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Ukraine: Hunderte Kriegsgefangene nach Rückzug aus Awdijiwka befürchtet


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Chaotischer Rückzug
Hunderte Soldaten gefangen genommen


Aktualisiert am 21.02.2024Lesedauer: 4 Min.
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Putins Offensive: Diese Animation zeigt, wo Russland jetzt vorstoßen könnte. (Quelle: t-online)
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Die ukrainische Armee hat sich aus Awdijiwka zurückgezogen. Dabei sollen Hunderte Soldaten gefangen genommen worden sein. Das könnte die Moral der Truppe erheblich treffen.

Die Kämpfe rund um die ukrainische Stadt Awdijiwka gefährden die Moral der ukrainischen Truppe und könnten sich als bedeutender symbolischer Verlust für die Ukraine herausstellen, befürchten US-amerikanische Experten. Erste Schätzungen gehen davon aus, dass nach dem Rückzug aus der umkämpften Stadt 850 bis 1.000 ukrainische Soldaten von Russland gefangen genommen wurden oder vermisst werden. Das berichtet die "New York Times" unter Berufung auf zwei ukrainische Soldaten, die mit dem Abzug der Ukraine aus Awdijiwka vertraut sind. Westliche Offizielle hielten diese Spanne für korrekt.

Hinzu kommen nicht bestätigte Videos in sozialen Netzwerken, die zeigen sollen, wie russische Streitkräfte ukrainische Soldaten in der Stadt und ihrer Umgebung hinrichten. Wie viele ukrainische Soldaten so getötet worden sein sollen, ist unklar. Die Staatsanwaltschaft der ostukrainischen Region Donezk hat die Ermittlungen dazu aufgenommen.

Militärführung spricht von "einigen" Gefangenen

Die ukrainische Militärführung hat zwar eingeräumt, dass beim Rückzug aus Awdijiwka einige Soldaten gefangen genommen wurden. Genaue Zahlen nannte sie allerdings nicht. General Oleksandr Tarnawski, der Befehlshaber der ukrainischen Streitkräfte in dem Gebiet, schrieb am Samstag auf dem Kurznachrichtendienst Telegram, dass der Rückzug nach Plan verlaufen sei, aber "in der letzten Phase der Operation, unter dem Druck der überlegenen Kräfte des Feindes, gerieten einige ukrainische Soldaten in Gefangenschaft". Angaben darüber, wie viele Soldaten gefangen genommen wurden, machte er nicht.

Tarnawskis Sprecher, Dmytro Lykhovii, bestritt Berichte, wonach Hunderte von Soldaten gefangen genommen worden seien, und bezeichnete sie als Fehlinformationen. Er räumte jedoch ein, dass Russland einige Soldaten gefangen genommen habe und dass eine "gewisse Anzahl" von Soldaten vermisst werde.

Sollten die Zahlen der beiden Soldaten hingegen annähernd stimmen, würde das die Anzahl der ukrainischen Kriegsgefangen um rund ein Viertel erhöhen. Im November hatte die ukrainische Regierung angegeben, dass Russland 3.574 ukrainische Militärangehörige gefangen halte.

Soldaten machen Führung Vorwürfe

Die Aussagen der Militärführung stehen dem Bericht der "New York Times" von einem chaotischen Rückzug gegenüber. Awdijiwka war auf drei Seiten von russischen Einheiten umstellt, als einziger Weg führte eine asphaltierte Straße in die Stadt, von den Ukrainern auch "Straße des Lebens" genannt. Als diese Anfang des Monats ebenfalls bedroht wurde, wurde ein Rückzug noch gefährlicher. In der vergangenen Woche schrieb der Kommandeur der Dritten Brigade, Andrij Biletskyi, über die Lage vor Ort auf Telegram: "Es ist die Hölle." Die Situation sei "bedrohlich und instabil".

Einige Soldaten und auch westliche Beamte sehen einen direkten Zusammenhang zwischen dem ungeordneten Rückzug und der hohen Anzahl an Gefangenen. Die "New York Times" berichtet unter Berufung auf ukrainische Soldaten, dass die ukrainische Armee nicht auf die Geschwindigkeit vorbereitet gewesen sei, mit der Russland den Vormarsch auf Awdijiwka vorangetrieben habe. Auch der Einsatz von Spezialeinheiten und der dritten Elitebrigade habe daran wenig ändern können.

Dazu komme ein generelles Problem der ukrainischen Armee, schreibt die "New York Times": Die ukrainischen Truppen hätten Schwierigkeiten, untereinander zu kommunizieren. Sie verfügten nicht über einheitliche Funkgeräte, was die Abstimmungen vor Ort erheblich erschwert habe. Vielen ukrainischen Soldaten wurde das offenbar zum Verhängnis.

Experten uneins über Bedeutung

Noch ist unklar, wie sich der Rückzug aus Awdijiwka und seine Folgen auf die Kriegsstrategie der Ukraine auswirken. US-amerikanische Experten schätzen zwar, dass der Verlust von Awdijiwka nicht zwangsläufig zu einem Zusammenbruch der ukrainischen Linien führen werde. Doch über die strategische Bedeutung von Awdijiwka herrscht unter Beobachtern Uneinigkeit. Dabei geht es vor allem darum, inwiefern die Stellung in Awdijiwka Russland ein weiteres Vordringen in den Norden, etwa zur Stadt Kupjansk, ermöglicht.

"Strategisch gesehen ist Awdijiwka unbedeutend", urteilt Ivan Klyszcz vom Internationalen Zentrum für Verteidigung und Sicherheit (ICDS) in Estland. Die Stadt wäre allerdings ein guter Ausgangspunkt für eine ukrainische Offensive zur Befreiung der Stadt Donezk gewesen, sagt Gustav Gressel von der Denkfabrik European Council on International Relations (ECFR) in Berlin. Die Ukraine werde jedoch erst frühestens in zwei Jahren zu einem solchen Vorstoß in der Lage sein. "Es hat also keinen Sinn, jetzt Soldaten zu opfern", sagt Gressel.

Der US-amerikanische Thinktank Institute for the Study of War (ISW) geht davon aus, dass Russland nach dem Einnehmen von Awdijiwka zunächst eine Verschnaufpause einlegen muss. Nach Angaben hoher ukrainischer Beamter erlitten die russischen Streitkräfte in der Schlacht ebenfalls schwere Verluste. In den vier Monaten, in denen um Awdijiwka gekämpft wurde, soll Russland demnach 17.000 Soldaten verloren haben, weitere 30.000 sollen verwundet worden sein. Zunächst hatte die britische Zeitung "The Independent" berichtet.

Video | Russen brauchen "operative Pause" an der Front bei Awdijiwka
Quelle: Glomex

Schwierige Lage für neuen Armeechef

Unabhängig von der strategischen Bedeutung Awdijiwkas ist die Einnahme des Ortes der größte militärische Erfolg für Russland seit der Einnahme von Bachmut im Mai 2023, schreibt das ISW. Er mache die deutliche Überlegenheit der russischen Armee an Soldaten, Artilleriegranaten und erstmals auch in der Luft klar. Demnach setzten die russischen Truppen Hunderte Gleitbomben mit einem Gewicht von bis zu 1,5 Tonnen ein, abgefeuert von Flugzeugen aus einer Entfernung von bis zu 70 Kilometern. Damit zerstörten sie ukrainische Verteidigungsstellungen in ehemaligen Fabriken ebenso wie zivile Häuser.

Russlands Präsident Wladimir Putin forderte, den Erfolg auf dem Schlachtfeld fortzusetzen; er will das Militär weiter ausbauen. Nach Angaben seines Verteidigungsministers Sergej Schoigu geht die russische Offensive weiter, die Truppen bewegten sich nach Westen.

Die Kombination aus einem chaotischen Rückzug und einer hohen Anzahl an Kriegsgefangenen dürfte in der ukrainischen Armee Verunsicherung auslösen und könnte zu schwindender Moral führen, zitiert die "New York Times" US-amerikanische Beamte – eine potenziell schwierige Situation für den neuen ukrainischen Armeechef Oleksandr Syrskyj. Erst vor gut einer Woche hatte ihn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zum Nachfolger des vorherigen Armeechefs Walerij Saluschnyj ernannt. Beobachter hatten Awdijiwka dabei als die erste Herausforderung für Syrskyj bezeichnet. Die Kritik und Verunsicherung in den Reihen der Soldaten nach dem nun erfolgten Rückzug stellen somit einen ersten Rückschlag dar.

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