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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krise auf der Schiene Diese Firma rettet jeden Tag die Deutsche Bahn
Unwetter, Streik, Baustellen: Gründe für Bahnausfälle gibt es reichlich. Im besten Fall steht schnell ein Bus des Schienenersatzverkehrs bereit. Ein Besuch in der Schaltzentrale.
Auf Omeed Al-Saadis Schreibtisch stehen zwei riesige Bildschirme. Auf ihnen sind eine Protokolltabelle und eine Karte der Rhein-Main-Region mit kleinen Punkten zu sehen. Jeder Punkt steht für einen Bus: Grüne Punkte stehen für pünktliche, blaue für zu frühe und rote für verspätete Busse. Fast alle Punkte sind grün, einer ist blau.
Al-Saadi arbeitet nicht bei einem Busunternehmen, sondern bei einer Tochterfirma der Deutschen Bahn, genauer: der DB SEV GmbH. Er und seine Kolleginnen und Kollegen sitzen in einem graubraunen Gebäude in einer Seitenstraße in Berlin-Wilmersdorf. Durch das Fenster blickt man auf einen Busparkplatz. An diesem unscheinbaren Ort wird über den Schienenersatzverkehr für ganz Deutschland entschieden.
Und das ist notwendiger denn je. Die Deutsche Bahn steckt im größten Sanierungsprozess ihrer Geschichte. Mehr als 4.000 Kilometer Schiene müssen generalüberholt werden. Viele Züge werden deshalb umgeleitet, auf etlichen Strecken können sie gar nicht mehr fahren. Deshalb ist Schienenersatzverkehr notwendig; es müssen also Busse eingerichtet werden, die die Strecken bedienen. Allein im vergangenen Jahr war das in 2.000 Fällen notwendig, hinzu kamen 12.500 kurzfristige Notfalleinsätze, etwa bei Sturmschäden oder wenn Menschen sich im Gleis aufhielten.
"Pro Stunde zwei bis drei Ausfälle sind schön"
"Pro Stunde zwei bis drei Ausfälle sind schön", sagt der gelernte Berufskraftfahrer Al-Saadi. Dann hätte er eine entspannte Schicht. Aber oft genug, etwa bei Streik und Unwetter, haben er und seine 29 Kolleginnen und Kollegen deutlich mehr zu tun. Denn die sogenannten Disponenten kümmern sich um die Organisation der Busse. Insgesamt arbeiten rund 120 Personen bei der Bahn-Tochter.
In der Praxis sieht ihre Arbeit folgendermaßen aus: Von der Bahn werden Al-Saadi und seine Kollegen über kurzfristige Zugausfälle, etwa durch Sturmschäden, informiert. Danach fangen sie an, die Unternehmen im Umkreis von 50 Kilometern abzutelefonieren und vergeben dann den Auftrag für die benötigte Dauer. Ziel ist es, innerhalb von ein bis zwei Stunden einen Bus vor Ort zu haben.
Im Drei-Schicht-Betrieb ist das Team so rund um die Uhr besetzt. Zu tun gibt es genug: 2.300 Ersatzbusfahrten pro Tag und jährlich eine Strecke von 24 Millionen Kilometern. Das sind bereits doppelt so viele Fahrten wie bei der Gründung des Unternehmens im Jahr 2019. Bis dahin mussten das die Verkehrsunternehmen vor Ort selbst organisieren. Sprich: selbst zum Hörer greifen und einen Bus auftreiben, den Fahrplan erstellen und dann auch überwachen, ob alles läuft.
Grün heißt pünktlich, blau zu früh
Anfragen kommen längst nicht mehr ausschließlich von der Deutschen Bahn, sondern auch von anderen privaten Bahnunternehmen, die einzelne Strecken in Deutschland betreiben. Geschäftsführer Frank Nostitz rechnet wegen der großen Bauoffensive der Deutschen Bahn in diesem und den kommenden Jahren mit einem Anstieg um weitere 15 bis 20 Prozent.
Ein Teil der Bauoffensive ist die Riedbahnstrecke zwischen Frankfurt am Main und Mannheim, die Al-Saadi gerade beobachtet. Seit Mitte Juli und noch bis Dezember fährt auf den 74 Kilometern kein Zug. Es ist der größte Schienenersatzverkehr, den die Deutsche Bahn bisher mit eigenen Bussen stemmt. Denn den Großteil der Aufträge vergibt die DB SEV normalerweise an ihre mehr als 3.500 Partnerunternehmen, also regionale Busunternehmen. Die viel befahrene Riedbahnstrecke gehört zu den 41 Korridoren, die im Rahmen der Generalsanierung der Deutschen Bahn erneuert werden. Mehr über die Sanierungspläne lesen Sie hier. Insgesamt 150 eigene purpurfarbene Busse der Bahn befördern hier aktuell bis zu 16.000 Fahrgäste.
Unternehmenschef Nostitz ist sichtlich zufrieden mit dem bisherigen Verlauf. Schienenersatzverkehr sei oft unbeliebt, da er meistens länger dauere als die gewohnte Zugverbindung und teils weitere Umstiege für die Fahrgäste hinzukämen, sagt er. Doch bei einer eigenen Befragung gaben 78 Prozent der Fahrgäste dem Ersatzverkehr für die Riedbahn die Schulnote eins oder zwei. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Jeder Zehnte ist wegen der Bauarbeiten von der Bahn auf das Auto oder das Motorrad umgestiegen. Mehr dazu lesen Sie hier.
Busfahrer sind schwer zu finden
Die DB SEV könne sich gut vorstellen, künftig noch mehr Ausfälle mit eigenen Bussen zu kompensieren, so Nostitz. Denn aktuell werden lediglich fünf bis zehn Prozent der Ausfälle mit eigenen Fahrzeugen von Regiobus abgedeckt. Einem Ausbau der eigenen Flotte könnte allerdings der Fachkräftemangel in die Quere kommen. "Fahrer sind teils schwerer zu organisieren als Busse", sagt Nostitz. Für den Ersatzverkehr der Riedbahn musste die Bahn bereits im Ausland Busfahrer anwerben.
Ist ein Zugausfall vorab bekannt – etwa bei einem angekündigten Streik oder einer Baustelle – trackt die DB SEV über Handys der Busfahrer den Ersatzverkehr und kann bei Bedarf nachsteuern.
Nostitz: Kosten um 100 Prozent gestiegen
Nostitz schätzt die Kosten für den Ersatzverkehr auf drei bis zehn Euro pro Kilometer. Fällt also ein Zug für eine Strecke von 50 Kilometern aus, entstehen Kosten von 150 bis 500 Euro. Welche Preise von den Busunternehmen aufgerufen werden, hängt dabei mit den Leerkilometern bis zum Einsatzort und mit der Konkurrenzsituation vor Ort zusammen.
Insgesamt seien die Kosten in den vergangenen zwei, drei Jahren um 100 Prozent gestiegen. Das hänge mit höheren Sprit- und Lohnkosten, aber auch einem geringen Angebot bei erhöhter Nachfrage zusammen. Im Fernverkehr muss die Bahn als Unternehmen für die Kosten aufkommen. Im Nahverkehr sind die Kommunen verantwortlich, und die Erstattung ist in den jeweiligen Verkehrsverträgen geregelt. Hinzu kommt für die Bahn die Erstattung der Hotel- und Taxikosten in all jenen Fällen, in denen entweder kein Schienenersatzverkehr bereitgestellt werden kann oder gar nicht erst vorgesehen ist, etwa bei durch Verspätung verpassten Anschlüssen.
Eine Ausnahme bei der Finanzierung bilden die Korridore bei der Generalsanierung. Hier haben Bund und Länder die Finanzierung zugesagt, um die Bahn zu unterstützen. Dieser Unterschied zeigt sich laut Nostitz auch im höheren Standard der neuen Busse.
"Bei Unwetter ist immer viel los bei uns"
In der Zentrale ist es an diesem Montagmorgen recht entspannt. Krankheitsbedingt fehlen zwar zwei Kollegen, dennoch ist alles unter Kontrolle. "Die Kollegen räumen gerade noch den Sturm von gestern Nacht auf", sagt Tom Nitzsche, stellvertretender Leiter der SEV-Leitstelle. Gemeint ist das Sturmtief, das von Sonntag auf Montag vor allem durch Sachsen-Anhalt und Brandenburg gefegt ist. "Bei Unwetter ist immer viel los bei uns", pflichtet ihm Al-Saadi bei.
Ein Kollege kommt an seinen Schreibtisch. Er braucht Hilfe bei der Suche nach einem Bus. Dieses Mal geht es allerdings nicht um einen Zugausfall, der sei bereits behoben, aber eine Frau hätte angerufen und um Unterstützung gebeten. "Sie hat ihre Laptoptasche mit ihrem MacBook liegen gelassen." Auch um solche Fälle muss sich das Unternehmen kümmern.
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