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Gewalt in der Pflege: Beispiele und Definition


Experten und Betroffene berichten
"Psychische Gewalt ist in der Pflege fast täglich da"

Von t-online, agr

Aktualisiert am 14.12.2022Lesedauer: 4 Min.
Mann wird gepflegt: Gewalt kann schon bei kleinen Dingen anfangen. (Symbolbild)Vergrößern des Bildes
Mann wird gepflegt: Gewalt kann schon bei kleinen Dingen anfangen. (Symbolbild) (Quelle: Martin Wagner/imago-images-bilder)

Geht es um Gewalt in der Pflege, denken viele zuerst an körperliche Übergriffe. Dabei sagen Experten: Psychische Übergriffe sind viel verbreiteter. Wie sie aussehen und welche Risikogruppen es gibt.

"Mein Großvater lag in einem Gitterbett, er konnte da nicht selbst rauskommen. Die Pfleger hatten ihm sein Hörgerät und seine Brille abgenommen. In seinen letzten Tagen konnte mein Opa also weder sehen noch hören, was um ihn herum geschehen ist, noch konnte er sich frei bewegen."

Charlotte Schmidts Großvater kam 2006 nach einem Schwächeanfall ins Krankenhaus. Wenn die junge Frau heute von seiner Zeit dort erzählt, ist sie immer noch aufgewühlt. Sie möchte t-online.de auch nicht unter ihrem richtigen Namen berichten. "Jahrelang konnte ich selbst darüber nicht sprechen." Das Thema war auch in der Familie schwierig. Um sie nicht noch einmal mit dem Erlebten zu konfrontieren, möchte Schmidt anonym bleiben.

"Einmal war ich dabei, als ihn ein Pfleger angezogen hat. Mein Großvater bekam in der Pflege starke Beruhigungsmittel und war deshalb verwirrt. Er hat mit der Hand auf ein Muttermal des Pflegers gedeutet. Der Pfleger hat seinen Arm ganz grob weggeschlagen", erzählt Schmidt. Das habe sie erschreckt: "Wenn er sich so verhält, wenn ich da bin, wie ist er dann zu meinem Opa, wenn sie allein sind?"

Gewalt fängt bei kleinen Dingen an

Erlebnisse wie die von Schmidt und ihrem Großvater sind kein Einzelfall. "Die meisten denken bei Gewalt nur an körperliche Übergriffe: schlagen, schubsen, kneifen", sagt Gabriele Tammen-Parr, Projektleiterin bei der Beratungsstelle "Pflege in Not". "Doch die psychische Gewalt ist fast täglich da – doch nicht immer absichtlich."

Gewalt fange aber bei kleinen Dingen an, erklärt Tammen-Parr. "Dass man über die Bedürfnisse hinweggeht, dass man alte Menschen nicht ernst nimmt". Die unabhängige Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) erklärt auf ihrer Website, dass unter Gewalt gegen Pflegebedürftige alles fällt, "was ihnen Schaden oder Leid zufügt", und unterscheidet zwischen folgenden Formen:

  • Körperliche Gewalt
  • Psychische Gewalt
  • Vernachlässigung
  • Finanzielle Ausnutzung
  • Intime Übergriffe

Missbräuchliche Freiheitsbeschränkungen, aber auch das Übergehen von Bedürfnissen fallen klar in diese Definition von Gewalt. Das ist vielen nicht klar – auch Pflegern nicht. Wenn sie Fortbildungen für Pflegekräfte gibt, seien die Teilnehmer oft überrascht, was alles schon Gewalt gegenüber Pflegebedürftigen ist, erzählt Tammen-Parr.

Risikogruppen bei Gewalt in der Pflege

"Pflegekräfte sind sich häufig ihrer Macht nicht bewusst", erklärt die Projektleiterin. Denn grundsätzlich seien alle Pflegebedürftigen in einem großen Abhängigkeitsverhältnis zu Pflegekräften, weil sie deren Hilfe bräuchten. Bestimmte Risikogruppen seien besonders gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden.

Das seien Demenzkranke, die oft bevormundend behandelt oder nicht ernst genommen werden, erklärt die Projektleiterin von "Pflege in Not". Schwer Pflegebedürftige erhalten nur die körperliche Grundversorgung, weil Pflegern nicht mehr Zeit bleibt. Diese Gruppe fordert kaum besondere Zuwendung ein. Die dritte Risikogruppe sind jene, die sich gut artikulieren können. Sie würden von Pflegekräften oft als zu fordernd empfunden.

Wie oft kommt Gewalt in der Pflege vor?

Wie viele Menschen von Grenzüberschreitungen in der Pflege betroffen sind, ist schwer festzustellen. Zum einen sind Menschen in Pflege oft nur bedingt auskunftsfähig. Zum anderen ist es an Demenz Erkrankten oft nicht möglich, verlässliche Auskunft über Erlebnisse zu geben.

Experten und einzelne Studien weisen jedoch auf ein großes Problem hin. Eine Untersuchung aus Hessen hat etwa mit Mitarbeitern in der Pflege gesprochen. Rund 70 Prozent der Befragten gaben an, selbst problematisch gehandelt zu haben. In der Studie umfasste das unter anderem körperliche und psychische Misshandlungen. Etwa 78 Prozent sagen, dass sie solches Verhalten beobachtet haben.

Stoßen Sie bei der Pflege von Angehörigen an Ihre Grenzen? Sind Sie mit der Pflegesituation von Freunden oder Familie unzufrieden? Die Beratungs- und Beschwerdestelle "Pflege in Not" hilft bei Konflikten und Gewalt in der Pflege unter der Telefonnummer 030 6959 8989 weiter.

Pflegenotstand verstärkt Problematik

In einer Untersuchung des ZQP wurden 250 Pflegedienstleistungen und Qualitätsbeauftragte zur Versorgung in der stationären Langzeitpflege befragt. Rund 47 Prozent gaben an, dass "Konflikte, Aggressionen und Gewalt in der Pflege" für Pflegeeinrichtungen besondere Herausforderungen seien.

"Die Pflegekräfte leiden unter Zeitmangel", sagt Tammen-Parr. "Der Pflegenotstand befeuert das Thema Aggressionen und Gewalt zusätzlich." Eine offene Stelle in der stationären Pflege sei im Moment im Durchschnitt 176 Tage nicht besetzt. "Für die noch verbliebenen Pflegekräfte ist das eine ungeheuerliche Arbeitsbelastung." Viele hätten schon seit Wochen keine freien Tage oder würden aus dem Urlaub zurückgerufen.

Wie Gewalt vorgebeugt werden kann

Das ZQP sieht die Verantwortung für Gewaltvorbeugung ebenfalls nicht an einer Stelle. Pflegepolitik und Pflegepraxis müssten gemeinsam "mehr Bewusstsein für die Rechte pflegebedürftiger Menschen" schaffen.

Auch Tammen-Parr fordert Prävention durch Aufklärung, um das Thema aufzulösen: "Jede gute Führungskraft muss den Gedanken zulassen, dass Gewalt auch in ihren Einrichtungen passieren kann." Nur dann könne man Signale von Gewalt erkennen und etwas dagegen tun.

Für den Großvater von Charlotte Schmidt kommt das zu spät. Der Mann starb an den Folgen einer Lungenentzündung in einer Berliner Pflegeeinrichtung. Seine Enkelin hätte sich gewünscht, dass die Pfleger, trotz des Stresses und der Belastung unter der sie selbst stehen, besser auf ihn eingegangen wären. "Er ist so alt geworden. Ich hätte mir für seine letzten Tage ein schöneres Ende gewünscht."

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
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