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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kämpfe im Donbass "Das konnte niemand vorhersehen"
An mehreren Abschnitten der 1.200 Kilometer langen Frontlinie in der Ukraine rückt die russische Armee stetig vor. Ein Besuch vor Ort.
Sergey Panashchuk und Niklas Golitschek berichten aus Kramatorsk und Pokrowsk.
Mehr als eine Stunde dauert die Fahrt von Kramatorsk, der letzten ukrainischen Hochburg in diesem Abschnitt, zu einem der sogenannten medizinischen Stabilisierungspunkte nahe der Frontlinie bei Bachmut. Die Straßen sind voller Schlaglöcher, die Stimmung im umkämpften östlichen Donbass ist angespannt.
Mitten im Nirgendwo hält das Auto plötzlich an. Das Wichtigste beim Besuch des Stützpunktes ist, das Telefon in den Flugmodus zu schalten. Die Russen könnten das Signal zurückverfolgen, Aufklärungsdrohnen schicken – und den Ort angreifen, erklärt einer der ukrainischen Begleiter.
Der Stützpunkt liegt unterirdisch, aus Sicherheitsgründen. Hier retten mehr als zehn Ärzte und Krankenschwestern verwundeten ukrainischen Soldaten das Leben. Ihre Hauptaufgabe: Patienten stabilisieren, bevor sie in ein Krankenhaus gebracht werden. Deshalb befinden sich die Standorte in unmittelbarer Frontnähe.
"Es kann ziemlich hart sein"
Die Räume sind mit modernen medizinischen Geräten ausgestattet. Auf den Tischen stapeln sich Medikamente, einige Bilder zieren die silberne Isolierwolle an den Wänden. Der Stabilisierungspunkt besteht aus zwei Stationen, eine für schwer verwundete Patienten und eine für die weniger akuten Fälle. Es ist eine Mischung aus Unfallklinik und Intensivstation.
Das Ärzteteam arbeitet wie ein Bienenschwarm: schnell und effektiv. Keine zehn Minuten dauert es, die Patienten zu versorgen und für den Transport vorzubereiten. Wie viele verwundete Soldaten täglich behandelt werden, lässt das Militär offen, aber ein Sanitäter sagt, dass "es ziemlich hart sein kann". Deshalb versuchten sie, sich auszuruhen und zu schlafen, wenn sie nicht im Einsatz sind. Die meiste Arbeit falle an, wenn es dunkel werde – dann sei es einfacher, die Patienten zu evakuieren.
In der Nacht aber ist außerhalb des Stützpunktes kein Licht erlaubt. Durch die Finsternis bietet sich kaum Orientierung. Am Auto schaltet ein Soldat das Licht seines Telefons ein, hockt sich hin und kontrolliert die Unterseite des Wagens.
Erst im Oktober wurde der Leiter der Kampfausbildung und taktischen Ausbildung der 5. Sturmbrigade verletzt, als sein Auto aufgrund einer daran befestigten Bombe explodierte. Daher sind nun alle vorsichtiger, bevor sie losfahren. Die Front ist nicht die einzige Bedrohung in Kramatorsk.
Artilleriegeschosse brauchen nur wenige Sekunden
Sie liegt etwa 25 Kilometer Luftlinie von Kramatorsk entfernt. Seit den ersten Kämpfen im Jahr 2014 wurde die Stadt zur Festung ausgebaut und dient als temporärer Verwaltungssitz der von Russland teilbesetzten Oblast Donezk. Die klobige, graue Sowjet-Architektur lässt die Industriestadt an trüben Herbsttagen noch trister erscheinen. Am Bahnhof erinnern zwei neu errichtete Luftschutzbunker die Passanten an die Gefahr, der sie hier ständig ausgesetzt sind.
- Mutter sucht vermissten Soldaten: Vom Einsatz an der Südfront kam er nicht mehr zurück
Artilleriegeschosse brauchen nur wenige Sekunden, bevor sie die Stadt treffen – ohne Vorwarnung oder Alarm. Das Hauptziel der Russen ist das Industriegebiet. Die Trümmer im gesamten Stadtbild zeigen, dass auch zivile Objekte getroffen werden. Erst im August wurde bei einem Angriff auf ein Hotel ein Sicherheitsberater getötet, zwei Reuters-Journalisten wurden verletzt.
An fast jeder Ecke steht ein Luftschutzbunker. Da die russische Armee langsam in Richtung Kramatorsk vorrückt, lagern am Straßenrand noch immer sogenannte Tschechenigel – Panzerabwehrsperren aus Metallstangen. Trotzdem ist ein gewisser Alltag zurückgekehrt. Öffentliche Verkehrsmittel und Taxis fahren, Supermärkte, Cafés, Restaurants, Bankfilialen und Friseursalons haben geöffnet.
Brigadesprecher: "Russland macht Druck"
Serhiy Lykhomanenko ist Pressesprecher der 5. Sturmbrigade, die in der Nähe von Tschassiw Jar und Pokrowsk operiert und ihr Büro in Kramatorsk hat. "Die Lage ist überall instabil. Russland macht Druck", sagt der 42-Jährige und spricht von 10 bis 20 Gefechten, die allein seine Brigade täglich führe. Angesichts der derzeitigen Geschwindigkeit des russischen Vormarschs rechne er jedoch nicht damit, dass Kramatorsk in den nächsten zwei Jahren fallen könnte. Vor dem Krieg war Lykhomanenko ein bekannter Dirigent in der Ukraine.
Obwohl die Ukraine in den vergangenen drei Jahren in Schlachten etwa um Sjewjerodonezk, Soledar oder Bachmut schwere Niederlagen erlitten hat, konnte sie verhindern, dass Putins Armee die Kontrolle über den gesamten Donbass übernimmt. Eines seiner erklärten Ziele im Zuge des Großangriffs von 2022.
In nunmehr 1.000 Tagen schaffte Russland lediglich die halbe Strecke nach Kramatorsk und der Nachbarstadt Slowjansk; ausgehend von der Frontlinie im Jahr 2022 drangen sie in diesem Abschnitt maximal 45 Kilometer in ukrainisches Gebiet vor.
Oleh Ganzhenko aus Poltawa verteidigt die Region mit einer Artillerieeinheit; er selbst steuert die deutsche Panzerhaubitze 2000. Eines der größten Probleme sei der Mangel an Nachschub, sagt er: "Es gab Zeiten, in denen wir überhaupt keine Granaten hatten." Dieser Mangel an Ressourcen habe es der russischen Armee ermöglicht, ihr Tempo zu erhöhen.
"Ohne Granaten kann mein Team nichts ausrichten", sagt der 30-Jährige. Sie seien Angriffen mit Aufklärungs-, Angriffs- und Kamikazedrohnen ausgeliefert. "Sie sind besser ausgerüstet als wir. Sie haben mehr Granaten, mehr Munition."
"Sie können stärkere Befestigungen bauen"
Als Drohnenpilot hat der 45-jährige Roman Bogdan einen klaren Blick auf das Schlachtfeld. Er ist seit mehr als zwei Jahren in Kramatorsk stationiert und beobachtet große Unterschiede zwischen der ukrainischen und der russischen Seite. "Die Russen haben alles, was sie benötigen", bestätigt er die Einschätzung des Artilleristen Ganzhenko – Panzer und Munition etwa. Der Drohnenpilot sieht noch einen weiteren Faktor, der den russischen Truppen einen großen Vorteil verschaffe: "Sie können stärkere Befestigungen bauen, die wir nicht überwinden können."
Die Russen verfügten beispielsweise über schweres Gerät, um die Schützengräben auszuheben und sie mit vorgefertigtem Holz zu befestigen. Während Russland Ausrüstung wie Panzersperren industriell produziere, hinke die Ukraine hinterher. "Vor der Invasion konnte niemand vorhersehen oder sich darauf vorbereiten, dass die Front so lang sein würde", sagt er. Dies ermögliche es Russland, aus sicheren Positionen tief in ukrainisches Territorium vorzudringen, so Artillerist Ganzhenko.
"Kleine Gruppen stoßen vor"
Etwa 60 Kilometer südwestlich von Kramatorsk ist die Lage noch angespannter. Seit Oktober erzielen die russischen Streitkräfte taktische Fortschritte und stehen bereits vor den Toren von Pokrowsk, wobei sie offenbar die ukrainischen Truppen überrascht haben.
Mörserschütze "Katze", der nur mit seinem Rufzeichen genannt werden möchte und derzeit in dem Gebiet Verwaltungsaufgaben übernimmt, benennt neben der russischen Überlegenheit auch eigene Schwächen, die der Gegner ausnutze. "Zu einem gewissen Grad liegt es an der mangelnden Koordination zwischen den Einheiten", sagt er.
Als einen weiteren Grund nennt "Katze" eine veränderte Operationstaktik der Russen. "Kleine Gruppen stoßen vor und werden dann von mechanisierten Einheiten verstärkt", beschreibt er das Szenario, auf das die ukrainischen Verteidiger keine passende Antwort gefunden hätten.
Pokrowsk ist die letzte stark befestigte Stellung der Ukraine in dem Gebiet
Pokrowsk ist ein wichtiger Logistik- und Kommunikationsknotenpunkt für das ukrainische Militär. Ferner ist die Region für die ukrainische Stahlindustrie von enormer Bedeutung. Der Verlust der Kohlemine nahe Udatschne, etwa 15 Kilometer südwestlich, würde die Stahlproduktion der Ukraine mehr als halbieren, berichtete Reuters im Oktober. Das Land würde nicht nur Millionen Euro verlieren, sondern auch eine überlebenswichtige Ressource.
Pokrowsk ist die letzte stark befestigte Stellung der Ukraine in dem Gebiet. Auf der rund 100 Kilometer langen Landstraße von Pawlohrad nach Pokrowsk beginnen Baufahrzeuge erst jetzt damit, Gräben auszuheben.
Analysten gehen davon aus, dass der Verlust von Pokrowsk Russland in die Lage versetzen könnte, 150 Kilometer weit durch offenes Land bis zum Dnjepr vorzudringen. "Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um die Gebiete zu halten und zu verteidigen", sagt ein anderer Soldat im Gebiet Pokrowsk. Der monatelange Stellungskampf und Abnutzungskrieg gewinnt offenbar wieder an Dynamik – dieses Mal zum Vorteil Russlands.
Neue Soldaten zu finden, wird immer schwieriger
Für die ukrainische Armee wird es indes immer schwieriger, neue Soldaten zu rekrutieren. Während sich im Jahr 2022 noch lange Schlangen vor den Rekrutierungszentren bildeten und Freiwillige weggeschickt wurden, weil nicht so viele auf einmal in die Armee aufgenommen werden konnten, hat sich die Lage drastisch geändert.
Oleksiy Tarasenko, stellvertretender Bataillonskommandeur der 5. Sturmbrigade, sagt: "Meiner Meinung nach haben die Leute damals daran geglaubt, dass sie etwas bewirken können." Der Eintritt in die Armee bedeute eine lebensverändernde Entscheidung. Dem stehe der Eindruck gegenüber, dass viele Ressourcen mit wenig Wirkung eingesetzt würden.
Aufgrund eines neuen Gesetzes, das im Oktober 2024 in Kraft trat, dürfen die kämpfenden Brigaden inzwischen selbst Soldaten rekrutieren. Tarasenko ist jetzt als Rekrutierer tätig und für den Aufbau des Rekrutierungsbüros im Kiewer Rathaus verantwortlich. "Wir arbeiten wie ein ziviles Headhunter-Unternehmen", erklärt der 28-Jährige. Dieser Schritt sei notwendig geworden, da die eingezogenen Soldaten nicht die durch den Krieg entstandenen Lücken gefüllt hätten.
Laut Tarasenko benötigt allein seine Brigade jeden Monat mindestens 100 neue Soldaten. Vor allem am Telefon sei die Nachfrage groß: "Wir können nicht alle Anrufe bearbeiten." Das neue Verfahren zeige bereits Wirkung. Tarasenko sagt, er habe allein im ersten Monat rund 50 neue Soldaten anwerben können.
Die 5. Sturmbrigade hat ein klares Vorgehen für alle neuen Soldaten, wie Tarasenko erklärt. Die Grundausbildung für Rekruten wurde kürzlich von 30 auf 45 Tage verlängert. Danach absolvieren sie ein spezielles zweiwöchiges Bootcamp mit den Ausbildern der Brigade.
Die ersten Kampferfahrungen sammeln sie über fünf Tage im Schützengraben. Ihre Aufgaben liegen dabei vor allem in der Unterstützung erfahrener Kameraden, zum Beispiel tragen sie die Ausrüstung ihrer Kollegen. "Sie lernen, sich an die Situation anzupassen", erklärt Tarasenko. Nach einer fünftägigen Ruhezeit steht die nächste Fünftagesschicht an der Front an; dann mit zunehmender Verantwortung.
Wegen der Generalmobilmachung können derzeit Männer eingezogen werden, die älter als 25 sind. Männer zwischen 18 und 25 Jahren dürfen freiwillig einen Vertrag mit einer Brigade unterzeichnen. Während die Partner der Ukraine Druck auf das Land ausüben, auch jüngere Männer zu mobilisieren, will die Regierung zunächst weitere 160.000 Menschen zum Militärdienst einberufen, die älter als 25 sind. "Das würde viele, viele Probleme in den Einheiten lösen", bestätigt Tarasenko den Bedarf an mehr Personal. Angesichts der aktuellen Schwierigkeiten bezweifle er jedoch, dass dieses Ziel realistisch sei.
Aufgeben ist keine Alternative
Um den Angriffen standzuhalten, muss sich die Armee derzeit auf einen entscheidenden Vorteil gegenüber Russland verlassen. "Alles hängt von der Moral ab", sagt Brigadesprecher Lykhomanenko und fügt hinzu: "Alle sind müde. Dennoch ist uns klar, wie wichtig das ist." Viele Soldaten in Kramatorsk und Pokrowsk bestätigen, dass sie seit mindestens zwei Jahren nicht mehr auf Heimaturlaub waren – im Grunde seit Beginn des vollumfänglichen Krieges.
Auch Drohnenpilot Bogdan sagt: "Unsere Jungs versuchen, die Moral aufrechtzuerhalten. Es gibt keine andere Möglichkeit." Obwohl in Ganzhenkos Artillerieeinheit besonders die älteren Kameraden, aber auch er selbst, vom Schleppen des schweren Holzes und der Geschosse unter Rückenschmerzen litten, sei Aufgeben keine Alternative.
"Es ist hart, aber wir halten durch", sagt der 30-Jährige. Er hofft, dass die Armee bald wieder in eine Phase kommt, in der sie den Russen drei Schritte voraus ist.
- Besuche der Gebiete Kramatorsk und Pokrowsk Ende Oktober und Anfang November 2024
- Gespräche mit Vertretern der 5. Sturmbrigade
- Gespräche mit Soldaten
- reuters.com: "Reuters staff hit by strike at hotel in Ukraine's Kramatorsk" (englisch)
- reuters.com: "Russia's suspected sabotage campaign steps up in Europe" (englisch)
- voanews.com: "Russia increases arms trade with UN-embargoed nations to feed Ukraine war" (englisch)
- mil.gov.ua: "Без ТЦК: уряд дозволив військовим частинам напряму мобілізувати добровольців" (ukrainisch)
- suspilne.media: "Вигнали ТЦК на ринку '7 км': в Одесі стався конфлікт між цивільними та військовими" (ukrainisch)
- france24.com: "Ukrainian defences in Donbas risk getting steamrolled by Russian advance" (englisch)
- newsukraine.rbc.ua: "Mobilization of youth under 25: Ukraine's new initiative explained" (englisch)
- pravda.com.ua: "Russia bombards Ukraine's south; Black Sea navigation is under threat" (englisch)
- reuters.com: "Ukraine's steelmakers fret as Russians advance towards key coal mine" (englisch)
- antikor.com.ua: "В Краматорске подорвали автомобиль военного ВСУ, его госпитализировали в тяжёлом состоянии" (ukrainisch)