Alles, überall, zur gleichen Zeit Selenskyjs Reisewarnung für Putin
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.In seiner Not muss Wolodymyr Selenskyj sich zweiteilen: Zu Hause wird er gebraucht für den Start der Gegenoffensive. Im Ausland muss er für seinen Ukraine-Kurs werben.
"Everything, everywhere, all at once" – der Titel des bekannten Oscar-Gewinner-Films passt gut zum aktuellen Reiseverhalten des ukrainischen Präsidenten. Wolodymyr Selenskyj scheint derzeit überall gleichzeitig zu sein, denn es geht 2023 im Abwehrkampf gegen Russland um alles.
London, Paris, Helsinki, Den Haag, Berlin, Aachen, Rom und Vatikanstadt – in keinem Jahr flog Selenskyj so viel umher wie in diesem. Im Gepäck hat er, wie schon lange, vor allem Forderungen, wie beispielsweise die Lieferung von Kampfjets durch den Westen.
Am Freitagmorgen überraschte Selenskyj die Welt dann sogar mit einem Besuch in Dschidda, Saudi-Arabien, wo der Präsident auf Einladung an einem durchaus umstrittenen Treffen der Arabischen Liga teilnahm. Gleich im Anschluss flog er weiter ins japanische Hiroshima, um auch beim Gipfel der G7-Staaten dabei zu sein. Weitere Stationen sollen demnächst auch Indien, Israel und Brasilien sein. Warum aber ist Selenskyj plötzlich überall?
Riskante Reisen gegen Russland
Obwohl solche Reisen mitten im Krieg riskant sind, sieht sich Wolodymyr Selenskyj offenbar genötigt, auf globale Werbetour zu gehen. Ermutigt von den USA und den übrigen Nato-Verbündeten, wirkt der Präsident der Ukraine in diesem Jahr international besonders präsent. Ausgehen soll davon vor allem ein Zeichen der Stärke. Der persönliche Kontakt, auch mit heiklen Staats- und Regierungschefs, ist wichtig.
Aus den vielen Trips spricht aber auch eine gewisse Not. Die Welt wird zunehmend kriegsmüde, besonders jene Staaten, die nicht direkt in den Konflikt involviert sind. Die ukrainische Gegenoffensive kommt nur schleppend in Gang. Viele Chancen, die russischen Truppen zu schlagen, bleiben nicht. Auch damit die Stimmung nicht kippt, ist Selenskyjs Anwesenheit jetzt nötig – im Inland, aber vor allem auch im Ausland.
Völker, hört die Signale
Seine Besuche in den Ländern Europas in den vergangenen Wochen und Monaten galten vor allem dem Werben um den Beitritt zur Europäischen Union und zum Nato-Bündnis sowie der Aufrechterhaltung der intakten Beziehungen. Die Geschlossenheit der Verbündeten zu präsentieren, inklusive der Karlspreis-Verleihung an Selenskyj und das ukrainische Volk, war gewissermaßen die Vorbereitung für den Rest der Welt.
Die soll nach dem Willen der Ukraine, der USA und der europäischen Staaten nicht ins Zweifeln kommen, dass es dem Westen unvermindert ernst ist mit der Unterstützung von Selenskyjs Land.
Überraschender ist hingegen die Einladung Selenskyjs auf Bitten des Gastgebers Saudi-Arabiens in Dschidda, beim Treffen der Arabischen Liga. Geflogen wurde er von der französischen Luftwaffe. Die dortige Anwesenheit des ukrainischen Präsidenten wirkt wie die Neutralisierung der ebenfalls zum ersten Mal seit Langem wieder ausgesprochenen Einladung des Massenmörders und Putinkumpels, des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Die arabischen Staaten zeigen mit ihren symbolischen Schachzügen, dass sie ihre eigene politische Agenda haben und sich keinen Großmachtinteressen unterordnen wollen.
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Die Chancen stehen gut für die Ukraine
Sein allererster Besuch in Saudi-Arabien gelte der Stärkung der bilateralen Beziehungen mit dem Königreich und der Beziehungen der Ukraine zur arabischen Welt. Selenskyj warb für den Abwehrkampf gegen Russland und für Energiezusammenarbeit. Er twitterte: "Das Königreich Saudi-Arabien spielt eine wichtige Rolle und wir sind bereit, unsere Zusammenarbeit auf eine neue Ebene zu heben."
In seiner Rede vor der Arabischen Liga kritisierte Selenskyj, dass einige arabische Führer die Augen vor der russischen Invasion verschließen würden. "Leider drücken einige auf der Welt und hier in Ihrem Kreis ein Auge zu", sagte er. Dann dankte er dem saudischen Kronprinzen für die Unterstützung der "territorialen Integrität" der Ukraine. Bei seiner Abreise schrieb er, dies sei "ein weiterer starker Tag für die Ukraine" gewesen.
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Die Chancen, dass Selenskyj im Nahen Osten Gehör findet, stehen nicht allzu schlecht. Ein so massiver Krieg, wie er von Russland gegen die Ukraine geführt wird, ist auch nicht im Interesse der arabischen Staaten. Die Hungerkrisen infolge der unterbrochenen und stets gefährdeten Getreideexporte haben Auswirkungen bis in die arabischen Länder und deren Anrainerstaaten. Russland nicht nur als Aggressoren, sondern auch als Destabilisatoren darzustellen, fällt in dieser Lage nicht allzu schwer.
Noch während Selenskyj zu Gast in Saudi-Arabien war, brach für ihn eine Erfolgsmeldung herein, die nicht zufällig genau zu diesem Zeitpunkt durch die USA verkündet worden sein dürfte. Der US-Präsident Joe Biden teilte den verbündeten G7-Staats- und Regierungschefs seine Pläne mit, ab sofort ukrainische Piloten an amerikanischen F-16-Kampfflugzeugen auszubilden. Es soll der erste Schritt sein, um in den kommenden Monaten schließlich auch Kampfjets an die Ukraine zu liefern. Hier lesen Sie mehr dazu.
Kampfjets für das wichtigste Gefecht
Selenskyj hatte sich für diesen Schritt seit Kriegsbeginn vor mehr als einem Jahr immer wieder eingesetzt. Jetzt sehen der Westen und die Führungsmacht USA den richtigen Zeitpunkt offenbar gekommen. Diese weitergehende Unterstützung entspricht der seit Langem auszumachenden Strategie der USA und ihrer Verbündeten: Durch Abwarten Putin so wenig wie möglich Anlass zu geben, den Westen als eskalierend darzustellen; wenn der russische Präsident sich aber nicht zurückzieht, den nächsten Schritt zu gehen, um den Druck zu erhöhen. Dafür spricht auch das drastische neue Sanktionspaket gegen Russland, das Joe Biden kurz zuvor schon gemeinsam mit den G7-Staaten verkündet hatte.
Die Schlinge um Russland und Putin soll sich weiter zuziehen. Der Westen will mit seinen Entscheidungen zeigen, dass ein Zurückweichen keine Option ist. Flankiert von Selenskyjs Reisen um die Welt zeigen die Verbündeten, wie ernst es ihnen nach wie vor ist.
Die Gegenoffensive der Ukraine muss aber auch gelingen, denn die zahlenmäßig nach wie vor stark unterlegene Armee kann gegen Putins Truppen nicht viele Versuche wagen. Jedes Gefecht könnte darum das letzte sein. Eine zusätzliche Unterstützung durch die ukrainische Luftwaffe würde das Gelingen eines Gegenschlags deutlich wahrscheinlicher machen. Eine Garantie dafür gibt es aber nicht.
Selenskyjs globale Schmeichel-Offensive wirkt dennoch wie eine Reisewarnung an Putin. Während der ukrainische Präsident sich und sein Land fast überall auf der Welt vernetzt wie keiner seiner Vorgänger, wirkt der Kremlchef isoliert wie nie, geschützt lediglich noch von seinen Nuklearwaffen, deren Einsatz ihm Länder wie Indien oder China aber nicht gestatten wollen.
- Eigene Recherchen
- apnews.com: "Biden endorses F-16 training for Ukrainians as Zelenskyy set to take part in G7 summit" (englisch)
- Twitter-Account von Wolodymyr Selenskyj (englisch)
- npr.org: "Zelenskyy arrives at Arab League summit, as Saudi Arabia flexes diplomatic muscle" (englisch)
- thenationalnews.com: "Zelenskyy makes surprise appearance at Arab League summit as Syria's Al Assad returns" (englisch)
- wsj.com: "Zelensky Travels to Saudi Arabia to Address Arab Leaders With Close Russia Ties" (englisch)
- axios.com: "Zelensky attends Saudi-hosted Arab summit before heading to Japan for G7" (englisch)