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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Streit um Kurs im Ukraine-Krieg Die Wut ist groß
Bundeskanzler Olaf Scholz hat in der Taurus-Debatte große Wut in Großbritannien und in Frankreich erzeugt. Der Westen ist nun um Schadensbegrenzung bemüht.
In der Politik ist es manchmal so wie mit guten Freunden, mit denen man sich mal richtig in die Haare bekommen hat: Erst kommt der Streit, dann das Zusammenraufen.
Ähnliches lässt sich gerade zwischen der deutschen, britischen und französischen Regierung beobachten: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte jüngst mit seinen Äußerungen zur Taurus-Debatte große Wut in Frankreich und in Großbritannien erzeugt. Auch das von Russland abgehörte Gespräch zwischen deutschen Luftwaffenoffizieren löste Unverständnis unter den Verbündeten aus.
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatte jetzt die eher undankbare Aufgabe, diesen Scherbenhaufen aufzukehren. Sie war am Dienstag in Paris und empfing am Donnerstag ihren britischen Amtskollegen David Cameron zum Strategietreffen in Berlin. Für die Bundesregierung ging es darum, das Feuer im Bündnis zu löschen, bevor es noch größer wird.
Streit überwunden?
Als Baerbock und Cameron im Auswärtigen Amt an diesem Donnerstag vor die Presse traten, merkte man beiden die Spannungen nicht an. Der britische Außenminister erzählte von seiner Zeit, die er kurz nach dem Mauerfall in Berlin verbracht hatte. Beide betonten die enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Großbritannien in der aktuellen Krisenzeit: humanitäre Hilfe für die Menschen im Gazastreifen, Unterstützung für die Ukraine im Krieg gegen Russland und die bilaterale wirtschaftliche Zusammenarbeit nach dem Brexit. Es scheint so, als wäre nichts gewesen. In Berlin schien an diesem Tag die Sonne – und auch der Streit scheint überwunden zu sein.
Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Verbündeten möchten Kremlchef Wladimir Putin nicht erlauben, den Westen zu spalten. Auch deshalb wollen sie ihren Streit nicht öffentlich austragen, denn diese Konflikte zerren nicht nur an den Nerven, sie kosten auch öffentliche Aufmerksamkeit, die momentan an einer anderen Stelle dringend benötigt wird.
Scholz bekommt freundliche Schubser
Baerbock und Cameron sind sich einig darüber, dass mehr getan werden muss. "Sie wissen, dass wir als Bundesregierung insgesamt uns jeden Tag wieder erneut fragen, was wir noch tun können, um die Ukraine bei ihrer Verteidigung gegen die russische Aggression zu unterstützen", erklärt Baerbock bei der gemeinsamen Pressekonferenz. Auch Cameron meint, dass geprüft werden müsse, was man über die bisherige militärische Hilfe hinaus tun kann.
Dabei steht der Elefant im Raum: die Lieferung von deutschen Taurus-Marschflugkörpern in die Ukraine. Kanzler Scholz lehnt die Bereitstellung der weitreichenden Bundeswehr-Marschflugkörper vom Typ Taurus ab, weil er eine Verwicklung Deutschlands in den Krieg befürchtet. Dieses Argument wurde bereits von führenden deutschen Militärs und Militärexperten entkräftet, trotzdem äußert sich das Kanzleramt nun gar nicht mehr zur Taurus-Frage. Diese Stille bewirkt, dass Scholz die Debatte nicht loswird.
Cameron gab sich an diesem Donnerstag ganz als Diplomat. Er betonte, dass Deutschland schon eine "große Hilfe" leiste und dass die Entscheidung über neue Waffensysteme bei der Bundesregierung liege. Aber er sagte auch: "Was die Langstreckenwaffen angeht, kann ich aus den Erfahrungen Großbritanniens sagen, wie effektiv diese Waffen der Ukraine bei der Bekämpfung der illegalen Aggression geholfen haben."
- Tagesanbruch: Diese deutsche Waffe schürt das Atomkriegs-Risiko
Es ist ein freundliches Stupsen, ein kleiner freundlicher britischer Schubser, damit Deutschland sich am Ende doch bewegt. So war es schon bei den Kampfpanzern gewesen, so war auch der britische Vorschlag nach einem Marschflugkörper-Ringtausch zu verstehen. Aber ein Ringtausch ergibt eigentlich kaum Sinn. Die Briten liefer schon "Storm Shadow"-Marschflugkörper, die Franzosen "Scalp". Experten gehen davon aus, dass beide Länder in naher Zukunft an ihre Liefergrenzen geraten. Dann wäre Deutschland mit Taurus gefragt, besonders, wenn die Republikaner in den USA weiterhin die Ukraine-Hilfen blockieren.
Im freundlichen Stupsen findet Cameron in Baerbock eine Verbündete. Auch die deutsche Außenministerin hat sich am Dienstag dafür ausgesprochen, Taurus-Lieferungen "intensiv" zu prüfen. Es scheint so, als wolle sie sagen: Nicht ich, sondern mein Chef ist das Problem.
Cameron versuchte in Berlin, Überzeugungsarbeit zu leisten. "Wenn man der Ukraine Panzerabwehrwaffen gibt, ist das eine Eskalation. Nein, das war es nicht", meinte der britische Außenminister. "Wenn man der Ukraine Panzer gibt, ist das eine Eskalation. Nein, das war es nicht." Und weiter: "Solange wir uns nicht in einer Situation befinden, in der ein Nato-Soldat einen russischen Soldaten tötet, führen wir nicht eine Eskalation herbei, sondern erlauben der Ukraine, sich selbst zu verteidigen." Diese Aussagen zielen nicht nur auf die Zögerlichkeit von Scholz, sondern auch auf die Ängste in der deutschen Bevölkerung, in der es laut Umfragen tatsächlich große Vorbehalte zu möglichen Taurus-Lieferungen gibt.
Doch die Taurus-Debatte überdeckt andere große Probleme bei der Ukraine-Unterstützung. Die größten Wirtschaftsmächte Europas – Deutschland, Frankreich und Großbritannien – sind derzeit in der Phase der Kursbestimmung. Paris müsste eigentlich mehr in die militärische Hilfe investieren. Dort hat man nun zumindest seine Zustimmung dafür gegeben, Munition im Ausland einkaufen zu wollen.
In Paris sieht man den deutschen erhobenen Zeigefinger und die Forderung nach mehr Militärhilfe ungern. Präsident Emmanuel Macron kritisiert öffentlich, dass Deutschland zu Beginn der russischen Invasion nur Helme und Isomatten an die Ukraine liefern wollte. Und auch strategisch sind sich der französische Präsident und Bundeskanzler Olaf Scholz nicht einig.
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Macron hatte zuletzt den Einsatz von Nato-Bodentruppen nicht ausgeschlossen. Das Signal sollte sein: Alle Optionen liegen auf dem Tisch. Er versucht damit, die strategische Ambiguität wiederherzustellen. Es geht also darum, den Gegner im Unklaren darüber zu lassen, wie weit in diesem Fall Frankreich militärisch gehen wird. Trotzdem löste dieser Vorstoß Empörung in Deutschland aus. Scholz ging in die Gegenoffensive, schloss neben Taurus auch Nato-Truppen in der Ukraine aus.
Bei den Gesprächen zwischen Baerbock mit Cameron am Donnerstag und ihrem französischen Amtskollegen Stéphane Séjourné am Dienstag scheint die Erkenntnis gereift zu sein, dass man diese Streitigkeiten – wie Baerbock es ausdrückte – nun "hinter verschlossenen Türen" klären möchte.
Der Grund ist klar: Von dem gegenwärtigen Chaos profitiert nur Wladimir Putin. Wenn etwa in der deutschen Bevölkerung die Angst vor einer größeren Eskalation des Krieges wächst, schwächt das die Akzeptanz für weitere Waffenhilfen erheblich. Und das ist das Ziel des Kremls.
Putin gehe es auch darum, "in unserem Bündnis Zwietracht zu säen und unsere Demokratien ganz bewusst ins Wanken zu bringen", sagte Baerbock am Donnerstag. Dem stelle man "unsere Entschlossenheit und Einheit entgegen, denn wir lassen uns von Putin nicht einschüchtern." Cameron ergänzte: "Ich möchte nicht einem russischen Narrativ über Spaltungen zwischen Verbündeten in die Hände spielen. Was ich sehe, (...) ist eine unglaubliche Einigkeit zwischen den Verbündeten, eine unglaubliche Einigkeit in der Nato." Diese Einigkeit ist umso mehr gefragt, sollte Donald Trump im kommenden November die US-Wahl gewinnen.
Heftige Kritik aus Großbritannien
Das soll aber auch Kritik aus Großbritannien an der Bundesregierung übertönen, die in den vergangenen Tagen überkochte. Scholz hatte am 26. Februar erklärt: "Das, was die Briten und Franzosen an Zielführung und Zielbegleitung machen, kann Deutschland nicht leisten." Das Problem dabei: Er hatte damit angedeutet, dass Frankreich und Großbritannien Soldaten vor Ort, also im Kriegsgebiet, stationiert haben und stieß damit die Nato-Mitgliedstaaten vor den Kopf.
Höchste politische und militärische Kreise sprachen daraufhin von "Unprofessionalität" oder von "Geheimnisverrat". Der ehemalige britische Verteidigungsminister Ben Wallace meinte: Scholz sei "der falsche Mann im falschen Job zur falschen Zeit". Auch die Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im britischen Parlament, Alicia Kearns, wurde besonders deutlich: Die Äußerungen des Kanzlers seien "falsch, unverantwortlich und ein Schlag ins Gesicht der Verbündeten".
Über diese Äußerungen schütteln allerdings auch britische Diplomaten in der EU nach Informationen von t-online den Kopf. Die Nerven würden teilweise blank liegen. Über Wallace, der eigentlich Nato-Generalsekretär werden wollte, was aber wiederum von Deutschland und Frankreich verhindert wurde, gibt es auch in Großbritannien Unverständnis. Gar nicht britisch-höflich seine Wortwahl, so heißt es.
Es ist diese Art von Streitkultur, die Putin im Westen wahrscheinlich besonders gern beobachtet. Gegenseitige persönliche Angriffe in einem Europa, das der Kreml ohnehin nie als Einheit gesehen hat oder sehen wollte. Ein weiterer Grund, warum Baerbock und Cameron versuchen, diese Einheit nun umso mehr zu demonstrieren. Nur bei einem Thema höre die Liebe und die Freundschaft auf, "beim Fußball", meinte Baerbock mit Blick auf die bevorstehende Europameisterschaft. "Möge das bessere Team gewinnen, nur nicht im Elfmeterschießen", antwortete Cameron.
Vor allem die Ukraine wird darauf hoffen, dass die Konflikte ihrer wichtigsten westlichen Partner in den kommenden Monaten ausschließlich auf dem Fußballplatz ausgetragen werden – und nicht mehr auf der politischen Bühne.
- Pressekonferenz von Baerbock und Cameron in Berlin
- euronews.de: Baerbock will Taurus-Lieferungen "intensiv" prüfen lassen
- n-tv.de: Baerbock schließt Taurus-Lieferung nicht aus
- news.sky.com: Fears German military leaks on Ukraine are just ‘tip of the iceberg’ (englisch)
- nytimes.com: Now It’s Germany’s Turn to Frustrate Allies Over Ukraine (englisch)
- Nachrichtenagenturen rtr und dpa