t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikTagesanbruch

Russland: Putin entfacht Wehrpflicht-Debatte in Deutschland


Tagesanbruch
Das Horrorszenario im Hinterkopf


Aktualisiert am 20.03.2025 - 09:55 UhrLesedauer: 7 Min.
imago images 0807402423Vergrößern des Bildes
Was plant Wladimir Putin? Der russische Präsident ist zum Sinnbild europäischer Unsicherheit geworden. (Quelle: IMAGO/Valery Sharifulin/imago)
News folgen

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

es ist noch reichlich kühl heute Morgen hier in Berlin. Aber die Sonne strahlt, der Himmel ist blau und die Luft erfrischend. Ich würde Ihnen im Tagesanbruch gerne Dinge schreiben, die Sie und mich mit ähnlich positiver Energie aufladen wie dieser anbrechende Tag.

Leider liegen Schatten über der Zeit, in der wir leben, die mit der Sonne nichts zu tun haben. Was uns derzeit umtreibt – ich nehme an, auch Sie – sind schwere Themen. Gewichtige Fragen. Große Gefahren. Es scheint, als müssten wir uns immer mehr von dem Gefühl politischer und persönlicher Sicherheit verabschieden, mit dem die meisten von uns hier in Deutschland aufgewachsen sind.

Loading...
Symbolbild für eingebettete Inhalte

Embed

Alles bröckelt. Russland ist in der Ukraine auf einem Vormarsch, den die tapferen Landesverteidiger offenbar nicht mehr lange aufhalten können. Ein Grund dafür ist, dass die USA unter Präsident Donald Trump augenscheinlich nicht mehr gewillt sind, den Kampf der Ukrainer für ihre Freiheit zu unterstützen und sich Wladimir Putins Imperialismus entgegenzustellen. In der Ukraine ganz offensichtlich nicht, vielleicht aber auch nicht mehr, wenn der Diktator im Kreml nach dem Baltikum oder gar Polen greifen würde.

Bei einem russischen Angriff auf diese Mitgliedstaaten der Nato würde der Bündnisfall auch deutsche Soldaten zu den Waffen rufen. Eine solche Attacke hält beispielsweise der Militärexperte Carlo Masala für denkbar. Was dafür spricht, dass Putin einen solchen Schlag in Erwägung ziehen könnte, hat er meinem Kollegen Marc von Lüpke in diesem Interview erklärt. Im Hinterkopf anderer spielt sich sogar das Horrorszenario ab, Moskau könnte irgendwann Raketen in unsere Richtung abfeuern. Eigentlich nicht auszudenken. Leider können wir aber wohl nichts mehr völlig ausschließen.

Das wirft Fragen auf. Politische, finanzielle, militärische. Sie betreffen uns zunächst einmal als Wähler oder als Steuerzahler. Eine verteidigungspolitische Überlegung aber beschäftigt viele von uns in unserem tiefsten Inneren: die Frage nach der Wehrpflicht. Mich quält sie geradezu. Denn ich stehe vor einem Dilemma, das ich nicht auflösen kann.

Als Bürger kann ich sachlich das Für und Wider einer Wehrpflicht abwägen und komme zum Ergebnis: Ja, sie wird auf die eine oder andere Art und Weise notwendig sein. Die Bundeswehr ist nach der Einschätzung von Noch-Verteidigungsminister Boris Pistorius derzeit nicht "kriegstüchtig" – was für ein Wort. Sie braucht mehr Geld für mehr Waffen, auch für bessere, effektivere. Doch sie braucht auch mehr Menschen, die sie führen.

Derzeit dienen laut der Wehrbeauftragten Eva Högl gut 181.000 Frauen und Männer in der Bundeswehr. Auch sie macht sich für einen Wehrdienst stark, denn angepeilt ist eine Zielstärke von 203.000 Soldaten. Menschen, die bereit sein müssen, nötigenfalls zu kämpfen. Mit der Waffe in der Hand. Das leuchtet mir ein. Politisch. Als Bürger.

Persönlich möchte ich schreien. Ich habe drei Kinder. Mein Sohn ist neun Jahre alt. Wann immer ich an die Wehrpflicht denke, sehe ich einen blonden Rabauken vor mir, der Fußball spielt, versonnen am Klavier übt und den ich mindestens dreimal täglich in den Arm nehmen muss, weil er und ich das brauchen. In mir sträubt sich jede Faser gegen den Gedanken, er könnte irgendwann gezwungen sein, mit einem Gewehr in der Hand …

Einmal losgetreten, dreht sich die Gedankenspirale und nimmt auf unsere Gefühle keine Rücksicht: Wer bewahrt uns vor einer möglichen Bedrohung durch Russland (und/oder gar China?), wenn die USA, unser bisher wichtigster Partner, uns nicht mehr schützen wollen? Wenn damit die Nato vielleicht nicht mehr stark genug ist, um einen Gegner von außen abzuschrecken?

Die simple Antwort ist: nur wir selbst. Die EU-Kommission hat gestern ein Weißbuch der Verteidigung vorgestellt, das die Grundprinzipien einer europäischen Aufrüstung vorschlägt. In Brüssel treffen sich heute die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, um auszuloten, wie eine neue europäische Sicherheitsarchitektur aussehen kann. Die Bundesregierung in spe unter Friedrich Merz hat ein gigantisches Schuldenpaket auf den Weg gebracht, um neben anderem die Bundeswehr wieder "kriegstüchtig" zu machen.

Das alles wird wohl notwendig sein, und doch führt es mich zurück zu meinem Dilemma. Wenn mein Sohn tatsächlich gegen eine Bedrohung von außen kämpfen müsste, wen oder was verteidigt er dann? Ein Wertesystem? Seine Familie und Freunde? Sich selbst? Sein Land? Für welchen Zweck würde er sein Leben riskieren, das mir so viel kostbarer ist als alles, was ich gerade aufgezählt habe?

Mit diesem Zweck tue ich mich schwer. Die Begriffe "unseren Staat" und "unsere Nation" lösen wenig in mir aus. "Unsere Heimat" – das ist eigentlich ein schönes Wort, hätten es die Nazis im Dritten Reich nicht mit ihren Rassegedanken aufgeladen. Vielleicht ist "unser Platz auf dieser Welt" eine Idee, mit der ich mich anfreunden könnte. 122 Millionen Menschen weltweit mussten 2024 diesen "ihren Platz" verlassen, mussten in die Fremde fliehen. Wer wollte dieses Schicksal teilen? Und wo wollten wir auch hin?

"Unser Platz auf dieser Welt" heißt Deutschland. Er ist nicht perfekt, bei Weitem nicht. Seine Gesellschaft ist gespalten. Seine Wirtschaft ächzt, seine Preise steigen, die Schulden wachsen. Die Straßen und Brücken sind mürbe, Wohnraum ist zu teuer.

Aber er ist ein Zuhause. Wo wir frei die gleiche Sprache sprechen, wählen und meinen dürfen, wo wir uns auch in vielem einig sind. Es ist ein Ort, wo wir hingehören, wo wir uns willkommen und daheim fühlen. Der Frankfurter Rapper Moses Pelham hat es so formuliert: "Meine Heimat ist ein Platz mit Licht in der Mitte." Das kann mich mit dem Begriff fast versöhnen.

Loading...
Loading...
Täglich mehr wissen

Abonnieren Sie kostenlos den kommentierten Überblick über die Themen, die Deutschland bewegen. Datenschutzhinweis

Am Ende werden wir dieses Dilemma unseren Kindern vererben: Denn so klar es ist, dass auf die Menschen in Deutschland eine Form von Dienstpflicht zukommt, so unwahrscheinlich ist eine "allgemeine Wehrpflicht" im wörtlichen Sinn. Die AfD fordert eine Rückkehr zur alten Regelung vor der Abschaffung, die Konzepte der anderen Parteien im Bundestag beruhen auf Freiwilligkeit oder sehen eine "Dienstpflicht" vor, die die Wahl lässt, wer Deutschland wie dienen will: an der Waffe in der Bundeswehr oder ohne Waffe in der Zivilgesellschaft.

Bevor sie kommen kann, muss sie ohnehin vorbereitet werden. Seit ihrer Abschaffung 2011 wurden Wehrersatzämter geschlossen, Kasernen in Gewerbeparks umgewandelt, Ausbilder schieden aus dem Dienst aus. Noch ist die Bundeswehr nicht bereit für einen Wehrdienst.

Bis es so weit ist, vergeht noch Zeit. Wenn mein Sohn (und vielleicht auch meine beiden Töchter) dann an der Reihe sind, darüber nachzudenken, ob und wie sie ihrem Land dienen wollen, werden sie sich eventuell dieselben Fragen stellen wie ich jetzt. Hadern und dann entscheiden, wo und wie sie sich einbringen wollen. Wofür sie mindestens ihre Zeit, vielleicht aber auch ihre Gesundheit und ihr Leben zu riskieren bereit sind. Bei dieser Entscheidung will ich gerne helfen. Mit all meiner Ratlosigkeit, aber so gut ich kann.


Todesurteil für die Geiseln?

Im Nahen Osten geht das Sterben weiter. Die Waffenruhe ist vorbei, schon am Dienstag heulten die Sirenen im Gazastreifen, als das israelische Militär massive Luftschläge auf das Palästinensergebiet flog. Hunderte Menschen sollen getötet worden sein. Jetzt dröhnen auch die Panzer wieder: Die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat sie zu einer neuen Bodenoffensive in das von der Terrororganisation Hamas kontrollierte Gebiet entsandt.

Ein Sprecher der Hamas hat die Luftschläge bereits als "Todesurteil" für die 24 noch lebenden israelischen Geiseln bezeichnet, die am 7. Oktober 2023 beim Angriff der Hamas auf Israel entführt worden waren. Deren Angehörige sind verzweifelt: Jeder Luftschlag und jeder Schuss am Boden lässt ihre Hoffnung schwinden, ihre Verwandten und Freunde doch noch lebendig wiederzusehen.

Die Regierung von Ministerpräsident Netanjahu ist davon ebenso unbeeindruckt wie von der scharfen Kritik aus dem Ausland. Außenminister Gideon Saar bekräftigte, der Einsatz sei kein eintägiger und zudem mit der US-Regierung abgesprochen. In den Augen Netanjahus ist er damit offenbar rechtmäßig.


Was steht sonst noch an?

Willige und ein Unwilliger: In London treffen sich Militärvertreter und -experten aus europäischen Ländern und ihren Verbündeten. Sie beraten über Pläne zur Entsendung europäischer Truppen, die ein mögliches Friedensabkommen in der Ukraine absichern könnten. Großbritanniens Regierungschef Keir Starmer hat die Spezialeinheiten des britischen Militärs bereits in Alarmbereitschaft versetzt, um Tempo zu machen. Voraussetzung für einen solchen Einsatz ist allerdings die Garantie des US-Präsidenten, die Truppen im Falle einer Eskalation zu unterstützen. Donald Trump aber lehnt das bislang noch ab.


Haus-, Hof- und Flugverbot: Dass US-Präsident Donald Trump die Nachrichtenagentur AP buchstäblich vor die Tür gesetzt hat, ist heute Gegenstand einer Anhörung vor einem Bundesgericht in Washington D.C. Weil AP sich weigert, den Golf von Mexiko so zu nennen, wie Trump es per Dekret verfügt hat – nämlich "Golf von Amerika" – traf sie sein Bannstrahl: Ihre Journalisten wurden von vielen Veranstaltungen im Weißen Haus und aus der "Air Force One" ausgeschlossen, der Regierungsmaschine des Präsidenten.


Angstgegner: Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft trifft am Abend im Viertelfinal-Hinspiel der Nations League auf ihre große Nemesis: Italien. Die Partie findet in Mailand statt. Von bislang zwölf Pflichtspielen gegen die "Squadra Azzurra" hat Deutschland erst ein einziges gewonnen. Neunmal feierten beim Schlusspfiff die Italiener, zwei Spiele endeten unentschieden.


Historisches Bild

1969 heirateten John Lennon und Yoko Ono, sie mussten weit dafür reisen. Mehr lesen Sie hier.


Ohrenschmaus

AnNa R., die Sängerin der Berliner Band Rosenstolz, ist am Montag tot aufgefunden worden. Das hier ist einer ihrer bekanntesten Songs, und er geht mir gerade nicht aus dem Kopf.


Lesetipps

Vielleicht, weil es mir wie Nicole Diekmann geht: Dass der Tod von AnNa R. von Teilen der "Querdenker"-Szene faktenfrei und durchschaubar aus Rachegelüsten heraus mit einer Corona-Impfung in Verbindung gebracht wird, weil die Sängerin sich für Solidarität durch Impfung starkgemacht hatte, das finde ich widerlich. Den Text unserer Kolumnistin lege ich Ihnen deshalb ans Herz.


Trumps früherer Sicherheitsberater John Bolton ist sich sicher: Putin steuert den US-Präsidenten mit einfachen Tricks. Im Interview mit unserem USA-Korrespondenten Bastian Brauns erklärt er, warum das gefährlich ist, und wie Trump Putins Ukraine-Agenda unbewusst vorantreibt.


Die deutschen Nachrichtendienste konnten sich lange auf die USA verlassen. Das steht nun infrage, dafür erhalten sie mehr Geld aus dem Schuldenpaket. Wie es nun um die Zukunft der deutschen Spionageabwehr steht, erklärt mein Kollege Julian Alexander Fischer.


Erinnern Sie sich noch an Lisa Loch, das Mobbingopfer von Stefan Raab? Meine Kollegin Janna Halbroth ist der Frage nachgegangen, was aus dem unfreiwilligen TV-Star der 2000er geworden ist. Herausgekommen ist eine Geschichte voller Wendungen.


Zum Schluss

Genießen Sie den Tag, der gerade angebrochen ist. Morgen früh schickt Sie meine Kollegin Annika Leister an dieser Stelle in den nächsten.

Ganz herzlich:

Ihr

Philipp Michaelis
Bereichsleiter Aktuelles t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Gefällt Ihnen der Tagesanbruch? Dann leiten Sie diesen Newsletter an Ihre Freunde weiter.

Haben Sie diesen Newsletter von einem Freund erhalten? Hier können Sie ihn kostenlos abonnieren.

Alle bisherigen Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten von t-online lesen Sie hier.

Mit Material von dpa.

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Neueste Artikel



Telekom