Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Deutsche Waffe schürt Atomkriegs-Risiko
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
Der Stier ist ein stures Tier. Unbeugsam sei er, wissen einschlägige Infoseiten zum Sternzeichen zu berichten. Verlässlich ist der Stier wohl ebenfalls. Man könnte die Erkenntnis sicher noch vertiefen, indem man mehr als die 30 Sekunden aufwendet, die ich in diese Recherche investiert habe. Aber für die Hauptbotschaft reicht es: Taurus, wie Lateiner und Astrologen den Stier lieber nennen, macht, was er soll. Zieht die Sache durch. Kommt am Ziel an.
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In der Rüstungsindustrie haben die Leute es nicht so mit dem Sternegucken. Sie feilen lieber lange an ihren Abkürzungen herum, bis etwas Knackiges dabei herauskommt. Eine Weile wird die Marketing-Abteilung der Waffenschmiede MBDA schon gegrübelt haben, bis sie beim Target Adaptive Unitary and Dispenser Robotic Ubiquity System angekommen war. Auf Deutsch übersetzt klingt das "Ziel-adaptive Einzelsprengkopf- und Verteiler-Robotik-Allgegenwärtigkeits-System" leider ebenso kryptisch wie auf Englisch, zimmert dafür aber, wenn auch mit der Brechstange, den Namen TAURUS in die Verkaufsprospekte.
Apropos Brechstange: Es wird Ihnen wahrscheinlich nicht entgangen sein, dass alles, was Beine hat – außer dem Kanzler, der zugegebenermaßen auch welche hat – die Lieferung des Taurus-Marschflugkörpers an die Ukraine fordert. Die Qualität der Argumente ist im Laufe der endlosen Debatte nicht besser geworden. Der oberste bayerische Waffenspezialist Markus Söder erklärte den Taurus diese Woche sogar zur Defensivwaffe. Für ein System, das Hunderte von Kilometern hinter den feindlichen Linien Bunker, Brücken, Munitionslager und Kommandozentralen in die Luft sprengt, ist das eine ziemlich kreative Kategorisierung. Wir lernen: Der Taurus überwindet tatsächlich alle Grenzen, auch die zum Fremdschämen. CDU und CSU lassen erneut im Bundestag über die Taurus-Lieferung abstimmen – und neben Marie-Agnes Strack-Zimmermann wollen nun weitere FDP-Abgeordnete mit Ja stimmen, wie unser Reporter Daniel Mützel berichtet.
Der Kanzler und sein Umfeld wiederum haben jede Woche ein anderes Argument ausgegraben, warum man die Superwaffe den Ukrainern leider, bedauerlicherweise, umständehalber nicht liefern kann – wie schon zuvor bei den Panzern. Bei denen kam die Freigabe schließlich doch. Es ist also verständlich, wenn man im Tauziehen um den Taurus die Wiederkehr des immergleichen Musters zu erkennen meint. Doch bei dem deutsch-schwedischen Hi-Tech-Lenkflugkörper liegen die Dinge anders.
Der Taurus sei so gefährlich, heißt es oft, weil die Ukraine damit russisches Territorium erreichen kann. Das ist korrekt, verschleiert so allgemein formuliert aber das eigentliche Problem. Wäre mit "russischem Territorium" irgendein Panzerparkplatz kurz hinter der ukrainischen Grenze gemeint, müsste man sich kaum darum sorgen, ob Putin auf einen Einschlag mit einer verheerenden Ausweitung des Konflikts reagieren könnte – nur weil ein deutscher Taurus dort niedergeht statt eine in der Ukraine zusammengeschraubte Drohne.
Anders sieht die Sache aus, wenn die bunkerbrechende Waffe an neuralgischen Punkten oder gar in Putins Vorgarten detoniert. Zum Beispiel auf der Brücke von Kertsch, die das russische Festland mit der Krim verbindet und über die ein Großteil des Nachschubs für 500.000 russische Soldaten geliefert wird, die mittlerweile in der Ukraine stehen. Oder an einem Ort noch weiter entfernt: Von der Nordgrenze des ukrainischen Territoriums bis zum Kreml sind es Luftlinie 452 Kilometer. Der Taurus mit seiner Reichweite von gut 500 Kilometern kann bei der Ankunft in Moskau sogar noch ein paar Runden um den Block drehen, bevor er zuschlägt.
Das allein beantwortet aber noch nicht die Frage, wie heftig der Aggressor im Kreml nach so einem Angriff zurückschlagen könnte. Kanzler Olaf Scholz verweist darauf, dass man den leisesten Anschein einer deutschen Kriegsbeteiligung um jeden Preis verhindern müsse. Diese rote Linie suggeriert, dass Putin im Gegenzug Deutschland attackieren würde. Dieses Szenario ist allerdings wenig wahrscheinlich. Solange Russlands Soldaten in der Ukraine nicht die gewünschten Siege errungen haben und dort mit allen Kräften gebunden sind, fehlen Putin für eine Ausweitung des Krieges gegen Nato-Staaten die Ressourcen.
Erheblich gefährlicher, weil realistischer, ist ein vernichtender russischer Schlag gegen die Ukraine. Der ukrainische Geheimdienst hat Moskau bisher nur mit eher schwächlichen Drohnen und einigen Bombenanschlägen attackiert, was militärisch bedeutungslos geblieben ist. Ein erfolgreicher Angriff mit Taurus-Marschflugkörpern hingegen könnte Häuser, Sendeanlagen, Brücken und Bunker in Schutt und Asche legen, brächte russische Ministerien, Militäranlagen, Geheimdienstzentralen und den Propaganda-Apparat ins Fadenkreuz – kurzum, er fände in einer ganz anderen Liga statt. Die Reaktion darauf dann wohl auch.
Insbesondere ein Szenario hat im Westen seit Kriegsbeginn immer wieder für große Nervosität gesorgt: dass Putin die nukleare Schwelle überschreitet. Das könnte den Einsatz einer taktischen Atomwaffe gegen ukrainische Truppen bedeuten oder eine nukleare Detonation in großer Höhe, um ein unmissverständliches Signal zu senden. Militärisch mag ein solcher Schlag von beschränkter Wirkung sein, aber das spielt keine Rolle, denn die Atombombe ist eine politische Waffe: Sie verbreitet augenblicklich Angst und Schrecken. Und die Nato müsste auf den Tabubruch zwingend reagieren. Eine einzige Pilzwolke brächte Russland und den Westen auf der Stelle an den Rand eines Atomkrieges.
Die Verfechter der Taurus-Lieferung wischen dieses Atomschlag-Argument vom Tisch. Die Ukraine habe schließlich zugesichert, Russland mit Taurus & Co. nicht anzugreifen. Bei den weniger potenten Marschflugkörpern aus Frankreich und Großbritannien, die bereits zum ukrainischen Arsenal gehören, hält sich die ukrainische Armee ja auch daran. Damit haben die Taurus-Freunde recht. Doch mit dieser Logik verlängert man die Erfahrungen der Vergangenheit einfach in die Zukunft. Umschwünge? Kurswechsel? Kommen in dieser Argumentation nicht vor.
Das Schicksal der Ukraine ist von zentraler Bedeutung für die Sicherheit Europas. Das leidende Land verdient unsere ungebrochene Unterstützung und Solidarität. Tschechien hat in Asien und Afrika 800.000 Schuss Artilleriemunition aufgetrieben und will sie der Ukraine schnell liefern, gute Idee. Das heißt aber nicht, dass man Blankoschecks ausstellen und Präsident Selenskyj mitsamt seiner Umgebung bedingungslos vertrauen kann. Hätte der sich zu Beginn der russischen Invasion mit seinen Forderungen durchgesetzt, befände sich die Nato seit dem Frühjahr 2022 im Krieg mit Russland. "Flugverbotszone" hieß die Umschreibung dafür, russische Kampfflugzeuge aus dem Luftraum der Ukraine zu verjagen. Zur Durchsetzung hätten Nato-Jets Putins Bomber über der Ukraine abschießen und die russische Luftabwehr ausschalten müssen. Alliierte Flieger hätten dazu Ziele in Russland attackiert.
Dieser Zusammenhang war allen Beteiligten klar. Anders gesagt: In den kritischen Wochen nach Beginn des russischen Überfalls war Selenskyj daran gelegen, die Nato in den Krieg zu verwickeln. Aus der Not war diese Taktik geboren, gewiss, aber trotzdem unverantwortlich. Kritische Wochen stehen der Ukraine in diesem Jahr wieder ins Haus, falls es schlecht läuft und die US-Waffenhilfe dem Wahlkampf ums Weiße Haus zum Opfer fällt. Sollten die Russen im Spätherbst vor Kiew und die Ukraine vor einer Niederlage stehen, darf man nicht darauf zählen, dass Zusagen der freiwilligen Selbstbeschränkung – keine Taurus auf Ziele in Russland – dann noch viel wert sind.
Stellen Sie sich vor, in einer so aufgeladenen Situation schlügen Taurus-Marschflugkörper mitten in Moskau ein. Ob es eine davon durch die Luftabwehr sogar bis in den Kreml schafft? Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: Man möchte sie gar nicht erst stellen müssen. Die deutschen Marschflugkörper würden der ukrainischen Führung eine Waffe in die Hand geben, mit der diese in der Stunde der Not über die globale Eskalation des Krieges entscheiden könnte. Dort gehört die Entscheidung nicht hin. Und die Taurus-Marschflugkörper deshalb auch nicht.
Versager in roten Roben
Nach und nach kommen immer mehr Details über das Untergrundleben der RAF-Rentner ans Licht. Demzufolge sind die drei ziemlich traurige Gestalten. Daniela Klette lebte vor ihrer Verhaftung in einer zugemüllten Wohnung und hortete zwischen Krimskrams auch Kriegswaffen und haufenweise Bargeld, offenbar aus Überfällen. Ihr Komplize Burkhard Garweg – auf Fahndungsplakaten als extrem gefährlicher Schwerverbrecher gesucht – hauste in einem Bauwagen, lungerte an der Berliner Oberbaumbrücke herum und schnorrte Passanten um ein paar Groschen an. Obdachlosen soll er erzählt haben, dass er "früher mal in der RAF gewesen" sei. Über Bankkonten und Krankenversicherungen verfügten die beiden mutmaßlichen Ex-Terroristen zwar nicht, trotzdem hinterließen sie so viele Spuren, dass sich ganze Kolonnen deutscher Staatsanwälte in Grund und Boden schämen müssen, warum die Kriminellen drei Jahrzehnte lang nicht gefasst wurden. Beobachter erklären die Arbeitsverweigerung der Sicherheitsbehörden damit, dass sich die Bundesanwaltschaft und das Bundeskriminalamt nicht die Bohne für die RAF interessierten. Linker Terror? Das war früher. Neun RAF-Morde sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt? Tja, doof.
Diese Ignoranz führender deutscher Sicherheitsbehörden ist nicht neu. Exakt dasselbe Muster war auch beim "Nationalsozialistischen Untergrund" zu sehen, dessen Verbrechen von Staatsanwälten und Polizisten jahrelang als "Döner-Morde" ausländischer Mafiosi hingestellt wurden. Womöglich deckten Verfassungsschützer die Neonazimörder sogar.
Unterm Strich bleibt eine Erkenntnis: Die Bundesanwaltschaft war jahrelang sowohl auf dem rechten als auch auf dem linken Auge blind. Ich mag den Ausdruck nicht, weil er häufig vorschnell verwendet wird, aber hier trifft er zu: Das ist ein Staatsversagen. Der bisherige Generalbundesanwalt Peter Frank durfte nach jahrelanger Untätigkeit in Sachen RAF im Dezember einen schönen Posten als Richter am Bundesverfassungsgericht übernehmen. Sein Nachfolger Jens Rommel muss den Schlamassel nun aufräumen. Dass er gewissenhafter arbeitet als sein Vorgänger, ist ihm immerhin zuzutrauen: Als ehemaliger Leiter der Zentralen Stelle hat er einige der schlimmsten Kriegsverbrecher gejagt.
State of the Union
US-Präsident Joe Biden hatte einen der wohl wichtigsten Auftritte seiner Karriere: Er hielt die Rede zur Lage der Nation. Biden steht unter Druck, sein Herausforderer Donald Trump führt in den Umfragen zur US-Präsidentschaftswahl im November. Dass der 81-jährige Demokrat bei der Rede vor dem Kongress durchaus überraschte, berichtet mein Kollege Christoph Cöln.
Lesertipp des Tages
Wen würden Sie fesseln, um Bürokratie und Miesepeterei in Deutschland zu bannen, fragte ich gestern. Der originellste Vorschlag kam von Tagesanbruch-Leser Oliver Schmid aus Stuttgart. Er schreibt:
"Heute fessle ich all meine Medien-Accounts: Youtube, Facebook und Co. und natürlich auch "Bild", Talkshows und so weiter. Wenn ich da reinschaue, bekomme ich den Eindruck, dass alle 83 Millionen Bürger heißgelaufen sind. Wenn ich aber persönlich mit Menschen spreche – Familie, Freunde, Geschäftspartner, auch Fremde – merke ich, dass die allermeisten sehr reflektiert und ruhig sind. Ganz so wie die vielen Menschen auf den Demos gegen Verfassungsfeinde. Treiben also nur zehn Prozent Aufgeregte ihr wildes Spiel mit der großen Mehrheit? Das wäre ganz schön undemokratisch."
Zum Schluss
Die spinnen, die Männer. (Na ja, manche.)
Ob Frau oder Mann, ob mit oder ohne Feiertag: Ich wünsche Ihnen einen famosen Freitag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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