Diagnose Orthorexie Gesundes Essen kann auch krank machen

Gesunde Ernährung, die krank macht – dieses Paradox beschreibt Orthorexie: die zwanghafte Beschäftigung damit, das vermeintlich Richtige zu essen.
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Immer mehr Menschen legen großen Wert auf gesunde Ernährung – doch bei einigen wird dieser Fokus zur Besessenheit. Orthorexie beschreibt eine Fixierung auf "saubere" Ernährung, bei der das Streben nach tatsächlich oder vermeintlich gesunder Kost das Leben der Betroffenen bestimmt. Doch wo hört gesunde Ernährung auf, und wo beginnt eine problematische Fixierung? Und was kann Betroffenen helfen?
Was versteht man unter Orthorexie?
Unter Orthorexie wird in der Medizin eine zwanghafte Fokussierung auf gesundes Essen verstanden. Betroffene zeigen ein extremes Essverhalten, bei dem die Gedanken ständig um die Qualität der eigenen Ernährung kreisen. Allerdings ist Orthorexie bislang keine offiziell anerkannte Störung.
"Für diese gesunde Ernährung werden ganz persönliche, subjektive Maßstäbe angelegt", sagt Psychologin Friederike Barthels vom Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung (IFT-Nord). Tatsächlich ist das Spektrum der möglichen Ernährungsweisen bei Menschen, die an Orthorexie leiden, breit: Veganer können ebenso betroffen sein wie Menschen, die der "Carnivore Diät" folgen, also hauptsächlich Fleisch essen; Rohköstler genauso darunter leiden wie jene, die auf die Keto-Diät setzen. "Man wird nicht zwei Personen mit einer orthorektischen Ernährungsweise mit einer Mahlzeit glücklich machen können", so Barthels.
Orthorektisch wird ein Ernährungsverhalten dann, wenn das tatsächlich oder vermeintlich gesunde Essen zum Lebensinhalt wird, die entsprechende Planung der Mahlzeiten immer mehr Zeit verschlingt und Lebensmittel immer rigoroser in Gut und Böse eingeteilt werden. "Objektiv betrachtet ernähren sich einige Betroffene tatsächlich sehr gesund", führt Barthels aus. "Andere nutzen aber vielleicht weniger seröse Quellen, schränken ihre Ernährungsweise immer weiter ein, sodass am Ende nur noch sehr wenig Lebensmittel gegessen werden." Dann könne Orthorexie auch körperlich zu einem Gesundheitsproblem werden.
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Warum ist Orthorexie keine offizielle Diagnose?
Orthorexie wird derzeit nicht als eigenständige Essstörung in Klassifikationssystemen wie dem DSM-5 oder ICD-10 geführt. Das liegt laut Psychologin Barthels auch daran, dass dafür nicht genügend Daten vorliegen: "Störungsbilder werden erst nach langjährigen Forschungsprozessen in den ICD-10 oder DSM-5 aufgenommen. Dafür sind viele Studien nötig, die eindeutig zeigen: Wie sind die Symptome? Wie ist die Prävalenz? Was sind Risikofaktoren? Und die haben wir für die Orthorexie einfach noch nicht."
Ferner sei wissenschaftlich durchaus umstritten, ob es sich um ein eigenes Krankheitsbild handele: "Viele Stimmen sagen, dass es sich eigentlich nur um eine Variante bekannter Essstörungen handele, also einer Art Magersucht unter dem Deckmantel der gesunden Ernährung." Barthels sieht indes gravierende Unterschiede etwa zur Magersucht: "Bei der Orthorexie geht es vor allem auch darum, sich zu ernähren, während bei anderen Essstörungen der Verzicht auf Nahrung im Mittelpunkt steht. Auch die Fokussierung auf ein schlankes Körperbild sehen wir bei der Orthorexie nicht zwangsläufig."
Wie viele Menschen sind davon betroffen?
Ohne eindeutige Diagnosekriterien ist eine Antwort auf diese Frage unmöglich. Psychologin Barthels schätzt die Häufigkeit ähnlich wie bei anderen Essstörungen ein. Das hieße, deutlich unter ein Prozent der Bevölkerung wären betroffen.
Für spezifische Gruppen in Deutschland – konkret: Ernährungsberater sowie sportlich aktive Studenten – haben ältere Studien teils deutlich höhere Zahlen ergeben.
Was sind Warnzeichen für eine Orthorexie?
Das Erscheinungsbild "krankhafter Gesundesser" ist charakterisiert durch:
- Exzessive Beschäftigung mit Lebensmittelauswahl
- Stark eingeschränkte Ernährung, etwa durch den Ausschluss ganzer Lebensmittelgruppen
- Soziale Isolation aufgrund der Essgewohnheiten, weil auf Essen in gesellschaftlichen Kontexten wie Familienfeiern verzichtet wird
- Schuldgefühle oder Angst nach dem Verzehr "unerlaubter" Lebensmittel
- Zeitaufwändige Planung und Vorbereitung von Mahlzeiten
Ein weiteres wichtiges Warnzeichen ist, wenn die Ernährung das Leben dominiert, und andere Bereiche wie Freundschaften oder Hobbys vernachlässigt werden.
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Welche psychologischen Mechanismen stehen dahinter?
Orthorexie kann als Bewältigungsstrategie für Stress oder Unsicherheit dienen. "Das strikte Befolgen von Ernährungsregeln vermittelt ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit", sagt Barthels. Ein weiterer Faktor könne Angst vor Krankheiten sein. Oft hätten Betroffene auch eine sehr perfektionistische Vorstellung davon, was Gesundheit bedeutet: "Ich muss mich jeden Tag hundert Prozent perfekt fühlen, was natürlich unrealistisch ist."
Und schließlich werde die Bedeutung von Ernährung oft überschätzt, so die Expertin weiter: "Natürlich ist es nicht gut, wenn ich mich jeden Tag nur von Schokolade ernähre, aber wenn ich jeden Tag einen Schokoriegel esse, wird das meine Gesundheit auch nicht massiv beeinträchtigen." Menschen mit orthorektischem Ernährungsverhalten neigten indes dazu, diesen einzelnen Ereignissen sehr große Bedeutung beizumessen.
Welche Rolle spielen soziale Medien?
Wissenschaftlich betrachtet wird die Bedeutung sozialer Medien ambivalent gesehen: So zeigen einige Arbeiten, dass Betroffene durch die Vernetzung mit anderen ein Problembewusstsein entwickeln und sich gegenseitig darin unterstützen, ihre Essstörung zu überwinden.
Daneben gibt es aber durchaus Studien, die den negativen Effekt unterstreichen, den das ständige Betrachten definierter und dünner Körper der Fitnessinfluencer auf Instagram und anderen Plattformen hat. "Letztendlich werden diese aber niemanden orthorektisch machen", sagt Barthels. Vielmehr müsse dafür eine Veranlagung vorliegen, die dann vielleicht verstärkt werde.
Welche therapeutischen Ansätze sind wirksam?
Laut Psychologin Barthels kann eine an Essstörungstherapien angelehnte Behandlung hilfreich sein, sowie je nach individuellem Fall auch eine Ernährungsberatung. Dabei sei aber wichtig, nicht gegen das Wertesystem der betroffenen Person zu arbeiten: "Einem Veganer im Zuge der Beratung Fleisch zu empfehlen, ist dann nicht hilfreich." Ebenso könnten Betroffene psychotherapeutische Entlastung brauchen, weil die Orthorexie etwa eine Reaktion auf Stressoren in ihrem Leben sei.
Letzten Endes gehe es darum, wieder einen entspannten Umgang mit der eigenen Ernährung zu finden und wieder Freude am Essen mit Freunden oder Hobbys zu finden, sagt Barthels: "Es ist ja nicht nur das Essen, was dann darüber entscheidet, wie gut es einem letztendlich geht und wie gesund man ist."
- gesundheit.gv.at: "'Krankhafte Gesundesser' (Orthorexie)"
- aerzteblatt.de: "Orthorexie: Sinnvoll oder pathologisch?"
- Nachrichtenagentur dpa
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.