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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zum Tod von Pelé Sein Genie wird bleiben
Pelé ist tot: Das Fußball-Idol hat den Sport verändert wie niemand vor oder nach ihm. Er war der erste echte Weltstar. Messi, Ronaldo, Neymar? Wären ohne ihn nicht möglich.
"Pelé war einer der wenigen, die meine Theorie widerlegten", sagte Künstler Andy Warhol einmal. "Statt 15 Minuten Ruhm wird er 15 Jahrhunderte haben."
Edson Arantes do Nascimento, drei WM-Titel, FC Santos, Brasilien, der Größte seines Sports: Jeder Fußballfan hat diese Fakten noch heute sofort parat, mit einem Ton der Hochachtung, der Faszination, vielleicht sogar einem Leuchten in den Augen. Pelé, das war schöner Fußball, erfolgreicher Fußball, das war ein gewinnendes Lächeln – und: Strahlkraft über seinen Sport hinaus.
Denn dieser Pelé war der erste globale Superstar des Fußballs – und der einflussreichste. Ohne den Ballkünstler sähe der Weltfußball heute anders aus.
Weltklassespieler und Popstar
Vor Pelé hat der Fußball mit Alfredo di Stefano oder Ferenc Puskas zwar innerhalb des Sports internationale Größen, aber erst der legendäre "Zehner" der Seleção entwuchs seinem Sport, war gleichermaßen Weltklassespieler und Popstar. Kein anderer brach derart über die Fußballwelt herein wie Brasiliens Rekordtorschütze – und verändert sie so nachhaltig. "Er ist der Fußballer dieses Jahrhunderts, wenn nicht sogar der Sportler des Jahrhunderts", sagte Franz Beckenbauer einmal. Und der große Niederländer Johan Cruyff schwärmte: "Pelé war der einzige Fußballer, der die Grenzen der Logik überwunden hat."
Mehr noch: Ohne Pelé wären Lionel Messi, Ronaldo oder Neymar in all ihrer überdimensionierten Heldenverehrung nicht möglich. Denn erst der geniale Angreifer hat den Fußball in der Weltöffentlichkeit verankert, mit all seinem begnadeten Können, seinen Tricks, seinem spektakulären Spiel, seinem Charisma. Tarcisio Burgnich, der beinharte italienische Verteidiger, im WM-Finale von Mexiko City 1970 mit der Bewachung der Nummer 10 beauftragt, beschrieb das Erlebnis einst tiefsinnig: "Ich sagte mir vor dem Spiel, dass er auch nur aus Haut und Knochen besteht wie jeder andere – aber ich lag falsch." Sein Gegenspieler hatte gerade ein Tor und zwei Vorlagen zum 4:1-Sieg der furios aufspielenden Brasilianer beigetragen.
Für einen Ball fehlt das Geld
Pelé wächst unter ärmlichen Bedingungen in Bauru auf, mitten im Bundesstaat São Paulo im Südosten Brasiliens. Vater Dondinho ist selbst Fußballer, der große Durchbruch wollte ihm nie gelingen. Mutter Celeste ist anfangs nicht begeistert davon, dass der Junge dem Papa nacheifern will – er soll nicht dieselben beruflichen und finanziellen Schwierigkeiten durchmachen müssen. Der Sohn unterstützt derweil die Familie, indem er in Teestuben kellnert. Für einen richtigen Fußball fehlt trotzdem das Geld, stattdessen werden mit Zeitungspapier ausgestopfte Socken oder Grapefruits zweckentfremdet.
Anfang der 50er Jahre macht er erste Schritte im Hallenfußball und im Futsal. Der Heranwachsende fällt bei Turnieren auf, wird anfangs wegen seines Alters nicht ernst genommen, ist er am Ende meist bester Torschütze. "In diesem Moment habe ich realisiert, dass ich vor nichts Angst haben muss. Ich habe mich direkt gefühlt wie ein Fisch im Wasser", erinnerte er sich später, "beim Hallenfußball musst du schneller denken, weil alles viel enger ist. Dass ich das Spiel so gelernt habe, hat mir sicherlich geholfen, auf dem Platz gedankenschneller zu sein."
Mit 15 geht sein Stern auf
Sein Trainer und früher Förderer Waldemar de Brito verhilft ihm 1956 zu einem Probetraining beim nahegelegenen FC Santos, den Klubchefs verspricht er wenig zurückhaltend, der schmächtige 15-Jährige werde einmal "der beste Fußballer der Welt" werden. Santos-Trainer Lula ist angetan von seinem Talent, im Juni unterzeichnet Pelé seinen ersten Profivertrag. Am 7. September 1956 debütiert er bei den Profis, beim 7:1-Sieg gegen Corinthians Santo André legt der gerade 15-Jährige nach seiner Einwechslung in der zweiten Halbzeit eine furiose Vorstellung hin, erzielt um 16:34 Uhr das sechste Tor für Santos – mit einem Tunnel gegen Corinthians-Torwart Zaluar.
Nicht mal ein Jahr später, am 7. Juli 1957, trägt Pelé auch zum ersten Mal das Trikot von Brasiliens Nationalmannschaft, ausgerechnet im Duell mit dem Erzrivalen Argentinien. Das Spiel im Maracana-Stadion geht zwar 1:2 verloren, der Neuling aber erzielt das einzige Tor der Seleção. Noch heute ist er mit 16 Jahren und neun Monaten der jüngste Torschütze der Geschichte der ruhmreichen Mannschaft.
Die Welt lernt ihn kennen
Noch mal ein Jahr darauf lernt die ganze Welt diesen schmächtigen Teenager kennen. Bei der Weltmeisterschaft 1958 in Schweden kommt er verletzungsbedingt erst ab dem dritten Gruppenspiel zum Einsatz – und verblüfft Gegenspieler und Zuschauer mit seiner Leichtfüßigkeit, seiner Schnelligkeit, seinem Zug zum Tor. In vier Spielen erzielt Pelé sechs Treffer, darunter einen Hattrick im Halbfinale gegen das hoch gehandelte Frankreich. Er krönt seine Leistung mit zwei Toren beim 5:2 im Endspiel gegen den überforderten Gastgeber, macht Brasilien zum ersten Mal zum Weltmeister. Besiegt damit auch den Fluch des "Maracanaço", der dramatischen Finalniederlage 1950 gegen Uruguay, die das Land über Jahre zu lähmen schien.
"Beim 3:1 stoppte ich den Ball mit der Brust, lupfte ihn über Schwedens Verteidiger Gustafsson, umkurvte ihn und schloss per Volley ab. Das ist eines meiner Lieblingstore überhaupt - weil ich so jung war, aber auch, weil niemand zuvor so ein Tor gesehen hatte", erinnerte sich Pelé Jahre später.
Der Blick auf den Fußball verändert sich, Pelé - im Verbund mit seinen kongenialen Sturmpartnern Garrincha und Vava - steht für "das schöne Spiel", in dem der ästhetische Aspekt eine größere Rolle einnimmt als je zuvor.
Die größte Karriere, die es je gab
Das Turnier in Schweden wird zum Startschuss zur größten Karriere, die es im Fußball bis heute gegeben hat. Zwei weitere WM-Titel holt Pelé 1962 in Chile und 1970 in Mexiko, mit dem FC Santos dominiert er die brasilianische Liga. Pelé ist nicht nur selbst ein Weltstar, er zieht andere Weltstars an. Und wird damit zum Vorreiter für die Granden von heute. Modell für Warhol, Schauspieler an der Seite der Hollywood-Größen Michael Caine und Sylvester Stallone, Reggae-Legende Bob Marley wird im Santos-Trikot fotografiert: Pelé ist die Blaupause, sportlich - und darüber hinaus.
Mitte der 70er lässt er seine Karriere bei den New York Cosmos in den USA ausklingen. Am 1. Oktober 1977 tritt "O Rei", der König, ab. Für ihn kommen Muhammad Ali, Mick Jagger und Henry Kissinger zum Abschiedsspiel ins New Yorker Giants Stadium, gemeinsam mit über 75.000 Fans in der ausverkauften Arena – in den sonst nicht gerade fußballverrückten USA – und Millionen an den Fernsehgeräten weltweit.
"Er liebt es, Pelé zu sein"
Auch nach seiner aktiven Laufbahn bleibt er dem Sport erhalten, wenn schon nicht in führender Funktion, dann aber zumindest als Weltreisender in Sachen Fußball. "Er ist immer so fröhlich, auch abseits des Platzes. Er liebt es einfach, Pelé zu sein", sagte sein langjähriger Teamkollege Tostão noch zu aktiven Zeiten. Und vielleicht drückt dieses Zitat am besten die sportliche und gesellschaftliche Bedeutung Pelés aus.
Denn weder als Experte (regelmäßig liegt er mit seinen WM-Tipps und Einschätzungen daneben) noch als Kämpfer gegen Korruption im Sport (das "Pelé-Gesetz" von 1998 aus seiner kurzen Amtszeit als Brasiliens Sportminister wird über die Jahre immer weiter verwässert) noch als Gesellschaftskritiker (2013 bittet er seine Landsleute, sie sollten die Proteste gegen soziale Missstände doch sein lassen und lieber Fußball schauen) kann er große Akzente setzen, büßt aber doch nur wenig bis gar nichts an Strahlkraft ein. Er ist weiter gefragte Werbefigur, dazu Aushängeschild für die Fifa, von der er sich – noch im Jahr 2000 zum "Fußballer des Jahrhunderts" geadelt – 2004 für die Liste der "Fifa 100" zum runden Geburtstag des Weltverbands einspannen lässt. Das Ergebnis: Eine nur bedingt realistische Aufstellung der 125 besten lebenden Fußballer, derart fein auch mit Spielern aus Asien und Afrika ausbalanciert, dass der damalige Fifa-Präsident Sepp Blatter als eigentlicher Verfasser vermutet wird.
"Es geht nur noch ums Geld"
Vielleicht will er manchmal auch zu sehr gefallen. Pelé, der für den "schönen Fußball" steht, sieht sich zeitlebens als Kämpfer für eben diese Sache. Seinen geliebten Sport beobachtet er aber trotzdem – oder gerade deswegen – nicht unkritisch, vor allem in den letzten Jahren. "Fußball ist nur noch ein Beruf", sagt er 2015 in einem Interview. "Diese Liebe, diese Leidenschaft, die ich hatte, als ich für meinen Verein und für mein Land gespielt habe, gibt es heute nicht mehr." Mehr noch: "Es geht nur noch um Geld." 2018 resümiert er etwas traurig: "Der Fußball kann immer noch schön sein, aber heute ist das Ergebnis wichtiger als die Spielweise."
Da ist er schon angeschlagen, nach einigen gesundheitlichen Problemen in den Jahren zuvor. Eine Hüftoperation 2012, Schwächeanfälle, immer wieder Schwierigkeiten mit der Niere. Im September 2021 wird ihm ein Tumor am Dickdarm entfernt. Nun ist Pelé, dieser Größte des Fußballs, im Alter von 82 Jahren gestorben. Sein Genie wird bleiben.
- Eigene Recherche