Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tod von AnNa R. Es kommt immer aus derselben Ecke

In Zeiten von Social Media geraten Taktgefühl und Respekt oft ins Abseits. Dies wird besonders bei Todesfällen schmerzhaft deutlich.
Pietät kostet kein Geld. Die Fähigkeit, sich angemessen, rücksichts- und geschmackvoll zu verhalten, bekommt man gratis. Entweder wird sie uns in die Wiege gelegt oder aber anerzogen. Und falls beides nicht zutrifft, lässt sie sich relativ leicht erlernen. Durch Imitation oder durch den guten, alten und sehr oft wahren Sinnspruch: "Besser ab und zu einfach die Schnauze halten." Pietät ist ein Geschenk für uns alle.
Viele können das nicht, viele wollen das auch nicht. Denn: Pietät kostet zwar kein Geld, in manchen Situationen aber lautet der Preis: sich selbst zurücknehmen. Wenn jemand gestorben ist, etwa. Wie jüngst die Rosenstolz-Frontfrau AnNa R.

Zur Person
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf X – wo sie über 120.000 Fans hat. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz". Mehr
Die Nachricht vom Tod der erst 55-jährigen Andrea Neuenhofen, wie sie gebürtig hieß, war erst wenige Minuten alt – da meldeten sich prompt die zu Wort, denen alles egal ist, ich präzisiere: denen wenig egal ist. Ihnen ist es wichtig, auf Teufel komm raus, Recht zu behalten. Und das Wort "Teufel" wähle ich mit voller Absicht. Stellen Sie sich mich als sehr angewidert vor beim Schreiben dieser Kolumne.
Als Todesursache wurde nämlich Folgendes angegeben: keine Fremdeinwirkung. Das schließt viel aus. Das schließt aber auch viel ein. Es kann viele Gründe dafür geben, dass diese beliebte und erfolgreiche Frau gestorben ist. Ich will hier nichts aufzählen. Auch das wäre pietätlos. Es geht uns alle nämlich nichts an.
Für nichts zu doof
Manchmal sind die Dinge kompliziert. Manchmal weiß man etwas nicht sofort. Einige Spezialexperten in den sozialen Netzwerken aber, die wussten es. Direkt. Aus der Ferne. Es ist phänomenal! Die Corona-Impfung sei die Ursache für den Tod von AnNa R., konnte der erstaunte bis kopfschüttelnde User da lesen.
Falls Sie sich nicht in den sozialen Medien tummeln: Ja, Sie können mir glauben, viele Leute sind so doof, sich für solche Postings nicht zu doof zu sein. Das ist kein Einzelphänomen. Und, Sie ahnen es wahrscheinlich, das ist keines, das unter denjenigen auftritt, die wissen: Impfungen sind in den allermeisten Fällen sehr ratsam, in den allerwenigsten Fällen aber risikofrei.
Wer hingegen gerne vorschnell Ferndiagnosen stellt, faselt gerne was von der ausschließlich zum Schaden der Menschheit bei gleichzeitiger Gewinnmaximierung arbeitenden Pharmaindustrie und ist Fan des neuen US-Gesundheitsministers Robert F. Kennedy Jr. Oder meint, seine gottlob folgenlose Masernerkrankung in den 50er Jahren des vorherigen Jahrhunderts würde den statistisch sehr klar belegbaren Erfolg und Nutzen von Impfungen restlos widerlegen.
Ohne Rücksicht auf gute Sitten
Man kann das als Spinnerei abtun, als Rattenfängerei. Beides stimmt. Aber beides steht in einem größeren Zusammenhang.
Wenn jemand stirbt, ist das schmerzhaft. Für die Hinterbliebenen. Wie viele es davon gibt, hängt von mehreren Faktoren ab. Wie gesellig war der oder die Verstorbene? Wie beliebt war jemand? Und auch: wie berühmt? Ruhm hat seinen Preis. Seit Social Media auch den, dass diejenigen, die so gern auch berühmt wären und ihre 15 Minuten unter ihresgleichen hätten, völlig hemmungslos und ohne Rücksicht auf gute Sitten und die ernsthaft Trauernden vor nichts zurückschrecken. Und deren Leid schlimmstenfalls noch vergrößern.
Ähnliche Reaktionen bei Liam Paynes Tod
Öffentlich und erschütternd transparent gemacht hat das Cheryl Cole. Cole ist nicht nur Sängerin, sondern auch Mutter des Sohnes von Liam Payne. Der Teenie-Star und das ehemalige Mitglied der britischen Mega-Band One Direction stürzte vergangenen Herbst im Alter von 31 Jahren von seinem Hotelbalkon in Buenos Aires.
Die Boulevardpresse berichtete, die sozialen Netzwerke liefen über. Eben dort postete Cole einen dringenden Appell: "Während ich versuche, dieses erschütternde Ereignis zu verarbeiten und meine eigene Trauer in dieser unbeschreiblich schmerzhaften Zeit zu verarbeiten, möchte ich alle daran erinnern, dass wir einen Menschen verloren haben", schrieb die Musikerin. Liam sei nicht nur ein Popstar und eine Berühmtheit gewesen, "er war ein Sohn, ein Bruder, ein Onkel, ein lieber Freund und ein Vater für unseren siebenjährigen Sohn. Ein Sohn, der sich nun der Realität stellen muss, seinen Vater nie wiederzusehen."
Es breche ihr das Herz, dass sie ihren kleinen Sohn nicht vor den teils "abscheulichen" Medienberichten der vergangenen Tage schützen könne. Diese würden "allen, die zurückbleiben und die Scherben aufsammeln müssen, noch mehr Schaden zufügen", so die 41-Jährige. "Bevor ihr Kommentare hinterlasst oder Videos macht, fragt euch, ob ihr wollt, dass euer eigenes Kind oder eure Familie so etwas sieht. Bitte lasst Liam das bisschen Würde, das ihm nach seinem Tod geblieben ist, damit er endlich in Frieden ruhen kann."
Ich denke, daran ist nichts nicht zu verstehen. Und was ich auch denke: Dem ist nichts hinzuzufügen.
- Eigene Meinung