Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was droht jetzt Europa? Der Untergang der alten Welt

Der Eklat im Weißen Haus schürt die Sorge um die Zukunft der Ukraine. Und um die Zukunft Deutschlands. Die Politik kommt uns jetzt ganz nahe.
Vor laufenden Kameras haben Donald Trump und J. D. Vance den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Oval Office gedemütigt. Wir haben zugeschaut, wir waren Voyeure einer politischen Hinrichtung. Die meisten von uns haben diese Szenen als unerhört empfunden. Ich fand sie obszön. Eine kalte Demonstration der Macht, brutal und gnadenlos.
Am Tag danach hat mich meine Schwester angerufen, eine grundvernünftige, lebenstüchtige Frau aus dem Ruhrgebiet. Sie konnte nicht schlafen, nachdem sie abends im Fernsehen diese Bilder gesehen hatte. Sie kann überhaupt schlecht schlafen, wenn sie in den "Tagesthemen" Bilder des Krieges sieht, Menschen auf der Flucht, egal ob in Charkiw oder in Gaza. Anette, meine Schwester, stellte mir eine einfache Frage: Kann uns das auch passieren? Krieg, Verlust der Heimat, Kampf ums nackte Überleben?

Zur Person
Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, bei t-online erscheint jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman". mehr
Ich habe einen engen Freund, der politisch völlig anderer Auffassung ist als ich. Wir streiten uns wie die Wrestler im Käfigkampf – also heftig, aber voller Respekt. Er schrieb mir nach dem Eklat im Weißen Haus: "Ich habe Angst, die Schlafwandler sind wieder unterwegs." Die Schlafwandler, so nannte der Historiker Christopher Clark die Politiker, die Anfang des 20. Jahrhunderts in den Ersten Weltkrieg taumelten. Trump hielt Selenskyj vor, er riskiere gerade den Dritten Weltkrieg. Werner, mein Freund, will Frieden – wie Donald Trump. Ich will auch Frieden, aber nicht wie Donald Trump.
Ein anderer Freund hat in der DDR im Knast gesessen. Wegen "öffentlicher Herabwürdigung", weil er als junger Wehrpflichtiger Flugzeuge, die wehrlose Menschen bombardierten, Mordvögel nannte. Ich dachte, ein Mann mit seiner Biografie müsste Putin hassen. Aber Stefan, mein Freund, sucht die Schuld für den Krieg in der Ukraine eher bei der Nato. Und bei den Amerikanern. Selenskyj findet er übergriffig. Bei Trump verschlägt es ihm die Sprache. Mir auch.

Meine engste Vertraute hat kein Verständnis für Leute, die jetzt die Schuld bei Selenskyj suchen: Er sei nicht diplomatisch gewesen, Macron sei geschickter mit Trump umgegangen. Sie findet zwar auch, Selenskyj hätte besser ganz ruhig bleiben, die Auseinandersetzung vor laufenden Kameras meiden sollen. Und einen Dolmetscher hinzuziehen, das bringt Zeit zum Überlegen. Aber Isabelle, meine Vertraute, spricht voller Hochachtung von diesem Mann, der wie ein Löwe für sein Volk kämpft. Stell dir vor, dein Chef ist so ein Rüpel wie Trump, sagt sie, er macht dich vor versammelter Mannschaft nieder. Kannst du dann deine Emotionen für dich behalten? Die versammelte Mannschaft war die Weltöffentlichkeit.
Ist Krieg eine reale Gefahr für unser Land?
Dieser Eklat im Weißen Haus hat etwas Verstörendes. Ich vermute, auch an Ihrem Küchentisch, im Büro, im Sportverein werden jetzt besorgte Fragen gestellt: Liefert Trump die Ukraine an Putin aus? Zerstört er die gesamte Weltordnung, auf der seit 80 Jahren unser Frieden und unser Wohlstand gründen? Sind wir aufgeschmissen ohne den großen Bruder von der anderen Seite des Atlantiks? Ist der Krieg, der meinen Eltern und Ihren Großeltern die Jugend geraubt hat, wieder eine reale Gefahr für unser Land?
Lassen Sie uns die Lage so kühl wie nur möglich analysieren. Angst und Empörung vernebeln den Blick, Polemik hat in dieser politischen Betrachtung keinen Platz.
Zuerst die Lage in der Ukraine. Trump ist ein belastbares Verhältnis zu Putin offenkundig wichtiger als die staatliche Souveränität der Ukraine. Er will und wird mit dem Autokraten im Kreml einen Frieden aushandeln. Ein Friedensdiktat. Die Ukraine und ihre europäischen Verbündeten werden vor vollendete Tatsachen gestellt, sie sollen die Realitäten anerkennen. Trump hat die Macht, diesen Plan durchzusetzen, indem er die Militärhilfe für die Ukraine einstellt. Zumindest kurzfristig sind die Europäer nicht in der Lage, in die Bresche zu springen. Vor allem fehlen ihnen militärische Hightech-Fähigkeiten, die Amerika im westlichen Bündnis exklusiv hat.
Wird Putin seine imperialen Pläne weiterverfolgen?
Wenn es dazu kommt, dass die Waffen schweigen, ist das grundsätzlich eine gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass der Aggressor Putin den Status quo festschreiben kann: Auf Jahre, wenn nicht auf Jahrzehnte hinaus werden Donezk und Luhansk russische Städte sein. Die Krim wird dauerhaft zu Russland gehören. Die Forderung vieler Europäer, die Ukraine müsse diesen Krieg gewinnen, hat sich erledigt.
Wird Putin seine imperialen Pläne, über die er seit Jahren ganz offen spricht, konsequent weiterverfolgen? Richtet er seinen Blick nach Moldau oder Georgien? Oder ins Baltikum? Und vor allem diese Frage stellt sich für uns: Ist Putins Russland eine konkrete Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands?
Die Antwort auf die letzte Frage ist eindeutig: nein. Der Krieg steht nicht vor unserer Tür. Schon, weil Putin die militärischen Fähigkeiten nicht hat, einen großen Krieg in Europa zu führen. Als er vor drei Jahren die Ukraine überfiel, nannte er als Ziele seiner "militärischen Spezialoperation": die angeblichen Nazis in Kiew von der Regierung vertreiben, die Ukraine entmilitarisieren, das gesamte Land unter seine Kontrolle bringen. Was hat er davon erreicht? Die russische Armee kontrolliert nicht einmal die Provinzen im Osten vollständig, die Moskau offiziell bereits annektiert hat. Mutmaßlich mehr als 100.000 Soldaten hat Putin auf dem Schlachtfeld verloren, er ließ sich Raketen-Nachschub von den Mullahs im Iran liefern und Menschen-Nachschub aus Nordkorea. Das ist kein militärischer Erfolg.
Ohne Amerika existiert das Bündnis nicht
Wenn die Nato zusammensteht, wird Russland niemals einen Fuß auf ihr Territorium setzen. Die Nato ist das mit Abstand stärkste Militärbündnis der Welt, einen besseren Schutz kann sich Deutschland eigentlich nicht vorstellen. Eigentlich. Voraussetzung ist, dass es die Nato noch gibt. Ohne Amerika existiert das Bündnis nicht. Trump verweigert der Ukraine die Sicherheitsgarantien, die Selenskyj im Weißen Haus erreichen wollte. Würde er Europa noch jenen Beistand gewähren, zu dem sich die USA im Nato-Vertrag verpflichtet haben?
Diese Frage können wir nicht mehr eindeutig mit Ja beantworten. Nicht, solange Trump regiert, also in den nächsten drei Jahren, zehn Monaten und 15 Tagen. Und danach? Heißt der US-Präsident vielleicht J. D. Vance. Oder Elon Musk.
Das heißt: Wir müssen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. Wir, die Deutschen. Wir haben unsere Sicherheit bisher den Amerikanern anvertraut. Wir, die Europäer. Wir haben unsere finanziellen und militärischen Verpflichtungen in der Nato sträflich vernachlässigt. Europa hat den Markt für Schweinefleisch gemeinsam reguliert, sich auf Standards für die Zulassung von Küchenmaschinen verständigt und den Zuckergehalt in der Marmelade geregelt. Nur in der Verteidigung hat jeder sein eigenes Ding gemacht.
Merz und Klingbeil sind gefordert
In Deutschland sind Merz und Klingbeil gefordert. Ihr Job ist es, eine ganz klare Priorität für die nächste Bundesregierung zu setzen: die Sicherheit Deutschlands. Wer jetzt erst einmal wochenlang über Schuldenbremse, Bürgergeld oder Ministerposten streiten will, disqualifiziert sich noch vor dem Amtsantritt als Führungskraft für unser Land.
Emmanuel Macron, Donald Tusk, Keir Starmer, Friedrich Merz – diese vier werden die Führung in Europa übernehmen müssen, wenn der alte Kontinent sich von Amerika emanzipiert. Das wird nicht von heute auf morgen gehen, aber Zieldatum kann nicht mehr der Sankt Nimmerleinstag sein. Fünf bis zehn Jahre haben die Europäer, um sich auf eine neue Weltordnung vorzubereiten, von der heute niemand weiß, wie sie aussehen wird.
Vorerst haben wir eine neue Welt-Unordnung. Das ist kein guter Zustand. Aber ein Zustand, der auch sein Gutes hat: Deutschland wird nach den bequemen Merkel-Jahren und den verlorenen Ampel-Jahren mit der Realität konfrontiert. Und Europa war immer in der Krise stark. Zuletzt in der Finanzkrise vor fünfzehn Jahren, als der Westen nicht militärisch, sondern wirtschaftlich in einen Abgrund blickte. Whatever it takes – mit allen Mitteln, das war die Losung und die Lösung des Problems. Jetzt ist es wieder so weit.
Sicherheit, mit allen Mitteln. Damit meine Schwester ruhig schlafen kann. Damit ich mit meinen Freunden wieder unbeschwert über die richtige Politik streiten kann. Damit uns alle nicht wieder ein Eklat im Weißen Haus beunruhigt. Meine Vertraute hat übrigens noch einen sehr praktischen Vorschlag: Wie wär's, wenn Merz und Macron demnächst gemeinsam nach Washington reisten? Sie könnten Selenskyj in ihre Mitte nehmen. Mit Ihren Freunden machen Sie es bestimmt auch so.