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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Neue Hoffnung bei MS Vitamin D kann Ausbruch von häufiger Nervenkrankheit verzögern

Kann ein Vitamin eine Krankheit wie Multiple Sklerose in ihrer Entwicklung bremsen? Eine neue Studie aus Frankreich liefert Hinweise – und löst Diskussionen unter Experten aus.
In Deutschland leben laut Schätzungen rund 280.000 Menschen mit Multipler Sklerose (MS). Die Erkrankung zählt zu den häufigsten neurologischen Krankheiten im jungen Erwachsenenalter. Dabei handelt es sich um eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der das Immunsystem körpereigene Nervenstrukturen angreift, wodurch es zu Lähmungen, steifen Gliedmaßen oder Sehstörungen kommen kann.
Nun zeigt eine aktuelle französische Studie, dass eine hochdosierte Gabe von Vitamin D Menschen mit MS helfen könnte, den Krankheitsverlauf zu verzögern. Dabei waren die Ergebnisse mit einer klassischen Immuntherapie vergleichbar. Doch deutsche Fachärzte mahnen zur Vorsicht.
Was ist eine Immuntherapie?
Multiple Sklerose ist eine chronisch entzündliche Erkrankung, gehört aber auch zu den sogenannten Autoimmunerkrankungen, bei der Abwehrzellen des eigenen Immunsystems unter anderem Nervenzellen angreifen.
Obwohl die Autoimmunerkrankung bis heute nicht heilbar ist, gibt es verschiedene Behandlungsmöglichkeiten: Neben der Therapie zur Linderung der Symptome und Vorbeugung möglicher Komplikationen gibt es verschiedene Formen der Immuntherapie. Damit sind Methoden gemeint, die das körpereigene Immunsystem nutzen, um die akute Entzündung eines Schubs zu hemmen und/oder die beschwerdefreie Zeit zu verlängern.
Studie zeigt überraschend deutliche Effekte
Die Untersuchung betraf Patientinnen und Patienten mit dem sogenannten klinisch isolierten Syndrom. Dieses gilt als das erste Anzeichen einer Multiplen Sklerose (MS), bevor eine gesicherte Diagnose gestellt wird. Die Studienteilnehmenden erhielten über zwei Jahre hinweg alle zwei Wochen 100.000 Internationale Einheiten (IU) Vitamin D3 (Cholecalciferol). Die Forschenden verglichen anschließend die Ergebnisse mit einer Kontrollgruppe, die ein Placebo bekam. Insgesamt nahmen 316 erwachsene Personen an der Studie teil.
Das Ergebnis: In der Vitamin-D-Gruppe kam es bei rund 60 Prozent der Probanden zu MS-Schüben und/oder neuen Läsionen im Gehirn, in der Placebo-Gruppe bei 74 Prozent. Damit war das Risiko in der Vitamin-D-Gruppe um etwa 20 Prozent geringer. Auch die Zeit bis zum Auftreten eines neuen Schubs oder auffälliger Befunde im Gehirn war in der Vitamin-D-Gruppe signifikant länger – 432 Tage im Vergleich zu 224 Tagen. Die beschwerdefreie Zeit konnte bei ihnen also deutlich verlängert werden.
Könnte Vitamin D sogar eine Immuntherapie ersetzen?
In einer Untergruppe wurden zudem knapp 250 Personen untersucht, bei denen bereits eine schubförmige Multiple Sklerose diagnostiziert wurde, die aber noch keine Immuntherapien erhalten hatten. Auch bei ihnen konnten vergleichbare positive Effekte der Vitamin-D-Gabe beobachtet werden.
"Dieser Befund könnte bedeuten, dass Vitamin D die Krankheitsprogression nicht nur beim klinisch isolierten Syndrom, sondern auch in der Frühphase der MS signifikant verlangsamen kann", sagt Prof. Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Die Wirkung sei vergleichbar mit der einer Immuntherapie. Deshalb müsse man diesen Ansatz weiterverfolgen – möglicherweise auch in Kombination mit bestehenden Therapieansätzen.
Vitamin D bei MS: Experten warnen vor Selbsttherapie
Trotz der vielversprechenden Ergebnisse warnen Experten der Deutschen Gesellschaft für Neurologie ausdrücklich vor einer eigenmächtigen Einnahme hoher Dosen Vitamin D. Denn ohne ärztliche Kontrolle könne eine hochdosierte Gabe schnell gefährlich werden und zu Nierenschäden oder Herzrhythmusstörungen führen. Das Problem ist: Viele Menschen kennen ihren eigenen Vitamin-D-Spiegel nicht und wissen auch nicht immer, ob sie unter einer Vorerkrankung der Niere leiden. Und gerade diese Faktoren sind bei der Einnahme von hohen Vitamin-D-Dosen enorm wichtig.
Prof. Dr. Achim Berthele, Neurologe an der TU München, erklärt: "Die Patientinnen und Patienten wurden vorab sorgfältig ausgewählt, Menschen mit Vitamin-D-Spiegeln über 100 nmol/l durften nicht teilnehmen, ebenso wie jene, bei denen eine Hyperkalzämie bekannt war."
Was ist eine Hyperkalzämie?
Bei der Hyperkalzämie ist der Kalziumspiegel im Blut zu hoch. Das kann zu Verdauungsproblemen, starkem Durstgefühl und häufigem Wasserlassen führen. Ein schwerer Kalziumüberschuss führt zudem zu Organschäden (etwa an der Niere), zu Verwirrung und schließlich zum Koma. Der Zusammenhang zwischen Kalzium und Vitamin D ist folgender: Vitamin D steigert die Aufnahme von Kalzium im Darm. Dadurch steigt auch die Menge des Kalziums im Blut.
- Lesen Sie auch: Vitamin D – diese Folgen kann eine Überdosierung haben
Hochdosiertes Vitamin D: Noch kein Ersatz für bewährte Therapien
Auch wenn die Resultate vielversprechend klingen: Für eine generelle Umstellung in der Therapie von MS-Patienten reichen sie nicht aus. Berthele betont: "Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich niemandem, der auf eine Immuntherapie eingestellt ist, dazu raten, diese wirksame Therapie abzubrechen und auf Vitamin D umzustellen. Eine Vitamin-D-Substitution darf auch nicht den Beginn einer Immuntherapie verzögern."
Vitamin D könne sinnvoll ergänzen – aber eben nur, wenn ein Mangel vorliegt. "Die Studie unterstreicht aber klar die Bedeutung einer Vitamin-D-Bestimmung zum Krankheitsbeginn, denn Personen mit erniedrigten Vitamin-D-Spiegeln profitierten am deutlichsten. Ein Vitamin-D-Mangel sollte also ganz unabhängig von anderen therapeutischen Entscheidungen immer ausgeglichen werden", so Berthele.
Die aktuelle Leitlinie zur Behandlung von MS empfiehlt daher eine Supplementierung nur bei erniedrigten Blutwerten. Werte zwischen 50 und 125 nmol/l gelten als normal. Eine tägliche Zufuhr von bis zu 4.000 IU sei sicher – aber nur unter ärztlicher Kontrolle.
- dmsg.de: "Was ist MS?"
- dzi.uk-erlangen.de: "Multiple Sklerose"
- msdmanuals.com: "Hyperkalzämie (Hoher Kalziumspiegel im Blut)"
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.