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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine Die Luft für Putin wird dünner
Die ukrainische Armee greift in der Region Charkiw massiv an, um die russischen Truppen zurück auf Russlands Staatsgebiet zu drängen. Bei den Kämpfen erleiden beide Seiten schwere Verluste, aber ist das vielleicht Wladimir Putins Plan?
Es ist eine Woche, die erneut zeigt, dass durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine die meisten Brücken zwischen Russland und dem Westen abgebrannt sind. Am Donnerstag feierten viele Staaten die Landung der Alliierten in der Normandie vor 80 Jahren. Nicht eingeladen: Kremlchef Wladimir Putin.
Dafür reiste der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach Frankreich, sprach mit US-Präsident Joe Biden, bekam von Frankreich eine Zusage über die Lieferung von Mirage-Kampfflugzeugen. Kommenden Dienstag wird Selenskyj dann im Bundestag sprechen, dort stehen, wo Putin 2001 stand, als er für den Westen noch als Hoffnungsträger galt.
Der russische Präsident reagierte schon im Vorfeld verschnupft auf die Feierlichkeiten des D-Days. Diejenigen, die die Rolle der Sowjetunion beim Sieg über Nazi-Deutschland nicht berücksichtigen, seien "gewissenlose Menschen", sagte Putin beim Internationalen Wirtschaftsforum (Spief) in Sankt Petersburg vor Journalisten am Mittwoch. Als er gefragt wurde, ob Russland plane, die Nato anzugreifen, ließ der Kremldespot seinem Zorn freien Lauf. "Sind Sie so dumm wie dieser Tisch?", beleidigte Putin den Fragesteller. "Das ist Unsinn, verstehen Sie. Bullshit." Russland habe im Gegensatz zum Westen keine "imperialen Ambitionen".
Der Wahrheitsgehalt dieser Frage ist begrenzt.
Seit Putins Wutausbruch fliegen noch immer russische Granaten auf ukrainische Städte. Am Donnerstag kündigte Russland an, dass ein russisches Atom-U-Boot und ein Raketenkreuzer kommende Woche in Kuba eintreffen werden. Mit diesem Muskelspiel möchte Moskau vor allem eine Botschaft in Richtung Westen schicken: Wenn ihr der Ukraine erlaubt, mit westlichen Waffen Russland anzugreifen, unterstützen wir Staaten, die euch angreifen wollen. Putin nennt das eine "asymmetrische Antwort". Doch wahrscheinlich handelt es sich eher um eine Drohgebärde, denn es ist schwer vorstellbar, dass nun Kuba die USA angreifen wird.
Putins nervöse Reaktion zeigt, dass die jüngsten westlichen Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine Wirkung zeigen. Ukrainische Angriffe auf Ölraffinerien und Militärstützpunkte in Südrussland, Luftalarm in Belgorod, brennende Militärkonvois auf russischem Staatsgebiet und Kremltruppen, die in der ukrainischen Stadt Wowtschansk in der Falle sitzen. Ist das die Wende in diesem Kriegsjahr?
Zumindest haben die westlichen Waffenlieferungen dafür gesorgt, dass die ukrainische Armee wieder verteidigungsfähig ist. Das macht sich allgemein bei militärischem Gerät bemerkbar, insbesondere verfügt die Ukraine nun aber über mehr Artilleriemunition. Das macht es den russischen Angreifern aktuell deutlich schwerer, Geländegewinne zu erzielen.
Die ukrainische Armee ist allerdings nicht in der Offensive. Militärexperten erwarten im Jahr 2024, dass es für Kiew eher darum geht, Stand zu halten. In den kommenden Monaten müsste die Ukraine zunächst einmal wieder hochgerüstet werden, um die Ausfälle der vergangenen Kriegsmonate durch die Lieferverzögerungen im Westen zu kompensieren. Es benötigt also Zeit und weitere Unterstützung, bis die ukrainische Armee wieder angriffsfähig wäre.
Russland hat in dem Krieg aktuell die Initiative – verfügt also über mehr Reserven an Soldaten, Material und vor allem Munition. Aus dieser Not heraus hat der Westen reagiert und der Ukraine Angriffe auf grenznahes Staatsgebiet der Russischen Föderation erlaubt. Diese Einschränkung nahm US-Präsident Joe Biden noch einmal am Donnerstag vor: Es ist der Ukraine auch weiterhin nicht erlaubt, mit US-Waffen zum Beispiel Moskau anzugreifen.
Trotzdem treffen die ukrainischen Angriffe auf Ziele in Grenznähe schon jetzt Russland ins Mark. Truppen des Kremls können sich im Raum Belgorod nicht länger versammeln, ohne Angriffe befürchten zu müssen. Durch Attacken auf Raffinerien schafft es die Ukraine, der russischen Kriegswirtschaft Schaden zuzufügen. Denn der Ölexport bleibt die wichtigste Einnahmequelle für Putin und seinen Krieg.
Hinzu kommt: All das wird von russischen Bloggern und Fernsehsendern dokumentiert. Bilder und Videos von Angriffen erreichen nun noch viel einfacher die russische Bevölkerung. Das Narrativ des Kremls von der "Spezialoperation" ist jetzt noch weniger glaubwürdig. Der Krieg kommt immer mehr in Russland an – und das macht Putin, der seiner Bevölkerung lange Zeit Normalität vorgaukelte, auch innenpolitisch angreifbar.
Konkrete Folgen auf die operative Kriegsführung haben die gegenwärtigen Entwicklungen aber nicht. Es ist keine Kriegswende für die Ukraine, sondern eine Tendenz, dass das Land wieder mehr Möglichkeiten hat, die russischen Truppen zurückzudrängen.
Das macht sich besonders im Raum Charkiw bemerkbar. Dort hält Russland seit Anfang Mai einen Brückenkopf. Die Ukraine schickt hier Tausende Soldaten und viel Material in die Schlacht, um Russland über die ukrainisch-russische Grenze zurückzudrängen. Genaue Opferzahlen veröffentlichen beide Seiten nicht, aber sie werden hoch sein. Denn die ukrainischen Truppen greifen seit Tagen massiv an und Russland hat den strategischen Vorteil, im Mai eine Verteidigungslinie der Ukrainer überwunden und einen Teil der Stadt Wowtschansk eingenommen zu haben.
Allein in Wowtschansk sollen laut Experten circa 2.000 russische Soldaten ausharren. Die Stadt ist völlig zerstört, Putin hat die Opferung seiner Soldaten dort scheinbar schon eingepreist. Sie sollen ausharren und der vorrückenden ukrainischen Armee so große Verluste wie möglich zufügen. Denn mit Drohnen und Gleitbomben bietet sich dort für Russland auch die Möglichkeit, westliche Technologie auszuschalten. Denn die vorrückenden Einheiten in Grenznähe sind für Russland einfachere Ziele, wie aktuelle Videos aus der Region dokumentieren.
Aber Moskau hatte wahrscheinlich ohnehin nicht damit gerechnet, bei dieser Mai-Offensive die ukrainische Millionenstadt Charkiw einzunehmen. Es ging für Putin laut Experten darum, ukrainische Kräfte zu binden, um im Oblast Donezk weitere Geländegewinne zu erzielen. Vor allem im Raum Taschissiw Jar, Bachmut und Awdijiwka wird weiterhin heftig gekämpft. Aber auch dort kommt die russische Armee immer langsamer voran, vor allem, weil die Ukraine mehr Artilleriemunition hat.
Ob Putins Strategie also aufgeht, ist momentan durchaus zweifelhaft. Denn die ukrainischen Angriffe auf russisches Staatsgebiet binden russische Reserven und stören vor allem Logistikwege. Vielleicht kam die Welle an westlichen Unterstützungen für die Ukraine zeitlich gerade richtig, um Schlimmeres für die ukrainischen Verteidiger im Angesicht dieser Sommeroffensive zu verhindern. Das nährt wiederum den Zorn von Wladimir Putin, der trotz Überlegenheit im Jahr 2024 kaum militärische Erfolge erzielen konnte. Und nun kommen die F-16- und Mirage-Kampfjets, die die ukrainischen Fähigkeiten in den kommenden Monaten noch einmal erweitern werden. Das wird Putin weiter unter Druck setzen – auch seitens der russischen Nationalisten und Militärblogger, die endlich militärische Erfolge sehen wollen.
- Nachrichtenagenturen dpa und Reuters
- Eigene Recherche