den Weg. Das gibt mir viel Kraft, dafür bin ich dankbar.

Zur Person
Maksym Butkevych (geb. 1977) war vor dem russischen Angriffskrieg ein ukrainischer Menschenrechtsaktivist und Journalist. Zu Beginn der russischen Vollinvasion am 24. Februar 2022 meldete er sich freiwillig zum Militär. Zunächst nahm er an der Verteidigung Kiews teil, wurde dann später in die Ostukraine geschickt. Im Juni 2022 kam er dort in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er am 18. Oktober 2024 durch einen Gefangenenaustausch freikam. Seitdem ist er wieder als Aktivist aktiv und berichtet über seine Erfahrungen in der Kriegsgefangenschaft.
Insgesamt verbrachten Sie mehr als zwei Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft. Wie ist es Ihnen in dieser Zeit ergangen?
Ich habe in diesen zwei Jahren und gut vier Monaten verschiedene Stadien erlebt, was die Haftbedingungen und Behandlung durch das Gefängnispersonal angeht. Die ersten sechs Monate waren die schlimmsten: In dieser Zeit gab es die meisten Verhöre. Manche davon waren sehr hart und mit roher Gewalt verbunden. Andere Verhöre waren leichter, weil ich "nur" getreten und geschlagen wurde. Wieder andere der Befragungen basierten auf psychischer Gewalt. Dabei ging es vor allem darum, die Moral der Kriegsgefangenen zu brechen.
Wie waren die Bedingungen in der Gefangenschaft?
In den ersten Monaten litten wir fast ununterbrochen an Hunger. Es gab kaum frische Luft oder Sonnenlicht. Man erlaubte es uns nicht, unsere Zellen zu verlassen. Die einzigen Fenster der Zelle gingen zur Wand des Gebäudes gegenüber. Die hygienischen Bedingungen waren armselig. Wir hatten kein Toilettenpapier. Nach Monaten bekam ich erstmals eine Zahnbürste und dachte mir: Oh, wie zivilisiert. Anfangs kürzten wir unsere Fingernägel, indem wir sie an der Wand abschliffen. Wir liefen auf Socken, da man uns schon bei der Gefangennahme die Stiefel abgenommen hatte – offenbar weil ukrainische Militärstiefel besser sind als die russischen.
Welche Gedanken gingen Ihnen in der Gefangenschaft durch den Kopf?
Irgendwann kam ich zu der Erkenntnis, dass die zentrale Eigenschaft des Haftsystems die Gewalt ist. Und gleichzeitig realisierte ich, dass ich Gewalt immer falsch verstanden hatte. Ich hatte stets gedacht, dass es bei Gewalt um Tod und Zerstörung geht. Doch das stimmt nicht. Gewalt zielt darauf ab, den Menschen zu einem Objekt zu machen, das tut, was der Gewaltausübende will. Einem wird gesagt: "Sing die russische Hymne." Dann singst du. "Stehe aufrecht, dreh dich dorthin." Dann tust du das. Es geht also darum, persönliche Freiheiten zu nehmen, zu entmenschlichen.
Welche Schlussfolgerungen haben Sie daraus gezogen?
Es ist ein schwieriger Gedanke, aber er hat mir dabei geholfen, zu verstehen, wie grundlegend die Erfahrungen waren, die wir in der Gefangenschaft gemacht haben. Unser Leben war geprägt von Angst, Schmerz, Gewalt und Tod. Man hat uns mit der Androhung von Tod manipuliert.
Sie waren Kommandeur eines Zuges in ihrer Einheit der ukrainischen Streitkräfte. Vor der russischen Vollinvasion waren Sie noch ein bekannter Menschenrechtsaktivist. Haben die Russen Sie wegen ihrer hervorgehobenen Position anders behandelt?
Das würde ich nicht sagen. Grundlegend hat man uns gleich behandelt. Manche von uns wurden mehr gefoltert als ich, andere weniger. Als wir nach Luhansk in die Strafanstalt transportiert wurden, hat man mich vor aller Augen mit einem Stock verprügelt, weil ich Kommandeur war. Sie statuierten ein Exempel an mir. Später, so glaube ich zumindest, konnte ich der Folter teils entgehen, weil ich nichts zu verbergen hatte.
Was meinen Sie damit?
Wenn sie mir Folter androhten, brachten die Russen oft ein militärisches Feldtelefon mit. Das Gerät funktioniert etwa wie ein Dynamo. Und wenn es mit Kabeln mit einem menschlichen Körper – etwa an Ohren, Nase oder Genitalien – verbunden wird, kann es schmerzhafte Schläge zufügen. Sie haben mich also bedroht und wollten, dass ich Informationen herausgebe.
Was haben Sie dann getan?
Ich habe ihnen gesagt, dass ich keine Informationen habe und sie mir stattdessen sagen sollen, was sie von mir hören wollen. Bei einer anderen Gelegenheit wollten sie mich zu einem Interview mit russischen Medien zwingen. Ich habe das abgelehnt und ihnen gesagt, dass ich weiß, dass sie mich zwingen können – sie das dann aber auch tun sollen. Ich wollte, dass zumindest sichtbar wird, dass ich nur auf ihren Druck hin ein "Interview" gebe.
Und das hat die Russen davon abgehalten, Ihnen Gewalt zuzufügen?
In manchen Fällen, ja. Aber nicht in allen. Ich glaube, dazu hat aber auch meine stets höfliche, aber gleichzeitig nicht freundliche Art beigetragen. Damit wollte ich zeigen, dass ich nichts zu verbergen habe. Ich glaube, dass die Russen oft emotionale Antworten und Nervosität provozieren wollten. Das wollte ich ihnen aber nicht geben und bin ruhig geblieben. Manchen meiner Kameraden mit längerer Vorgeschichte im Militär ist es weniger gut ergangen – vor allem jenen, die Teil der Spezialkräfte waren oder schon seit 2014 im Donbass gegen prorussische Milizen kämpften. Manchmal war die Gewalt aber auch schlicht zufällig und ohne jegliche Begründung.
Wie viele Kameraden Ihres Zugs sind noch in Haft?
Neben mir wurden acht Männer gefangengenommen. Vier von ihnen ließ man schon vor mir im Rahmen von Gefangenenaustauschen frei. Zwei davon waren Zwillinge, die direkt an die Front zurückkehrten. Einer der beiden wurde im März 2023 getötet. Die übrigen vier sind noch immer in Haft.
Haben Sie Kontakt zu ihnen?
Nicht wirklich. Ich weiß, dass vor etwas mehr als einem Monat eine größere Gruppe Kriegsgefangener aus Luhansk nach Russland gebracht wurde. Ich versuche noch herauszufinden, wohin genau. Meine Kameraden gehören vermutlich zu dieser Gruppe.
Hatten Sie in Gefangenschaft überhaupt Kontakt zur Außenwelt?
Nur in den letzten Monaten. Damals wurden in der Anstalt Telefone installiert und man durfte drei Kontakte, nur russische Nummern, angeben. So konnte ich meinen Anwalt, einen Verwandten in Russland und einen Freund aus der russischen Menschenrechtsbewegung kontaktieren. Manchmal wurden die Geräte abgeschaltet, aber insgesamt war dann Kontakt möglich. Das war für mich persönlich wichtig.
Während ihrer langen Gefangenschaft hat der Krieg viele Wendungen genommen. Haben Sie auch Informationen darüber erhalten?
Kaum. Manchmal brachten neue Gefangene Informationen mit. Ich war dann froh, wenn ich hörte, dass Städte im Donbass, die ich schon verloren geglaubt hatte, noch nicht gefallen waren. Wir waren in Druschkiwka im Gebiet Donezk stationiert. Die ukrainische Armee hält die Stadt noch immer. Später erfuhren wir von der Gegenoffensive in Charkiw, der Wiedereroberung von Cherson. Solche Nachrichten haben uns Mut gegeben.
Aktuell ist der Krieg wieder an einem Wendepunkt: US-Präsident Trump hat die Ukraine-Hilfen erst gestoppt, dann wieder aufgenommen. Er demütigte den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor den Augen der Welt. Nun will er die Ukraine und Russland mit allen Mitteln an den Verhandlungstisch bringen. Was halten Sie davon?
Ich war im Februar in den USA, weil ich vor dem UN-Sicherheitsrat sprechen sollte. Auf der Reise habe ich viele Menschen, auch Politiker, getroffen, die mir versicherten, dass die Vereinigten Staaten aufseiten der Ukraine stehen und Trump meinem Land enorm helfen würde. Ich hatte damals schon meine Zweifel und wurde darin jetzt bestätigt. Eine solche Wende in der Ukraine-Politik der USA, inklusive einer Erpressung meines Landes, habe ich aber nicht erwartet.
Was folgt für Sie daraus?
Ohne die Hilfen der Vereinigten Staaten ist es für die Ukraine sehr schwierig, sich zu verteidigen. Und die USA sind kein verlässlicher Partner mehr. Trump hat diesen Ruf seines Landes vor der Weltöffentlichkeit zerstört. Umso wichtiger ist die Unterstützung unseres verbliebenen, weiterhin zuverlässigen Partners: Europa. Die Ukrainer haben dem Kontinent gegenüber der Bedrohung aus Russland Jahre an Zeit verschafft, jetzt darf Europa diese Zeit nicht verlieren. Wir werden uns und die westlichen Werte weiterhin verteidigen.
Auch in Europa scheint die Unterstützung für die Ukraine zu bröckeln. Was würden Sie einem Deutschen sagen, der Militärhilfen für Ihr Land einstellen will?
Ich würde dieser Person zwei Dinge sagen: Erstens unterstützt sie damit Russlands Sieg und im Gegenzug die Niederlage der Ukraine. Das ist an sich kein Problem, es gibt Meinungsfreiheit. Wenn man jedoch so denkt, sollte man es auch laut und deutlich genau so sagen. Diese Menschen wollen, dass Russlands völkermörderischer Krieg Erfolg hat und Ukrainer ins Gefängnis gehen oder getötet werden sollen. Sie stellen sich auf die Seite des Aggressors.
Und Ihr zweiter Punkt?
Die Ukraine ist Europas Schild vor der russischen Bedrohung und der Welt des Kreml, die auf grundlegend anderen Ansichten und Prinzipien beruht als die westliche. Wenn man also will, dass die Ukraine verliert, wünscht man sich gleichzeitig Russland vor der Haustür. Damit lädt man zu Missachtung der Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten ein. Wenn man sich mit dieser Perspektive wohlfühlt, dann tut es mir leid.
Herr Butkevych, vielen Dank für dieses Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Maksym Butkevych