Mutter sucht vermissten Soldaten Vom Einsatz an der Südfront kam er nicht mehr zurück
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Tausende Ukrainer werden vermisst oder befinden sich in russischer Gefangenschaft. Angehörige drängen die Regierung dazu, mehr zu unternehmen, um ihre Geliebten nach Hause zu bringen – so auch Oksana Rotscheld.
Niklas Golitschek berichtet aus Odessa
Seit zehn Monaten fehlt von dem 25-jährigen Nikita Schowkolenko jede Spur – und die Angehörigen des ukrainischen Soldaten wollen wissen, was mit ihm passiert ist. Ihre ebenso zähe wie mühselige Recherche führte kaum zu Ergebnissen. Deshalb richtet sich der Frust zunehmend gegen die Institutionen und die Militärführung.
Ein Sonntagnachmittag Ende Oktober in Odessa: An der belebten Derybasiwska-Straße gleich am Stadtgarten versammeln sich bereits seit mehreren Wochen ab 16 Uhr Demonstranten, an diesem Tag sind es rund 200 Teilnehmer.
Auf Bannern tragen sie die Gesichter ihrer Angehörigen an die Öffentlichkeit. Mit Schildern erinnern sie unter anderem an die Soldaten der Brigade Asow. Nach dem erbitterten Kampf um das gleichnamige Stahlwerk bei Mariupol befinden sich noch immer zahlreiche Mitglieder in russischer Kriegsgefangenschaft.
In Militäruniform des vermissten Sohnes zur Demo
Unter die Demonstranten hat sich auch Oksana Rotscheld gemischt, sie ist die Mutter von Nikita Schowkolenko. Die 46-Jährige trägt die Militäruniform ihres Sohnes. Darauf sein Rufname "Kot" – Katze. Seine Stiefel sind sichtbar zu groß für sie.
Mit mehreren Freundinnen hält sie ein Banner in die Höhe. Sie wollen der Öffentlichkeit die Gesichter und Namen derjenigen in der 33. Mechanisierten Brigade zeigen, die eine freie Ukraine mit ihrem Leben verteidigen.
Inga Schowkolenko erinnert sich an ein Zitat ihres Ehemanns, dass ihr gemeinsamer Sohn unter einem "sicheren Himmel" aufwachsen solle. Einen Himmel, durch den nicht immer wieder russische ballistische Raketen und Drohnen fliegen, um Ziele in der Hafenstadt anzugreifen.
Bis zum 24. Februar 2022 führte die Familie ein glückliches Leben, wie Mutter und Schwiegertochter beschreiben. "Es war gut, fantastisch", bekräftigt die 26-jährige Schowkolenko.
Doch dieses Leben endete mit dem russischen Großangriff auf die Ukraine. Nikita Schowkolenko meldete sich noch am ersten Tag freiwillig bei der Armee, um sein Land zu verteidigen. Nach anderthalb Jahren führte er eine Einheit der 33. Brigade an. Von einem Einsatz am 10. Dezember 2023 im Zuge der Gegenoffensive an der Südfront bei Saporischschja kam er nicht mehr zurück.
So wie viele andere. Anfang des Jahres 2024 sprach die Ukraine von mehr als 8.000 Ukrainern in russischer Gefangenschaft, darunter 1.600 Zivilisten. Die Zahl dürfte mittlerweile noch höher liegen.
"Das ist sehr grausam"
Für die beiden Familienangehörigen wird das Warten auf Informationen zur Qual. Seit Dezember hätten sie nur lückenhafte Informationen bekommen, sagen sie.
Von einem Überlebenden der Operation und anderen Kameraden der Brigade erfuhren sie zumindest, was in der Nacht geschah. "In Vierergruppen sollten sie Schützengräben ausheben – unter konstantem Artilleriebeschuss und umgeben von russischen Schützen", beschreibt Mutter Oksana die Aufgabe. Den Befehl dazu halte sie für einen "kriminellen Akt".
Von einer Granate sei das Team getroffen worden, ab dann wird es unklar. Der einzige Rückkehrer sei zu traumatisiert gewesen, um Details zu nennen. Zwar habe Nikita leblos gewirkt, vielleicht geblutet. Seinen Tod hat der Familie bislang jedoch niemand bestätigt. "Jetzt ist es 50:50. Selbst wenn es weniger ist, werde ich weiter hoffen", bekräftigt die 46-Jährige. Und fügt hinzu: "Meine Hoffnung wird mit mir sterben."
Auch ihre Schwiegertochter, Inga Schowkolenko, will nicht vom Schlimmsten ausgehen. "Es hat eine Woche gebraucht, bis ich realisiert habe, dass er vielleicht in Gefangenschaft geraten ist", sagt Schowkolenko. Hinzu kommt, dass sie von offizieller Seite kaum Informationen erhalten hätten. "Die Regierung unternimmt nichts", kritisiert die 26-Jährige mangelnde Bemühungen von Kiew.
Der Frust richtet sich auch gegen das Internationale Rote Kreuz, das seinerseits keinen umfassenden Zugang zu Kriegsgefangenen erhält. Auf beiden Seiten hat es bisher lediglich 3.500 Kriegsgefangene besucht. Während die eine Seite also im Zweifel keine Auskunft geben kann, steht die andere hilf- und machtlos da. "Niemand wollte mit uns reden", kritisiert Oksana Rotscheld.
Ihre Sorgen seien zunächst heruntergespielt worden. Mit der Zeit habe sich der Eindruck verfestigt, dass sich die Ukraine nur wenig um das Schicksal der Angehörigen bemühe. "Für sie sind das nur Zahlen. Aber für uns ist das Familie: Töchter, Söhne, Ehemänner, Ehefrauen. Das ist sehr grausam", sagt Rotscheld.
Angehörige vermisster und gefangener Soldaten vernetzen sich
Über die Monate vernetzten sich die beiden Angehörigen mit anderen Betroffenen. Eine solche Gruppe in den sozialen Medien zählt mittlerweile mehr als 700 Mitglieder. Weil Petitionen an Parlament und Präsidialamt ebenso ergebnislos geblieben seien wie Treffen mit den zuständigen Regierungsinstitutionen, haben sich Inga Schowkolenko und die anderen Angehörigen nun an die EU-Kommission gewandt.
Mitte Oktober brachten sie für einen Protest in Kiew 3.000 Menschen auf die Straße. Diese Netzwerkarbeit habe für sie therapeutischen Charakter. "Ich habe eine neue Aufgabe gefunden", sagt die 26-Jährige über ihr Engagement für andere Angehörige.
Die Hoffnung, dass Nikita Schowkolenko noch leben könnte, wollen die beiden jedenfalls nicht aufgeben. Dank Vermittlung durch Katar erhielt die Ukraine jüngst Listen vermisster Soldaten und Briefe von Kriegsgefangenen an ihre Angehörigen. Immer wieder tauchen vermisste Soldaten lebend auf, teilweise auch bei Gefangenenaustauschen mit Russland.
Russland foltert Gefangene
Doch selbst in russischer Gefangenschaft sind Ukrainer nicht vor Kriegsverbrechen geschützt. "Fast jeder einzelne der ukrainischen Kriegsgefangenen, die wir interviewten, beschrieb, wie russische Soldaten oder Beamte sie während ihrer Gefangenschaft gefoltert haben", sagte Danielle Bell, Leiter der Menschenrechtsbeobachtungsmission der Vereinten Nationen in der Ukraine (HRMUU), im März 2024. Zwischen Dezember und Februar hatte die Gruppe mit 60 befreiten Kriegsgefangenen gesprochen.
Zu den Foltermethoden zählten laut den Menschenrechtlern etwa Elektroschocks, Schläge oder Scheinhinrichtungen. Mehr als die Hälfte von ihnen war sexueller Gewalt ausgesetzt, so HRMUU. Zudem sprach die Organisation von "glaubwürdigen Anschuldigungen" über mindestens 32 Exekutionen allein in diesem Zeitraum.
Für Schowkolenko gab es in der Zwischenzeit noch einen Hoffnungsschimmer in ihrer verzweifelten Lage. "Nikitas Handy war am 13. April mit dem Netz verbunden – in den besetzten Gebieten", erzählt sie. Was das genau bedeutet: offen.
Mitarbeit: Sergey Panashchuk
- Besuch der Demonstration in Odessa
- Gespräch mit Oksana Rotscheld
- Gespräch mit Inga Schowkolenko
- UN: "UN Says Russia Continues to Torture, Execute Ukrainian POWs" (englisch)
- ICRC: "Russia–Ukraine international armed conflict: Your questions answered about the ICRC’s work" (englisch)
- Interfax: "Понад 8000 українців перебувають у російському полоні, включно з цивільними - Координаційний штаб" (ukrainisch)
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