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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ex-Nationalspieler Rolfes Die Zukunft des Fußballs: Von Glaskugeln und Gerd-Müller-Schüssen

Simon Rolfes ist nicht nur Sportdirektor von Bayer Leverkusen. Als "Bundesliga Match Facts"-Experte ist der Ex-Nationalspieler auch ein Datenguru – und spricht über Trends und neue Techniken.
"Daten sind ein großes Zukunftsfeld im Fußball". Mit diesen Worten wird Bayer Leverkusens Sportdirektor Simon Rolfes auf bundesliga.com zitiert. Seit Ende vergangenen Jahres ist der Ex-Nationalspieler nämlich nicht mehr nur bei Bayer Leverkusen tätig.
Zugleich ist der heute 39-Jährige "Bundesliga Match Facts"-Experte – und damit Schirmherr jener Echtzeit-Statistiken für Spiele in der Bundesliga, die seit dem 28. Spieltag der vergangenen Saison bei den TV-Übertragungen zu sehen sind.
Was es mit diesen Match Facts auf sich hat, wie stark er beim Scouting auf Daten zurückgreift, und welche Neuerungen den Fan in der Bundesliga erwarten, lesen Sie im großen t-online-Interview.
t-online: Herr Rolfes, wo erzielen Daten beim Scouting für Bayer Leverkusen den größten Nutzen – in der Jugendarbeit oder bei internationalen Toptransfers?
Simon Rolfes (39): Wir müssen uns stark danach richten, wo Daten überhaupt erhoben werden. Das ist in der Bundesliga oder in der 2. Bundesliga der Fall, aber nicht in jedem Land der Welt und schon gar nicht im Jugendfußball. Wir sind abhängig von ihrer Verfügbarkeit.
"Daten sind ein großes Zukunftsfeld im Fußball". Mit diesen Worten werden Sie auf der Bundesliga-Webseite zitiert. Wie groß genau ist das Potenzial für Daten im Fußball der Zukunft?
Wenn man sich die Historie anschaut, gab es früher nur Live-Scouting. Das hat sich rasant entwickelt und verändert, weil es heutzutage enorm viel Videomaterial gibt. In den vergangenen Jahren sind zudem immer mehr Daten von Fußballspielen erhoben worden – auch weil sie automatisiert aus dem Videomaterial erhoben werden können. Mittlerweile gibt es auch Technologien, die Rohdaten aufbereiten können. Wir stehen noch sehr am Anfang, das Potenzial ist riesig.
Wenn Sie an ihre Profikarriere zurückdenken: Welcher Ihrer Trainer hatte die größte Affinität zu Daten?
Das ist schwer zu sagen, zumal Daten damals noch eine weniger wichtige Rolle gespielt haben. Heute haben fast alle Trainer erkannt, dass sie einen Mehrwert bieten. Der Trend geht dahin, dass den Coaches immer mehr Informationen zur Verfügung stehen. Unser Trainer Peter Bosz kann aus so vielen Daten schöpfen wie kein anderer Trainer zuvor.
Ist es denn denkbar, dass ein Spieler zukünftig lediglich anhand von Daten verpflichtet wird?
Das Vor-Ort-Scouting ist unerlässlich. Die Objektivierung einer Leistungsfähigkeit anhand von Daten ist das eine. Aber es gibt auch andere Parameter, nach denen man einen Spieler verpflichtet. Teamgeist, Verhaltens- und Charaktereigenschaften sind bei der Spielerwahl und Kaderplanung elementar. Daten sind nur ein Teil eines großen Puzzles.
Nicht nur für Vereine, sondern auch für die DFL sind Daten von großem Wert. Mit den sogenannten Match Facts, deren Experte Sie sind, sollen Fans und Vereine einen neuen Einblick in das Spielgeschehen erhalten. Was hat es damit auf sich?
Die verfügbare Datenmenge ist immens. Aus ihr wird versucht, "Insights" zu generieren. Sprich: Detaillierte Einblicke. Zum einen für die Fans, damit sie das Spiel besser verstehen können, zum anderen für Medienpartner, damit diese besondere Geschichten erzählen können. Aber auch für die Trainer, die die Abläufe eines Spiels noch mal anders betrachten können.
xGoals und Torwahrscheinlichkeit: Das Modell der Expected Goals weist die Torerzielungs-Wahrscheinlichkeit für jeden Abschluss aus. Damit lässt sich die Effizienz eines Spielers oder einer Mannschaft beim Torabschluss messen.
Welche Rolle haben die Fans bei der Entwicklung dieser Match Facts gespielt?
Die DFL hat sich auf die Fahnen geschrieben, die Liga mit der engsten Verbindung zu den Fans zu sein. Ich weiß von einer Kundenbefragung, wonach viele Fans wissen wollten, wie wahrscheinlich die Erzielung eines Tores war. So kam das Thema Torwahrscheinlichkeiten, auf Englisch xGoals, zustande. Diese bilden mit der Realformation sowie dem Speed Alarm die drei bisherigen Match Facts.
Realformation: Die Realformation stellt die durchschnittlichen Positionen der Spieler auf dem Feld in Echtzeit bereit, sodass diese besser erkennbar und Änderungen im Spielverlauf nachvollziehbar werden. Die Daten werden anhand von rund 3,6 Millionen Datenpunkten pro Spiel berechnet.
Das Packing war einst stark im Trend, auch die Goal-Line Technology, die sich bewährt hat. Aktuell sind die von Ihnen angesprochenen xGoals in aller Munde. Welche Analyse-Techniken sind zukunftsträchtig?
Für die Fans ist es wahnsinnig spannend, neue Match Facts zu bekommen. Je mehr man hat, desto stärker kann man sie individuell auf die Spiele seiner Mannschaft beziehen. Das Fanverhalten verändert sich, das sieht man bei der jungen Generation.
Ein 15-Jähriger schaut ein Spiel anders als ein 55-Jähriger. Jugendliche sind es durch Simulationen wie "Fifa" gewohnt, auf bestimmte Ratings zu achten. Dieser Entwicklung wird dadurch Rechnung getragen – als Zusatzoption und ohne ältere Stammzuseher zu verprellen. Was ich sicher sagen kann: Die neuen Techniken sind keine Modeerscheinung.
Speed Alarm: Dieser Wert liefert jeweils die Maximalgeschwindigkeit der Spieler. Gleichzeitig wird eine redaktionelle Einordnung vorgenommen, um Bestwerte herauszufiltern. Im Liveticker gibt es in jeder Partie nach der 30. und 90. Minute ein Update der drei schnellsten Spieler des Spiels. Und eine Rangliste der schnellsten Spieler der Saison gibt es im Statistik-Bereich.
Wie bewerten Sie, dass der moderne Spieler immer gläserner wird? Ein Trainer sieht anhand von bestimmten Daten, dass ein Spieler sich nicht an den Plan gehalten hat – und setzt ihn deswegen im nächsten Spiel auf die Bank.
Ein Trainer wird einen Spieler nicht allein deswegen auf die Bank setzen, aber bestimmte Daten können Potenziale des einzelnen Spielers durchaus aufzeigen. Das ist auch das spannende an den sogenannten Average-Positions, zu Deutsch: Realformationen, und ihrer Weiterentwicklung. Man sieht deutlich, wie ein Spieler die Taktik in seinem Positionsspiel auf dem Platz umsetzt.
Warum ist Robert Lewandowski ein so guter Stürmer? Trifft er häufiger bei Chancen mit niedrigem xGoals-Wert oder kommt er häufiger in Positionen mit hohem xGoals-Wert?
Natürlich hat er bei einem Verein wie dem FC Bayern München als Stürmer viele Chancen, aber er hat auch eine unglaubliche Abschlussqualität und einen besonderen Instinkt für die Situation. Das macht ihn zu einem herausragenden Spieler und zum verdienten Weltfußballer in 2020.
Im Zuge der Zusammenarbeit zwischen DFL und Dienstleister AWS werden nun drei weitere Match Facts eingeführt werden. Welche sind das?
Eine dieser neuen Echtzeit-Statistiken befasst sich mit dem Trend der Realformationen. In der bisherigen Darstellung war ein kumulierter "Durchschnitt über Zeit" zu sehen. Jetzt kann man konkrete Zeitabschnitte bei Bedarf vergleichen und erkennen, wie sich die realtaktische Formation in bestimmten Spielabschnitten oder nach besonderen Ereignissen wie einem Tor, einer roten Karte oder einer Einwechslung verändert. Das ermöglicht eine tiefergehende Analyse einzelner Spielphasen.
Wie sehen die anderen beiden Neuerungen aus?
Es gibt die Angriffszonen sowie den Most Pressed Player. Bei den Angriffszonen wird das Spielfeld in vier Bereiche aufgeteilt. Der linke Flügel, der rechte Flügel, der linke Halbraum, der rechte Halbraum. Dort wird nun prozentual präziser angegeben, über welchen Raum auf dem Spielfeld die Klubs ihre Angriffe starten.
- Im Video: Alle drei neuen Match Facts erklärt
Der Most Pressed Player ist dabei ein neuer, sehr interessanter Wert für Zuseher, aber auch für Trainer. Gerade in der Spielvorbereitung will er wissen: Welcher meiner Spieler wird am häufigsten attackiert und beim Spielaufbau gestört? Welcher gegnerische Spieler wurde in vorherigen Spielen entscheidend unter Druck gesetzt? Dazu ist dieser Match Fact ein wichtiges Hilfsmittel.
Ab wann befindet sich ein Spieler denn "unter Druck"?
Das hängt stark mit dem Thema Geschwindigkeit, Richtung und Distanz zusammen. Technikdienstleister AWS versucht mit seiner Technologie aus diesen Positionsdaten einen Wert zu kreieren. Aktuell findet man kaum eine Fußballiga weltweit, die sich überhaupt traut, solcherlei Werte anzufassen.
Welche Daten, die bislang noch nicht erfasst werden können, könnten künftig eine Rolle spielen?
Alles, was vorhersagbar ist, ist spannend. Die Kombination der Match Facts steht im Fokus. Wir haben über den Most Pressed Player gesprochen. Man könnte die Sache auch andersherum angehen, ergo: Welche Spieler können sich am besten aus Pressing-Situationen befreien? Zudem ist es reizvoll, Mediengattungen zu verbinden. Kann ich aus einem bestimmten Spiel Daten generieren, um historisch zu sagen: Das war eine Art Gerd-Müller-Schuss? Ein spannendes Feld.
Mal komplett gesponnen in die Zukunft gedacht: Was wäre Ihr persönlicher Daten-Traum?
Ich glaube, der entwickelt sich auf dem Weg. Aber vielleicht hat man irgendwann eine Art Glaskugel vor sich und kann sagen: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent fällt in den nächsten 90 Sekunden ein Tor. Das wäre sicherlich interessant (lacht).
- Bundesliga.com: "Simon Rolfes erklärt"