Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Nuklearwaffen in Europa Diese Aufgabe kann nur Deutschland zufallen

Braucht Europa eine neue Antwort auf die nukleare Bedrohung durch Russland? Präsident Macron hat die Debatte eröffnet. Aber sie greift schon vom Start weg zu kurz.
Die Devise könnte aus einer Versicherungsbroschüre stammen: Abschreckung ist Vertrauenssache. Wer einer nuklearen Bedrohung mit einer Gegendrohung begegnet, dessen Bereitschaft zum Zurückschlagen muss glaubwürdig sein. Dieses einfache Prinzip hat Europa im Kalten Krieg einen angespannten Frieden beschert. Und seit Putins Überfall auf die Ukraine hat es den Kreml davon abgehalten, die nukleare Schwelle zu überschreiten. Die erzwungene Zurückhaltung hat das Verhältnis der Nato zu ihren Gegnern bestimmt und Eskalation verhindert. Doch die Zeit der Verlässlichkeit ist vorbei.
US-Präsident Donald Trump hat die Unberechenbarkeit zur politischen Leitlinie des Weißen Hauses gemacht – auch gegenüber den eigenen Verbündeten. Was in diesem Moment noch gilt, kann mit dem nächsten Social-Media-Posting des Präsidenten schon auf dem Müllhaufen der Geschichte landen. Für die Abschreckung ist sein Verhalten toxisch. Der Gegenschlag auf einen Angriff ist nicht mehr garantiert. Damit existiert der US-Schutzschirm für Europa nur noch auf dem Papier.
Zur Person
Michael Heim hat Volkswirtschaft und Islamwissenschaft studiert. Er schreibt über außenpolitische Themen für Medien wie t-online, "Der Spiegel" und "Neue Zürcher Zeitung". Sein Schwerpunkt liegt auf globalen Konflikten und neuen Technologien wie KI. Mehr zum Autor lesen Sie auf www.zeilenwechsel.de.
Braucht Europa jetzt also dringend eine eigene Nuklearstreitmacht? Wie muss sie aussehen? Oder stellt sich die Frage gar nicht, denn Briten und Franzosen stellen sie doch schon bereit? Die Diskussion darüber nimmt Fahrt auf. Und es zeigt sich schon jetzt: Das vermeintlich einfache Prinzip von Drohung und Gegendrohung ist mit Fußnoten versehen.
Dass die erste Anmerkung gleich doppelt unterstrichen und in Fettdruck zu Papier kommt, dafür hat Marine Le Pen gesorgt. Die Chefin der rechtspopulistischen Opposition in Frankreich hat gute Chancen, nach der nächsten Präsidentschaftswahl in den Élysée-Palast einzuziehen. Mit ihr im Amt wäre ein Schutzschirm für Europa, der sich auf die Nuklearwaffen der Grande Nation stützt, gleich wieder vom Tisch. "Unsere nukleare Abschreckung zu teilen, bedeutet, sie abzuschaffen", beschied Le Pen dem amtierenden Präsidenten und allen anderen in Europa, die an einer Vergemeinschaftung des Schreckensarsenals Interesse bekunden.
Aussagen mit Verfallsdatum
Das hat Folgen, auch aus der Opposition heraus. Le Pens Kommentare ziehen schon vorab in Zweifel, dass die französischen Marschflugkörper und ballistischen Raketen den Schutz des Kontinents garantieren. Zusagen Macrons sind fortan mit einem Verfallsdatum versehen. Beim Wahltermin in zwei Jahren steht Frankreichs Beteiligung an einem Schutzschirm schon wieder zur Disposition – Ausgang ungewiss. Langfristige Sicherheit sieht anders aus.
Europa braucht sich jedoch nicht allein auf die wackelige französische Säule zu stützen. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals sorgen die Briten dafür, dass ein potenzieller Angreifer sich mit der ultimativen Waffe auseinandersetzen muss. Jederzeit befindet sich mindestens ein nuklear bewaffnetes U-Boot der Royal Navy auf See – abgetaucht, vor feindlichen Blicken verborgen und mit ballistischen Raketen bestückt. Doch auch in den Tiefen des Meeres kann die Flotte sich nicht den politischen Risiken entziehen, die der Zuverlässigkeit der britischen Abschreckung ein Fragezeichen verpassen.
Brexit-Mann Farage im Aufwind
Wie in vielen Ländern Europas haben rechtspopulistische Kräfte auch in Großbritannien massiv an Zulauf gewonnen: Reform UK, die Partei des Brexit-Verfechters und Trump-Freundes Nigel Farage, holte bei der Parlamentswahl im Juli 2024 die drittmeisten Stimmen. In den Rängen der zweitplatzierten Tories haben sich Vertreter des rechten Randes ebenfalls etabliert. Es besteht die Gefahr, dass die Traditionspartei denselben Weg beschreitet wie die US-amerikanischen Republikaner, wo radikale Anhänger Trumps die russlandkritischen Konservativen verdrängt haben.
Dass in Zukunft Populisten den Kurs diktieren, ist auch bei den Tories nicht auszuschließen. Die Bereitschaft, den Kontinent solidarisch mit den eigenen Atomstreitkräften zu stützen, ist den Brexit-Fans nicht in die Wiege gelegt. Aus dem Weißen Haus erhalten diese radikalen, europafeindlichen Kräfte Rückenwind von Elon Musk und J. D. Vance.
Britische Waffen von USA abhängig
Der Einfluss von der anderen Seite des Atlantiks beschränkt sich nicht auf die Parteipolitik. Er wirkt auch unter Wasser. Beim Einsatz der Nuklearstreitkräfte hat außer dem britischen Premier zwar niemand etwas zu befehlen. Und keiner außer den Offizieren an Bord kann eine Atomwaffe abfeuern oder den Abschuss verhindern.
Die Unabhängigkeit der U-Boot-Flotte ist dennoch mit einer Fußnote versehen. Denn die Raketen vom Typ Trident D5 wurden in den USA entwickelt, werden mit US-Expertise gewartet, mit US-Ersatzteilen repariert und im US-Bundesstaat Georgia gelagert. Dort tauschen die britischen U-Boote ihre Waffen regelmäßig aus, bevor technische Fehler an Bord zum Problem werden. Ohne diese Rotation rutscht die Nuklearstreitmacht Londons nach und nach in die Funktionsunfähigkeit ab.
"Sehr lange Zeit"
Zur Gretchenfrage, wie lange ein solcher Abstieg dauert, gibt es widersprüchliche Angaben. Beruhigend sind sie alle nicht. Falls Präsident Trump – oder J. D. Vance als sein potenzieller Nachfolger – die Kooperation mit den Briten beendet, könnte der Kiel schnell auf Grund gehen. Die Trident-Kommission, ein überparteiliches Gremium von Verteidigungspolitikern und Experten, kam in ihrem Abschlussbericht 2014 zu dem Schluss, dass ohne US-Unterstützung die Lebenserwartung der Atomwaffen "wahrscheinlich in Monaten und nicht in Jahren gemessen" werden müsse.
Acht Jahre zuvor hatte ein Sonderausschuss des Parlaments "große Schwierigkeiten" vorhergesagt, sollten die Amerikaner eine "sehr lange Zeit" die Mithilfe verweigern. Sicher ist: Der US-Präsident kann kein Veto einlegen, um die britischen Nuklearwaffen an die Leine zu legen. Aber mit genug Vorlauf setzt er sie, wenn er es wünscht, dauerhaft außer Gefecht.
Widerwille bis blankes Entsetzen
Leicht wird die Entflechtung für die Europäer also nicht. Unter den komplizierten Bedingungen der Gegenwart, in der alte Bündnisse Auflösungserscheinungen zeigen und neue entstehen, ist das Gleichgewicht des Schreckens zwischen Ost und West keine Waage mit zwei Schalen mehr. Stattdessen hat es sich in ein vielteiliges Mobile verwandelt. Was auf der europäischen Seite am Mobile hängt, ist allerdings nur wackelig befestigt. Weder London noch Paris sind in der Lage, dem Kontinent einen Schutzschirm zu versprechen, auf den man sich auch in einigen Jahren noch verlassen kann. Hoffnung ersetzt die Planungssicherheit.
Die Schlussfolgerung daraus ist unangenehm. Denn es stellt sich die Frage, ob es als Gegengewicht zu Putins schwergewichtiger Atomstreitmacht neben Briten und Franzosen einen dritten Pfeiler in Europa braucht. Angesichts der gewaltigen Kosten, die eine Nuklearmacht zusätzlich zum regulären Verteidigungshaushalt stemmen muss, kann diese Aufgabe nur Deutschland zufallen. Allerdings verträgt sich der Besitz von Massenvernichtungswaffen nicht gut mit der deutschen Vergangenheit.
Eine Debatte über deutsche Atomwaffen dürfte von Widerwillen über Kopfschütteln bis hin zum blanken Entsetzen das ganze Spektrum negativer Emotionen hervorrufen. Nur ändert das an der Lage nichts. Das Thema ist dringlich, heikel, zugleich auch kompliziert. Das Ergebnis einer solchen Debatte ist offen. Nur eines lässt sich jetzt schon sagen: Es warten viele neue Fußnoten.
Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinungen der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.
- The Trident Commission: "Concluding Report"
- House of Commons, Select Committee on Defence: "Eighth Report"
- Bulletin of the Atomic Scientists: "Nuclear Notebook - French nuclear weapons, 2023" (Englisch)
- Center for Strategic and International Studies (CSIS): "Trident D5" (Englisch)
- The Economist: "Does Britain’s nuclear deterrent have a Trump-shaped problem?" (Englisch)
- Financial Times: "Britain is struggling to accept the end of Atlanticism" (Englisch) (kostenpflichtig)