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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Virologe Kekulé warnt "Wenn das passiert, haben wir eine neue Pandemie"
Mpox, Vogelgrippe, Polio – Viren, die 2024 Schlagzeilen machten. Experten warnen vor einer neuen Pandemie. Wie schätzt der Virologe Alexander Kekulé die Situation ein?
Auch nach der Corona-Pandemie stellen Viren weiterhin eine Gefahr für die Menschen dar. Worauf müssen wir uns einstellen? t-online fragte den Virologen Alexander Kekulé.
t-online: Herr Kekulé, zuletzt lösten Mpox-Infektionen in Nordrhein-Westfalen Aufregung aus. Muss uns das beunruhigen?
Alexander Kekulé: Nein, nicht wirklich. Niemand wird hierzulande an dem Virus sterben. Schwere Verläufe beobachtet man nur bei Menschen mit Vorerkrankungen, die die Immunabwehr schwächen. In der Regel geht so eine Infektion auch von selbst wieder weg. Wenn sich die Pusteln entzünden, muss man eventuell Antibiotika verabreichen. Und man muss wissen, dass die Krankheit durch Schmierinfektionen leicht übertragbar ist, insbesondere bei sexuellen Kontakten und unter Kindern.
Sie sehen keinen Grund, alarmiert zu sein?
Nein, aber wir müssen weiterhin mit Ausbrüchen durch importierte Infektionen rechnen. Das bedeutet nicht, dass jeder dunkelhäutige Mensch hierzulande eine Gefahr darstellt. Ich möchte deshalb dringend vor Vorurteilen warnen. Hier lebende Kinder mit afrikanischen Wurzeln sind genauso ungefährlich wie weiße Kinder. Bislang kommt das Mpox-Virus ausschließlich von Eingereisten, die kürzlich in einem afrikanischen Ausbruchsgebiet waren.
Zur Person
Prof. Dr. Alexander Kekulé ist Facharzt für Virologie, Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie und war Berater der Bundesregierung für Seuchenbekämpfung. Als Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie der Universität Halle ist er zum 30. September 2024 in den regulären Ruhestand gegangen. In der Pandemie wurde er durch seine Talkshow-Auftritte und seinen Podcast beim MDR bekannt.
Alarmiert Sie das Vogelgrippe-Virus? Es gilt ja bei vielen als Kandidat, der eine neue Pandemie auslösen könnte.
Ich ordne die Bedrohung etwas anders ein als einige meiner deutschsprachigen Kollegen, die der Presse gegenüber bereits von einer "Pandemie im Entstehungsstadium" sprechen. Um eine Pandemie auszulösen, müsste das Vogelgrippe-Virus H5N1 zuerst fliegen lernen, also über die Atemwege ansteckend werden. Wir beobachten H5N1 nun bereits seit den 1990er-Jahren. Es hat viele Ausbrüche bei Tieren und auch immer wieder menschliche Infektionen gegeben. Die Übertragung erfolgte aber nie über die Atemwege.
Im Moment springt das Virus ja in den USA auf Rinderherden über. Den Eindruck, dass genug gegen das Virus getan wird, bekommt man da nicht, oder?
Die Amerikaner tun viel zu wenig, um die Ausbreitung einzudämmen. Die Farmer und die Milchindustrie verweigern sogar die Probennahmen durch die Überwachungsbehörden, da wirkt die Spaltung der Gesellschaft wegen der Corona-Maßnahmen noch nach. Profit geht hier offenbar vor Sicherheit. Spuren des H5N1-Virus werden in den USA bereits regelmäßig in handelsüblicher Milch gefunden. Dass ein technologisch hoch entwickeltes Land das nicht in den Griff bekommt, ist inakzeptabel.
Neulich hieß es, das Virus sei nur noch zwei Mutationen vom Übersprung auf den Menschen entfernt.
Ja, aber aus irgendeinem Grund hat H5N1 sich nicht in dieser Richtung weiterentwickelt, obwohl es seit Jahren eine gigantische Infektionswelle im Tierreich gibt. Ich habe Zweifel, ob H5N1 durch schrittweise Mutationen – wir sprechen hier von "Antigendrift" – zum Pandemieerreger werden kann.
Man hat ja das Virus nicht nur bei Vögeln, sondern auch bei einer Vielzahl von Säugetieren gefunden, von Nerzen über Robben bis zu Hirschen. Das Versagen der Amerikaner hat bereits zu einer "Panzootie" geführt, einer globalen Epidemie im Tierreich. Das schafft H5N1 aber alleine durch Schmierinfektionen, eine Ansteckung über die Atemwege wurde nie beobachtet.
Es könnte aber passieren.
Nach meiner Beurteilung, die, wie gesagt, von der einiger prominenter Kollegen abweicht, müsste H5N1 dafür jedoch sein Genmaterial mit einem anderen Influenzavirus vermischen, das bereits menschliche Infektionen über die Atemwege verursacht.
Der Pandemieerreger wäre dann eine Chimäre – in der Influenza-Virologie spricht man von "Reassortanten" –, die Eigenschaften von H5N1 und einem oder zwei weiteren Vorläufer vereint. Alarmierend ist in diesem Zusammenhang, dass es in den USA offenbar bereits unbemerkte H5N1-Infektionen bei Menschen gibt, die keinen Kontakt zu Milchkühen hatten.
Was macht eine Vermischung so gefährlich?
Wenn sich so jemand zusätzlich ein saisonales Grippevirus einfängt, kann eine Reassortante entstehen, die innerhalb weniger Wochen eine Pandemie auslöst. Umgekehrt könnte auch ein mit H5N1 infiziertes Säugetier ein neues Pandemievirus ausbrüten, wenn es sich zusätzlich mit einem menschlichen Grippevirus ansteckt. Das kommt insbesondere in der Nutztierhaltung nicht selten vor.
Wenn das passiert, wäre es ohne Frage das größte Versagen in der Geschichte der Medizin. Noch nie haben wir bei einer Pandemie vorher erkannt, woher die Gefahr droht, und noch nie zuvor hätte die Menschheit die Mittel gehabt, die absehbare Katastrophe zu verhindern.
Einige europäische Länder haben sich bereits Impfstoffe gesichert. Verschläft Deutschland da gerade etwas?
Es gibt eine Reihe zugelassener Impfstoffe, die im Falle einer Pandemie durch H5N1 schützen würden. Deutschland hat sich Produktionskapazitäten für solche Impfstoffe gesichert. Die Herstellung würde aber erst im Pandemiefall anlaufen.
Ich sehe noch Handlungsbedarf für die Akutversorgung in den ersten Monaten einer Pandemie, bevor der pandemische Impfstoff verfügbar ist. Dafür müssen erstens sogenannte "präpandemische" Impfstoffe vorproduziert und eingelagert werden, um insbesondere das Personal der Krankenhäuser und anderer kritischer Infrastruktur zu schützen. Meines Wissens gibt es keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, was hier in welcher Menge eingelagert wurde.
Ihre zweite Handlungsempfehlung?
Zweitens könnte es ja auch sein, dass nicht das von meinen Kollegen prognostizierte Szenario einer Pandemie durch H5N1 eintritt, sondern wir es mit einer Reassortante als Erreger zu tun bekommen. In diesem Fall wären die aktuell verfügbaren, gegen H5N1 gerichteten Impfstoffe wahrscheinlich nicht ausreichend wirksam. Als Sofortmaßnahme bräuchten wir dann antivirale Medikamente wie Tamiflu, Relenza und Co. Ob die Bundesländer hier noch ausreichende Vorräte haben, ist ebenfalls nicht bekannt.
Sorgen bereitet vielen Menschen auch, dass in unserem Abwasser Polioviren entdeckt wurden.
Dieses merkwürdige Phänomen wird noch nicht genau verstanden. Laut RKI wurde in sieben deutschen Großstädten im Abwasser ein Poliovirus nachgewiesen, das ursprünglich aus einem Impfstoff entstanden ist.
Ungewöhnlich, dass es aus einem Impfstoff stammt …
Die bis 2016 verwendete Schluckimpfung gegen Kinderlähmung enthielt drei Typen lebender, aber durch genetische Veränderungen nicht mehr krankmachender Polioviren. Einer davon, der Typ 2, hat sich in Ländern mit schlechter Gesundheitsüberwachung im Umfeld der Impflinge unbemerkt weiterverbreitet und ist durch eine Rückmutation jetzt in der Lage, bei Ungeimpften die Kinderlähmung auszulösen.
Ausbrüche mit diesem Typ 2 gab es immer wieder, oder?
Ja, dieses vom Impfstoff abstammende Poliovirus verursacht seit 2016 immer wieder Ausbrüche, insbesondere in Afrika und dem Nahen Osten. Die Nachweise im Abwasser stammen wahrscheinlich von Menschen, die aus solchen Ausbruchsgebieten eingereist sind. Ob es auch unbemerkte Ansteckungen innerhalb Deutschlands gibt, weiß bislang niemand. Die Ärzte sind deshalb zu besonderer Wachsamkeit aufgerufen.
In Gaza sorgten gerade mehrere Fälle für Aufregung.
Das vom Impfstoff rückmutierte Typ-2-Poliovirus wurde wahrscheinlich über den Sudan und Ägypten in den Gazastreifen eingeschleppt. Von September bis Anfang November hat man dort mehr als eine halbe Million Kinder geimpft. Anfangs gab es dafür eine humanitäre Feuerpause des israelischen Militärs, die zweite Dosis musste aber zum Teil im Bombenhagel verabreicht werden. Die Aktion war offenbar erfolgreich. Seitdem wurden keine weiteren Verdachtsfälle registriert.
Während all diese Viren gerade Schlagzeilen machen, ist Corona eher aus dem Bewusstsein entschwunden. Zu Recht?
Ja, wobei aber zu sagen ist, dass es auch immer wieder Menschen gibt, die nach einer Infektion schwere Krankheitsverläufe entwickeln oder sogar sterben. Das Virus ist ja nicht weg und wird auch auf absehbare Zeit nicht mehr verschwinden. Aber die Pandemie als Krisenlage, in der es eine Übersterblichkeit durch Corona gab und sogar die Überlastung unserer Krankenhäuser drohte, die ist schon seit März 2022 vorbei und wird auch nicht wiederkommen.
Das ist doch eine gute Nachricht zum Abschluss des Jahres.
Ja, auch wenn sie nicht mehr ganz neu ist. Aber ich bin auch nicht pessimistisch, was das nächste Jahr uns virologisch so bescheren wird. Wir haben in der Corona-Pandemie viel gelernt und können gegen neue Erreger früher und effektiver vorgehen als je zuvor. Ob wir unsere Möglichkeiten nutzen, ist natürlich eine politische Frage. Ich glaube hier fest an den menschlichen Verstand. Den dürfen wir uns auch in schwierigen Zeiten nicht abkaufen lassen.
Herr Kekulé, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Alexander Kekulé