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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Chinas neue Wirtschaftspolitik Wachstum ist gut, Kontrolle ist besser
Das Wanken des Immobilienriesen Evergrande ist ein Symptom eines neuen Chinas. Die Regierung braucht kein exzessives Wachstum mehr –
Immer höher, immer weiter, immer schneller: Über Jahrzehnte glich Chinas Wirtschaftsstrategie einem Sprint. Wachstum war die oberste Maxime – egal wie es erreicht wurde.
Nun zeigen sich die Folgen dieses Lebens am Anschlag: Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer schneller auseinander, Milliardäre wie Alibaba-Gründer Jack Ma kritisieren öffentlich die kommunistische Partei und Chinas Immobilienbranche strauchelt unter der Last ihrer Schulden.
Im Land der Mitte stehen die Zeichen deshalb jetzt auf Wandel. Schon bald könnte Schluss sein mit dieser für China schwierigen Entwicklung, wie immer mehr Kenner des Landes beobachten. Einer von ihnen: Frank Sieren, China-Experte und Autor mehrerer Bestseller über das Land.
Corona hat Chinas Regierung beflügelt
"China will nun in den wichtigsten Branchen nachhaltige Spielregeln einziehen", sagt er im Gespräch mit t-online. Der Journalist lebt seit mehr als 25 Jahren in Peking und ist auf die chinesische Wirtschaft und Politik spezialisiert. In diesem Jahr erschien sein jüngstes Buch "Shenzhen – Zukunft Made in China".
Ausgerechnet der schwerste Einschlag der jüngsten Geschichte, so Sieren, habe der Regierung den Mut gegeben, die Wirtschaft im Land grundlegend neu zu denken: "Die Corona-Pandemie hat das Land einem wirtschaftlichen Stresstest unterzogen, den es sich freiwillig nicht zugemutet hätte." Dabei habe sich gezeigt: Chinas Wirtschaft halte einer solchen Extrembelastung gut stand und habe sich schnell erholt.
Zeichen für einen Paradigmenwechsel
Ähnlich sieht es auch Jürgen Matthes, Leiter des Kompetenzfeldes Internationale Wirtschaftsordnung und Konjunktur beim Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Es deute sich ein Paradigmenwechsel an. "Wirtschaftswachstum scheint nicht mehr das oberste Ziel der Regierung zu sein", so Matthes zu t-online.
Das Post-Corona-China widme sich weiteren Aufgaben: "Die neuen Ziele sind die Sicherung der Macht der Partei, die Stabilität des Finanzsystems, die Kontrolle über sensible Daten und der Kampf gegen die starke Ungleichheit im Land", analysiert Matthes.
Ins Kreuzfeuer dieses neuen Ansatzes gerät derzeit der strauchelnde Immobilienriese Evergrande. Die Bau- und Immobilienbranche ist wichtig für die chinesische Wirtschaft. Gemeinsam mit ihren Zulieferern trägt sie fast 30 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt des Landes bei.
Zuletzt jedoch wuchs sie sich selbst und der Regierung über den Kopf, und das buchstäblich. Denn: Evergrande und auch andere Firmen in der Branche haben ihr Wachstum auf Pump finanziert. Ihre Häuser stehen auf wackeligen Krediten, während zeitgleich die Preise für Wohnungen in die Höhe schossen.
Drei rote Linien stutzen die Immobilienbranche zurecht
Ein Problem, erklärt Sieren. "In Ballungsgebieten wie im südchinesischen Shenzhen kostet eine Wohnung mittlerweile bis zu 46 Jahresgehälter", sagt er. Zudem haben viele Privatleute Geld in Evergrandes Projekte investiert – Geld, das nun verloren sein könnte.
Der Staat, so ihre Meinung, werde die Verluste der Privatanleger auffangen. Zum Beispiel, indem er die noch nicht fertigen, aber anbezahlten Wohnungen von Staatsunternehmen zu Ende bauen lasse.
Dass das einer Rettung des Konzerns gleichkomme, ist dennoch nicht ausgemacht. "Es spricht einiges dafür, dass an Evergrande ein Exempel statuiert werden wird, um die Überhitzung im Immobilienmarkt einzudämmen", sagt Matthes. "China wird aber einen Flächenbrand im Finanzsystem zu verhindern versuchen."
Strengere Richtlinien gibt es auch durch den strikten Entschuldungskurs, den die Regierung verfolgt. Neue Kredite sollen Firmen nur nach einem strikten Prüfsystem erhalten: den sogenannten "drei roten Linien", die regeln, wie viele Schulden ein Bauunternehmen im Verhältnis zum Firmenvermögen aufnehmen darf. Evergrande hatte diese Vorgaben zuletzt alle gerissen. Zeitgleich vertreibt China Spekulanten und Großinvestoren aus der Branche.
China stutzt seine Unternehmen also zurecht. Ein Schrumpfen der großen Player? Durchaus erwünscht. Die Regierung will die Kontrolle zurückerlangen.
Keine Angst vor harten Eingriffen
Was für die Baubranche neu ist, haben andere Wirtschaftszweige in Fernost schon in der Vergangenheit erlebt. Besonders die Tech-Firmen haben die Härte der Regierung zuletzt gespürt.
So hat China etwa dem privaten Nachhilfemarkt unlängst die Wirtschaftsgrundlage entzogen: Neue Regularien untersagen Nachhilfeunternehmen jetzt Gewinne zu erzielen, an der Börse gelistet zu sein oder Nachhilfestunden am Wochenende anzubieten. Ein 120 Milliarden US-Dollar schwerer Markt löste sich so über Nacht fast in Luft auf, der Aktienkurs des marktführenden Tech-Unternehmens Tencent brach in der Folge rapide ein.
- Aktueller Kurs: Wo steht die Tencent-Aktie gerade?
Das Tochterunternehmen des Online-Marktplatzes Alibaba , Ant-Group, ließen die Behörden derweil gar nicht erst an die Börse, als sich der Gründer Jack Ma öffentlich kritisch über das chinesische Finanzsystem äußerte. Der mit knapp 30 Milliarden Dollar bemessene Börsengang wurde ad hoc abgeblasen, Jack Ma verschwand für Monate von der Bildfläche. Bis heute hatte der bekannteste Unternehmer Chinas nur noch wenige öffentliche Auftritte gehabt – kritisch äußerte er sich in keinem davon mehr.
Milliardäre landen in Haft
Andere Manager traf es noch deutlich härter: Agrarunternehmer und Milliardär Sun Dawu wurde im Sommer dieses Jahres zu einer Haftstrafe von 18 Jahren verurteilt. Sein Unternehmen war mit einer staatlichen Firma in Konflikt geraten, zudem hatte der Milliardär die Regierung zuvor mehrfach kritisiert – zuletzt auch in ihrem Umgang mit der Corona-Politik. Ein weiterer Manager aus dem Immobiliensektor wurde bereits im September 2020 zu 18 Jahren Haft verurteilt. Auch er hatte die Partei in der Corona-Krise kritisiert.
"Rechtstaatlichkeit wie in Deutschland gibt es in China nur streckenweise. Viele Urteile haben einen starken politischen Drall", sagt China-Experte Sieren. Ob auch Evergrandes Gründer Xu Jiayin eine Strafe vor Gericht erwartet, lasse sich deshalb zwar noch nicht einschätzen. Doch die Beispiele quer aus allen Branchen zeigen: China hat keine Angst, seine großen und mächtigen Manager anzugreifen. Wachstum ist gut, Kontrolle ist besser.
Dabei scheint die Regierung die Lehren aus dem Umgang mit der Corona-Krise direkt auf das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben zu übertragen: Auch im Kampf gegen die Pandemie setzte die kommunistische Regierung auf einen sehr harten Kurs, riegelte etwa gleich ganze Städte ab, sobald es zu einem Corona-Ausbruch kam.
All das mutet zum Teil paradox an. Denn lange Zeit haben die Wirtschaft und ihre erfolgreichen Unternehmer der Regierung in Peking in die Karten gespielt. Das Wirtschaftswunder der vergangenen zwei Jahrzehnte hat aus Bauernkindern Milliardäre gemacht – und einen Großteil zumindest aus der schlimmsten Armut befreit. Dieser Aufstieg, dieser Zuwachs an materiellem Wohlstand hat die Menschen an die Partei und ihre Ideologie gebunden.
Partei hat Angst um ihre Ideologie
Jetzt aber tritt die Kehrseite des boomenden Konsums zutage. "Immer mehr Menschen kümmern sich nicht mehr um Ideologie", erklärt Sieren. "Zum 100. Geburtstag der Partei gab es nicht einmal einen Feiertag, weil die Wirtschaft ihre Arbeit nicht pausieren wollte. Das ist ein Problem für die Partei."
Und Deutschland? Dürfte nur geringfügig von all dem betroffen sein. Noch. Deutsche Hochtechnologieunternehmen werden wohl vorerst nicht zwischen die Mühlsteine des chinesischen Kontrolldrangs geraten. "Wer neue Technologien nach China bringt, wird aktuell noch mehr hofiert als zuvor", erklärt Matthes.
Doch der Preis für einen Anteil am wichtigen chinesischen Markt ist hoch: "Am Ende geht es stets um die Frage, wie viel von unseren Innovationen geben wir den Chinesen, um etwas von ihrem boomenden Markt abzubekommen?", sagt Sieren.
Doch wenn China eine Technologie bereits beherrscht, können europäische Firmen unter Druck geraten. Matthes erinnert an die Probleme europäischer Unternehmen wie H&M oder Adidas. Weil sie sich gegen die Verfolgung der Uiguren gewendet hatten, kam es aus politischen Gründen zeitweise zu Boykotten von Produkten dieser Marken.
Ähnliche Probleme könnten in Zukunft immer mehr Branchen drohen, wenn China weiter technologisch aufholt. "Chinas unverhohlenes Ziel ist es, sich zunehmend unabhängig vom Ausland zu machen und westliche Firmen auf Dauer obsolet zu machen", so der IW-Experte.
Deutschland bleibt nur im Spiel, solange China nicht aufholt
Auch China-Experte Sieren ist sich sicher: "Deutsche Firmen müssen für chinesische Partner attraktiv bleiben – das geht nur mit Innovation." Genau da jedoch liegt auch eines der Kernprobleme des Systems: Ausländische Unternehmen müssen in China meist mit einheimischen Firmen kooperieren. Die chinesische Regierung nutzt dieses Druckmittel seit Langem und erzwingt damit quasi einen Technologietransfer, der den europäischen Firmen langfristig schaden dürfte, sagt Matthes.
"Das ist wie ein Gefangenendilemma: Wer China den Rücken kehrt, gibt der Konkurrenz einen wichtigen Vorteil, wenn sie weiter im großen chinesischen Markt mit seinem starken Wachstum aktiv ist", so Matthes. Also wolle jeder weiter präsent sein – und teilt dafür wohl oder übel seine Technologie.
Chinas steigende Macht, sein aggressiveres außenpolitisches Verhalten und vor allem die globalen Wettbewerbsverzerrungen durch den chinesischen Staatskapitalismus mit seinen hohen Subventionen machen Matthes ernste Sorgen. Am Ende geht es um mehr als nur Marktanteile, warnt auch Sieren: "Wer wirtschaftlich nicht bedeutend ist, sitzt nicht am Tisch, wenn es darum geht, die eigenen Werte in der neuen multipolaren Weltordnung zu verankern, in der China nun eine zentrale Rolle spielt."
Schlussendlich könnte die staatliche Kontrolle über Wirtschaft und Privatleben also auch weit über die große Mauer Chinas hinausgehen. Die Taktik Chinas ist bekannt – und dennoch machen sich immer mehr Unternehmen vom Land der Mitte abhängig.
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Frank Sieren
- Gespräch mit Jürgen Matthes
- IV Kurzbericht: De-Globalisierung, Protektionismus und Krisen treffen
deutsches Exportmodell hart - UBS: Chinas three red lines
- Handelsblatt: Finanzielle Ausschweifungen werden bestraft
- NZZ: Chinas Regierung nimmt den boomenden Markt für private Nachhilfe ins Visier
- Zeit: Jack Ma. Was ist mit Chinas Digitalheld passiert?
- Manager Magazin: Chinesischer Immobilienmagnat zu 18 Jahren Haft verurteilt
- Spiegel: Ärger mit der KP – Schweinezüchter muss 18 Jahre in Haft
- Manager Magazin: Pekings Regulierungswut schreckt Börsen auf
- Statista: China: Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1980 bis 2020 und Prognosen bis 2026
- The Guardian: China’s cultural crackdown: few areas untouched as Xi reshapes society
- BBC: China: Children given daily time limit on Douyin - its version of TikTok
- BBC: Chinese social media site Weibo suspends 22 K-pop accounts