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Hoher Krankenstand in Deutschland: Experte äußert Verdacht


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Hoher Krankenstand bei Unternehmen
Wie krank sind die Deutschen? Experte äußert Verdacht


Aktualisiert am 28.10.2024Lesedauer: 6 Min.
Nasenpray und Taschentücher: Ist die Wiedereinführung der telefonischen Krankschreibung verantwortlich für den hohen Krankenstand?Vergrößern des Bildes
Nasenpray und Taschentücher: Die meisten Deutschen bleiben wegen Atemwegserkrankungen zu Hause. (Quelle: IMAGO/Felix Schlikis/imago)

Es ist noch nicht Winter und trotzdem sind jetzt schon viele Menschen krankgeschrieben. Was dahinterstecken könnte und welche Maßnahmen Unternehmen nun ergreifen.

Hauke Evers spricht nicht gerne über den neuen Bonus. Der kaufmännische Leiter der Kieler Verkehrsgesellschaft (KVG) fürchtet sich, dass alles falsch aufgenommen und kritisiert wird. Doch die KVG war Ende vergangenen Jahres mit einem großen Problem konfrontiert. An manchen Tagen war fast ein Fünftel der Beschäftigten krankgeschrieben. Um den Busverkehr weiter zu gewährleisten, musste Evers handeln. Die Lösung der KVG: Seit diesem Jahr zahlt sie Mitarbeitern mehr Gehalt, wenn sie sich weniger krankschreiben.

Die Kieler Verkehrsgesellschaft ist mit dem Problem nicht allein.

Die Deutschen melden sich immer häufiger krank. Krankschreibungen schwanken zwar mit der Saison, doch in den vergangenen Jahren blieben die Fehlzeiten im Job auch im Sommer auf einem hohen Stand. Nach einer Auswertung ihrer Versichertendaten teilte die Krankenkasse DAK-Gesundheit mit, dass fast ein Drittel der Erwerbstätigen (30,5 Prozent) im Zeitraum von Juli bis einschließlich September mindestens einmal krankgeschrieben war.

Zahl der Krankheitstage deutlich gestiegen

Am häufigsten liegt das an Husten, Schnupfen und Halsschmerzen. Aktuell liegt die Zahl der akuten Atemwegserkrankungen in Deutschland auf einem für die Jahreszeit vergleichsweise hohen Niveau. Für die Woche vom 14. Oktober geht das Robert Koch-Institut (RKI), unabhängig von einem Arztbesuch, deutschlandweit von rund 6,9 Millionen Betroffenen aus, wie es in einem aktuellen Bericht heißt.

Wie groß das Phänomen ist, wird an der durchschnittlichen Zahl der Krankheitstage deutlich. Im Jahr 2007 waren die Deutschen an 8,1 Tagen krankgeschrieben, der Tiefstwert seit der Wiedervereinigung. Die Zahl kletterte bis zum Jahr 2021 auf 11,1 Tage und stieg danach sprunghaft an. 2023 waren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland durchschnittlich 15,1 Arbeitstage im Jahr krankgemeldet, teilt das Statistische Bundesamt mit.

 
 
 
 
 
 
 

"Der Aufschrei ist groß, wenn der Bus nicht kommt"

Für Hauke Evers eine große Herausforderung. Im zweiten Halbjahr 2023 meldeten sich an manchen Tagen knapp 20 Prozent der Belegschaft krank. "Wir konnten den Verkehr nicht mehr aufrechterhalten", erinnert sich der kaufmännische Leiter. "Wenn Schichten nicht besetzt sind, fällt Leistung aus und der Aufschrei ist groß, wenn der Bus nicht kommt." Er setzte sich mit dem Betriebsrat zusammen und sie beschlossen kurzfristig, eine Anwesenheitsprämie einzuführen.

Demnach erhalten Busfahrer der KVG bis zu 250 Euro brutto pro Quartal zusätzlich zum Gehalt, vorausgesetzt sie waren keinen einzigen Tag krank. Im Jahr können Mitarbeiter so 1.000 Euro extra verdienen, wenn kein Fehltag anfällt. Bei bis zu vier Ausfällen im Quartal erhalten Busfahrer noch die Hälfte des Bonus, also 125 Euro.

Dabei hat sich die KVG von anderen Unternehmen inspirieren lassen. Die Hochbahn zahlt eine Anwesenheitsprämie von bis zu 670 Euro pro Halbjahr, teilt das Hamburger Verkehrsunternehmen auf Anfrage von t-online mit. Auch Tesla in Grünheide plant wohl ein ähnliches Projekt, bei dem geringe Ausfallzeiten sogar mit bis zu 1.000 Euro belohnt werden.

Wer von der Prämie profitiert

Das Problem solcher Boni: Sie könnten dazu führen, dass sich Mitarbeiter krank zur Arbeit schleppen – um das zusätzliche Geld zu erhalten. Das glaubt Evers jedoch nicht. Keiner seiner Mitarbeiter würde sich krank ans Steuer setzen, dafür sei der Zuschuss von ungefähr 160 Euro netto im Quartal zu gering, sagt er.

Nach der Einführung hat die KVG eine positive Bilanz zu dem Projekt gezogen. Für die Monate Mai bis August hätten rund 500 Mitarbeiter die erste Prämie erhalten, mehr als 300 bekamen sie nicht. Die langfristigen Auswirkungen sind noch unklar, die Prämie soll zunächst ein Jahr getestet werden. Die aktuelle Krankenquote liegt laut Evers bei 11 Prozent und damit leicht über dem Jahresschnitt.

Krankenstand soll Chefsache werden

Die Sorge um die kränkelnden Deutschen beschäftigt auch die Politik. Für den Vorstandschef der drittgrößten deutschen Krankenkasse DAK-Gesundheit, Andreas Storm, sollten die anhaltenden Rekordwerte beim Krankenstand sogar zur politischen Chefsache werden. "Die hohen Fehlzeiten sind eine enorme Belastung für die Beschäftigten und die Betriebe. Deshalb sollten die zuständigen Minister für Arbeit und Gesundheit, Hubertus Heil und Karl Lauterbach, eine gründliche und seriöse Debatte über die Ursachen anstoßen", sagte er t-online.

"Es braucht eine Art 'Krankenstands-Gipfel', bei dem Vertreter der Krankenkassen, Ärzte, Wissenschaftler sowie Fachpolitiker zusammenkommen, um über die wahren Gründe des hohen Krankenstands und mögliche Rezepte für eine bessere Gesundheit zu sprechen."

Der gesundheitspolitische Sprecher der Union im Bundestag, Tino Sorge, macht sich derweil keine Hoffnungen auf einen "Krankenstand-Gipfel". Die Ampel würde seit drei Jahren scheitern, bei wichtigen Gesundheitsfragen zusammenzufinden.

Der Bundestagsabgeordnete hat eine Vermutung, woran der erhöhte Krankenstand liegen könnte. "Ein Faktor dürfte auch sein, dass die telefonische Krankmeldung aus der Corona-Zeit in einigen Fällen zu leichtfertig genutzt wird. Befragungen deuten darauf hin, also muss darüber auch unaufgeregt gesprochen werden", sagte Sorge t-online.

Der wahre Grund hinter dem Krankenstand

Auch für die Gebäudedienstleister ist das der wahre Grund hinter dem Phänomen. In einer Mitteilung schlägt der Verband aufgrund von Personalnot Alarm und macht dafür die telefonische Krankschreibung verantwortlich. Seit diese zur Entlastung von Praxen und Versicherten im Dezember 2023 wieder eingeführt wurde, seien die Fehlzeiten der Reinigungskräfte in den Betrieben sprunghaft gestiegen.

Doch ist der Krankenstand wirklich so hoch, weil Arbeitnehmer sich zu einfach krankmelden können? Im Gespräch mit t-online warnt IW-Ökonom Jochen Pimpertz vor einer "Blaumacherdebatte". "Es gibt unterschiedliche Erklärungsansätze für die hohen Krankenstände – das 'Blaumachen' zählt aber nicht dazu", sagte er t-online.

"Wir sehen derzeit eine Erkältungswelle, die möglicherweise mit den Nachwehen der Corona-Pandemie zusammenhängen kann. Dazu dürften Krankenschreibungen wegen Alterserkrankungen kommen." Insbesondere Letztere deuteten darauf hin, dass die Bevölkerungsimmunität noch nicht wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht habe, so Pimpertz, der beim IW den Forschungsbereich Staat, Steuern und Soziale Sicherung leitet.

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Doch Pimpertz hebt noch einen weiteren Grund hervor: eine statistische Besonderheit. "In die jetzige Statistik fallen auch Krankmeldungen, die früher gar nicht erfasst wurden. Durch die elektronische Übermittlung des Attests gehen keine Krankmeldungen mehr verloren, wie das bis 2023 der Fall sein konnte." Seitdem übermitteln Ärzte Krankschreibungen elektronisch an die Krankenkassen, dort können Arbeitgeber diese dann abrufen.

In dieselbe Kerbe schlägt auch DAK-Chef Storm. "Früher sind diese Krankenschreibungen teils nicht bei der Krankenkasse angekommen – obwohl es sie genauso gab." Auch er warnt davor, kranke Menschen vorzuverurteilen.

Der volkswirtschaftliche Schaden

Unklar ist derweil, ob sich der hohe Krankenstand auch auf die Konjunktur auswirkt. So rechnet das "Handelsblatt" in einer Analyse vor, dass die hohen Krankenstände Deutschland in eine Rezession ziehen würden. Experte Pimpertz hält sich bei der Frage nach den volkswirtschaftlichen Auswirkungen jedoch zurück. "Es lässt sich kaum seriös beurteilen, wie groß der volkswirtschaftliche Schaden des Krankheitsstands ist. Zum Beispiel lässt sich nicht messen, in welchem Umfang Produktionsausfälle durch Vertretungen und Mehrarbeit gesunder Belegschaften vermieden werden können", so Pimpertz weiter.

"Klar ist: Während es in größeren Betrieben leichter ist, Krankheitsausfälle durch Mehrarbeit auszugleichen, ist das in kleineren unrealistisch. Daher trifft eine Krankheitswelle besonders kleine Firmen oder Selbstständige – klassisches Beispiel ist die Bäckerei, die womöglich aufgrund von Krankheit geschlossen bleiben muss."

Auch Verkehrsunternehmen sind besonders hart von der Krankheitswelle betroffen. In der Produktion großer Unternehmen ließen sich Ausfälle kompensieren, doch das sei im öffentlichen Nahverkehr viel schwieriger, erklärt KVG-Prokurist Evers. Aufgrund der Lenk- und Ruhezeiten für Busfahrer gebe es nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten zur Mehrarbeit. Stattdessen müssten dann Leistungen gekürzt werden. Als der Krankenstand 2023 besonders hoch war, fuhren zehn Prozent weniger Busse durch Kiel.

Noch schlimmer sieht es derzeit in der Hauptstadt aus. Der hohe Krankenstand gepaart mit Personalmangel hat sich bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) zu einer fulminanten Krise entwickelt. Das Busangebot könnte 2024 auf einen Tiefstand fallen.

"Es ist im Interesse der Arbeitgeber, die Krankheitsstände gering zu halten. Sie sollten daher alles dafür tun, dass es ihren Mitarbeitern gut geht, und in vielen Fällen tut sich auch schon viel", so Pimpertz. Betriebliches Gesundheitsmanagement oder das Nutzen von Homeoffice, wo es möglich ist, seien die Mittel der Wahl. "Das gilt besonders, weil sich die Folgen einer Krankheitswelle durch die demografische Krise noch verschärfen. Bei zunehmend knappen Belegschaften wird es immer schwieriger, Ausfälle zu kompensieren."

Wie schwierig es wird, bleibt derweil abzuwarten. Noch ist unklar, ob in diesem Jahr eine noch größere Krankheitswelle als 2023 durch das Land rollt. Alle in der Coronapandemie antrainierten Schutzmechanismen wie das Tragen von Masken haben die Deutschen fast vollständig wieder abgelegt. Und die kalte Jahreszeit steht erst noch bevor.

Verwendete Quellen
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
  • Gespräch mit Hauke Evers
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