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Polio im Abwasser: Virologe Kekulé sieht folgenschwere Fehler


Polio-Viren im Abwasser
Virologe Kekulé: Es wurde ein folgenschwerer Fehler gemacht


02.02.2025 - 08:00 UhrLesedauer: 6 Min.
Polio-Virus: Eine Infektion kann sogar tödlich enden.Vergrößern des Bildes
Polio-Virus: Eine Infektion kann sogar tödlich enden. (Quelle: CIPhotos/getty-images-bilder)
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In Deutschland werden immer häufiger Polio-Viren im Abwasser nachgewiesen. Was steckt dahinter? t-online fragte den Virologen Alexander Kekulé.

Polio (Kinderlähmung) galt eigentlich dank Impfung als ausgerottete Krankheit. Nun werden die Viren aber in immer mehr Städten nachgewiesen – und zwar im Abwasser. Wie kann das sein? t-online fragte den Virologen Alexander Kekulé.

t-online: Herr Kekulé, wie kommen diese Viren denn in unser Abwasser?

Alexander Kekulé: Die in Deutschland und einer Reihe weiterer EU-Staaten im Abwasser gefundenen Viren stammen von Impfstoffen, die zur Ausrottung der Kinderlähmung eingesetzt wurden. Man verwendete dafür bis vor Kurzem abgeschwächte Erreger, die sich im Darm der Geimpften vermehren, aber keine Erkrankung hervorrufen. Man hat sozusagen Wölfe zu Haushunden umgezüchtet, die ihre Herrchen vor wilden Wölfen schützen.

War das die Schluckimpfung, die es früher in Deutschland gab?

Ja, genau. Man impfte Kinder, indem sie einen Tropfen mit lebenden Viren in einem Zuckerstückchen oder direkt auf die Zunge bekamen. Die abgeschwächten Erreger vermehren sich dann im Darm und werden, genauso wie normale Polioviren, über den Stuhl ausgeschieden. Bei schlechter Hygiene kommt es dadurch zu einer regionalen Verbreitung der Impfviren. Solange die Umgebung des Geimpften ebenfalls geimpft wurde, ist das kein Problem. Wenn jedoch in einer Region kein flächendeckender Impfschutz besteht, zirkulieren die Impfviren über längere Zeit in der Bevölkerung. Dann können sie zu den ursprünglichen, gefährlichen Virusvarianten zurückmutieren – aus dem Haushund ist wieder ein Wolf geworden. Statistisch kommt es dann bei einem von 200 infizierten Kindern zu einer Kinderlähmung.

Alexander Kekule (Archivbild): Der Virologe hat das Vorgehen der Regierung bei den Grenzöffnungen kritisiert.
Alexander Kekule (Archivbild): Der Virologe hat das Vorgehen der Regierung bei den Grenzöffnungen kritisiert. (Quelle: imago images)

Zur Person

Prof. Dr. Alexander Kekulé ist Facharzt für Virologie, Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie und war Berater der Bundesregierung für Seuchenbekämpfung. Als Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie der Universität Halle ist er zum 30. September 2024 in den regulären Ruhestand gegangen. In der Pandemie wurde er durch seine Talkshow-Auftritte und seinen Podcast beim MDR bekannt.

Das heißt, diese Fälle von Kinderlähmung sind eine Folge der Impfkampagne? Hätte man das nicht verhindern können?

Leider muss man aus heutiger Sicht sagen, dass bei der Ausrottung der Kinderlähmung ein folgenschwerer Fehler gemacht wurde. Bei den natürlichen Polioviren gibt es drei Typen, gegen die man zu Beginn der weltweiten Impfkampagne im Jahr 1988 zunächst gemeinsam immunisiert hat. Diese Kampagne, an der neben der WHO auch die Gates-Foundation, der Rotary Club und andere Organisationen beteiligt waren, war extrem erfolgreich, die Neuerkrankungen sind innerhalb von 25 Jahren um 99,9 Prozent zurückgegangen. Im Jahr 2015 erklärte die WHO dann den Typ 2 des Poliovirus für ausgestorben und nahm kurz darauf die zugehörige Komponente aus den Impfstoffen heraus.

Das heißt, es wurde dann nur noch gegen die Typen 1 und 3 geimpft?

Genau, und dabei hatte man eine Konsequenz nicht richtig eingeschätzt. Denn dieser "Switch" führte dazu, dass sich von kurz vorher geimpften Personen ausgeschiedene Impfviren vom Typ 2 in einigen Regionen der Erde ungebremst in der jüngeren Bevölkerung ausbreiten konnten, weil die ja nur noch den Zweifach-Impfstoff gegen Typ 1 und 3 bekamen. Daraus entwickelten sich dann die von Impfstoffen abgeleiteten Polioviren, die circulating vaccine-derived polioviruses, die heute für fast alle Fälle von Kinderlähmung verantwortlich sind. Aktuell gibt es 74 gemeldete cVDPV-Ausbrüche in 39 Staaten und wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer. In Afrika ist fast jedes Land südlich der Sahara betroffen.

Ist das auch für uns in Deutschland gefährlich?

Die rückmutierten Polioviren können hierzulande keine größeren Ausbrüche verursachen, weil ein Großteil der Bevölkerung geimpft ist. Die Älteren haben noch die Schluckimpfung mit dem abgeschwächten Lebendimpfstoff bekommen. Seit 1998 werden nur noch inaktivierte Vakzinen verwendet, die ebenfalls zuverlässig vor Kinderlähmung schützen und nicht zu gefährlichen Varianten rückmutieren können.

Was ist Polio?

Poliomyelitis, auch als Polio oder Kinderlähmung bekannt, ist eine hochansteckende Infektionskrankheit. Das Virus befällt vorwiegend das zentrale Nervensystem und kann zu schweren, bleibenden Lähmungen oder sogar zum Tod führen. Übertragen wird das Virus hauptsächlich durch Schmierinfektion (fäkal-oral). Das Tückische: Die überwiegende Zahl der Infektionen verläuft symptomlos. Dennoch können diese Personen das Virus weitergeben an Personen, für die eine Infektion sogar tödlich enden kann. Bis 1998 wurde in Deutschland die Schluckimpfung angewandt, seitdem wird ein anderer Impfstoff verwendet, und zwar als Spritze.

Woher kommen dann die vielen Polio-Viren in deutschen Kläranlagen?

Dafür gibt es im Prinzip zwei Erklärungen. Die Erreger können von Menschen über den Stuhl ausgeschieden werden, die sich kurz zuvor im Ausland angesteckt haben. Zum anderen könnten die Ansteckungen hier in Deutschland stattgefunden haben. Das Robert Koch-Institut sieht das offenbar entspannt. Es erinnert an die allgemeinen Impfempfehlungen gegen Polio und sieht sonst keinen Handlungsbedarf. Das beurteile ich jedoch anders. Man hat dringend erforderliche Kontrollen versäumt und einiges deutet sogar darauf hin, dass wir bereits unbemerkte Poliovirus-Übertragungen im Land haben.

Wie kommen Sie zu dieser Beurteilung?

Die hierzulande im Abwasser nachgewiesenen Polioviren sind aus dem Typ-2-Impfstoff hervorgegangen, man bezeichnet sie deshalb als cVDPV2 (circulating vaccine-derived polioviruses, type 2). Konkret handelt es sich um eine Untervariante, die zum Virusstamm "NIE-ZAS-1" gehört, der erstmals 2020 in Nigeria beobachtet wurde und sich seitdem über Westafrika bis nach Algerien am südlichen Mittelmeer ausgebreitet hat. Interessanterweise sind die in verschiedenen europäischen Staaten gefundenen Polioviren eng miteinander verwandt, unterscheiden sich aber deutlich von ihrem afrikanischen Vorgänger.

Die genetischen Daten deuten darauf hin, dass die jetzt gefundene Untervariante zuvor mindestens ein Jahr lang außerhalb der gut überwachten Staaten Europas zirkuliert hat, und zwar in einer medizinisch schlecht versorgten Bevölkerungsgruppe, wo das nicht bemerkt wurde.

Welche Kontrollen wurden Ihrer Meinung nach versäumt?

Man hat die Erreger mittlerweile an neun von zehn Teststandorten im Abwasser gefunden, von Hamburg bis München und von Düsseldorf bis Dresden. Das kann nicht von Touristen aus dem Urlaub mitgebracht worden sein. Die Polioviren wurden ganz offensichtlich von Menschen eingeschleppt, die aus Afrika nach Europa geflohen sind. Dazu passt, dass auf den Fluchtwegen schlechte hygienische Bedingungen herrschen und eine medizinische Versorgung fehlt, sodass sich Polio-Erreger unbemerkt ausbreiten und weiterentwickeln können.

Die Epidemie durch NIE-ZAS-1 und seine Abkömmlinge wird ja seit 2020 beobachtet und die Gefahr einer Einschleppung war bekannt. Warum man, gemäß den Empfehlungen des RKI, Flüchtlinge aus den entsprechenden Regionen bei der Ankunft in Deutschland zwar auf Läuse und Milben, aber nicht auf Polio untersucht, ist mir unverständlich. Die Stuhluntersuchung auf Polioviren muss umgehend in die Erstaufnahmeuntersuchungen integriert werden.

Wie kommen Sie darauf, dass in Deutschland bereits Übertragungen stattfinden?

Polioviren wurden erstmals Ende November im Rahmen eines Forschungsprojektes im Abwasser gefunden. Da man vorher nicht danach gesucht hatte und es auch keine systematische Überwachung gab, ist zu vermuten, dass diese Viren schon lange vorher da waren. Seit das RKI danach sucht, wird es fast überall fündig. Das kann aber kaum alles von Menschen stammen, die sich im Ausland angesteckt haben.

Wenn ein Asylsuchender sich in seinem Herkunftsland oder auf der Fluchtroute mit Polio infiziert, scheidet er das Virus höchstens einige Wochen lang aus. Dass ausgerechnet in den Wintermonaten massenweise Menschen nach Deutschland kamen, die sich kurz vorher im Ausland angesteckt haben, ist unwahrscheinlich. Viel plausibler ist es, dass es hierzulande in Gemeinschaftsunterkünften oder bei medizinisch nicht optimal betreuten Menschen zu gelegentlichen Übertragungen kommt.

Werden Asylsuchende aus Afrika nicht bei der Ankunft geimpft?

Die Polio-Impfung wird bei der Erstaufnahme zwar angeboten, aber natürlich nicht bei jedem Ungeimpften sofort durchgeführt. Viele wissen auch nicht, ob sie gegen Polio geimpft wurden und um welchen Impfstoff es sich handelte. Die nur gegen Typ 1 und 3 Geimpften sind ja gerade diejenigen, die das gefährliche cVDPV2 übertragen können. Hinzu kommt, dass der bei uns verwendete, inaktivierte Impfstoff mehrmals per Spritze verabreicht werden muss, bis sich die Schutzwirkung aufbaut.

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Er verhindert zwar zuverlässig die Kinderlähmung, aber nicht immer die Weiterverbreitung des Virus. Deshalb können sich Geimpfte unbemerkt anstecken und das Polio-Virus über den Stuhl ausscheiden. Unter schlechten hygienischen Bedingungen kommt es dann auch hierzulande zu gelegentlichen Übertragungen. Selbst unter Ungeimpften tritt die Kinderlähmung, wie gesagt, nur bei einer von 200 Infektionen auf, der Rest hat nur untypische oder gar keine Symptome. In unserer einigermaßen gut durchgeimpften Bevölkerung verlaufen so gut wie alle Infektionen unbemerkt. Um einen solchen Schwelbrand zu bekämpfen, reichen die allgemeinen Impfappelle des RKI nicht aus, sondern man muss gezielt nach Übertragungsherden suchen.

Sollten sich die Menschen in Deutschland jetzt vor Polio schützen?

Für vollständig Geimpfte besteht absolut keine Gefahr. Wer mit der inaktivierten Vakzine geimpft wurde, die seit 1998 per Spritze verabreicht wird, muss aber wissen, dass er das Virus in seltenen Fällen weitergeben kann. Das ist beispielsweise für Menschen relevant, die in Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete und Asylsuchende arbeiten. Leider gibt es in einigen Regionen Deutschlands noch eine deutliche Impflücke bei Kindern im ersten und zweiten Lebensjahr. Wenn meine hier geschilderte Befürchtung zutrifft, sollten Eltern die Gefahr einer Ansteckung ernst nehmen, auch wenn das Risiko derzeit sehr gering ist. Kinderlähmung ist eine fürchterliche Krankheit. Als jemand, der ja bei der Impfung von Kindern gegen Covid deutliche Bedenken geäußert hatte, kann ich in diesem Fall nur dringend zur Impfung raten.

Herr Kekulé, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Anmerkung der Redaktion: Auf Anfrage von t-online wollte sich das Robert Koch-Institut nicht zur Kritik von Alexander Kekulé äußern, man kommentiere "generell keine Äußerungen Dritter".

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
  • Interview mit Alexander Kekulé
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