Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Das riecht nach Fehlstart
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
es ist ordentlich was los in der Welt. Während wir schliefen, hat Herr Trump wieder eine Ankündigungssalve abgefeuert: Er will "bald" allen EU-Ländern hohe Zölle "auf Autos und alle anderen Dinge" aufbrummen. Er macht tatsächlich die Ukraine für die russische Invasion verantwortlich. Die Europäer sollen daher künftig allein für die Sicherheit des angegriffenen Landes garantieren. Ob er einen chinesischen Überfall auf Taiwan zulassen würde, will er lieber nicht kommentieren. Sein Team hat die Reporter mehrerer Medien aus den Pressekonferenzen im Weißen Haus verbannt und lässt sich stattdessen von Claqueuren befragen. Ach ja, und bei den radikalen Haushaltskürzungen wurde "aus Versehen" auch die Ebola-Prävention gestrichen. Soweit das Kurzprotokoll der vergangenen Stunden.
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Hierzulande ist man geruhsamer unterwegs. Was auf den ersten Blick souverän wirkt, ist es auf den zweiten nicht. Entscheidungen trifft man in Berlin auch, aber vor den entscheidenden Taten zuckt man zurück. Zumindest einer: Der künftige Kanzler Friedrich Merz hat den Versuch abgeräumt, die starre Schuldenbremse zu lockern, um den Staat handlungsfähiger zu machen. Das brauche es jetzt nicht, gab er zu Protokoll.
Seine Worte werden lange nachhallen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese wegweisende Reform später nachholen lässt, ist verschwindend gering. Sobald der neue Bundestag zum ersten Mal zusammentritt, geht ohne die Stimmen der Linkspartei bei der Schuldenbremse gar nichts mehr. Und die Linken zeigen jedem einen Vogel, der mehr Geld für die Bundeswehr fordert.
Klug ist das nicht, weitsichtig erst recht nicht. Schließlich gibt es im Westen den unberechenbaren Ankündigungsweltmeister und im Osten die Bedrohung durch Putin, mittendrin die nicht mehr ganz so verlässliche Nato und obendrein die immer noch funktionsunfähige Bundeswehr sowie das panische Bemühen in ganz Europa, schleunigst eine eigene Verteidigungsfähigkeit aufzubauen. Für all die Herausforderungen hat CDU-Chef Merz sich etwas Einfaches ausgedacht: Ein einmalig mit 200 Milliarden Euro gefüllter Geldtopf soll es richten, also der doppelte Zeitenwende-Betrag vom SPD-Olaf. So ungefähr soll's gehen, die Details sind noch nicht fertig – und dann ist alles gut. So wie mit den 100 Milliarden für die erste Zeitenwende, wir erinnern uns: Danach war ja auch alles gut. Jetzt wird's also doppelt gut!
Falls der Sarkasmus in diesen Zeilen nicht deutlich genug zu Tage getreten sein sollte, lassen Sie mich nachlegen: Es zeichnet sich leider ab, dass Herr Merz die wichtigste Weichenstellung für seine künftige Regierungszeit versemmelt. Eine Einmalzahlung für die Streitkräfte, und das war's – das bedeutet: Für alle anderen Großvorhaben werden die schwarz-roten Koalitionäre in spe ab Tag Eins in derselben fiskalischen Zwangsjacke zappeln wie die Ampelleute.
Ein Problem scheint der Amtsanwärter darin nicht zu sehen. Darin drückt sich eine Haltung aus, die beim politischen Personal niemand mehr gebrauchen kann: Überheblichkeit. Täglich erleben wir, wie die Ereignisse sich überschlagen und alte Gewissheiten auf dem Müllhaufen der Geschichte landen. Schon die kommenden Tage erscheinen unkalkulierbar, nächste Woche liegt bereits in der fernen Zukunft und alles dahinter verschwimmt im Dunst. Aber der nächste deutsche Regierungschef und seine Einflüsterer glauben, die Krisen der gesamten nächsten Legislaturperiode vorab beurteilen und finanziell erledigen zu können. Flexibilität? Braucht es angeblich nicht.
Machen wir also den Test:
- Was passiert, wenn uns in den kommenden Jahren extreme Wetterereignisse heimsuchen, Opfer fordern, Schäden anrichten wie im Ahrtal? Wenn selbst der letzte Scheuklappenträger im Parlament schließlich einsieht, dass man die Krise des Klimas doch nicht weiter vertagen kann?
- Welchen Handlungsspielraum hat das frischgebackene Kabinett, wenn es in ein paar Monaten entdeckt, dass angesichts der fortschreitenden Schwächung der Nato nun doch mehr zu tun wäre als nur Panzer, Kampfjets und Raketen zu kaufen? Wie geht man mit der Entdeckung um, dass man die Finanzplanung des Zivilschutzes, der von nahezu null wieder aufgebaut werden muss, in der Regierungsbildungshektik leider vergessen hat?
- Was kann man tun, falls die Spannungen mit Russland weiter zunehmen und sich die Erkenntnis durchsetzt, dass an einer Wehrpflicht kein Weg mehr vorbeiführt? Neue Kasernen, noch mehr Gerät, enorme Personalkosten, alles bisher nicht eingeplant – woher kommt das Geld?
- Wie würde man auf eine unerwartete Verschlechterung des Verhältnisses zu China reagieren, falls beispielsweise die Taiwan-Krise eskaliert? Wie könnte man dann die schlingernde deutsche Wirtschaft mit Milliarden vor dem Absturz bewahren?
- Woher nimmt der Staat das Geld, sollte noch mal eine Pandemie ausbrechen und es müssten wieder unzählige Firmen gepäppelt werden?
Geht nicht, wird es dann heißen. Konnte man nicht voraussehen, wird man dann sagen. Man kann aber sehr wohl voraussehen, dass Unerwartetes auf uns wartet. Spätestens seit Corona und dem russischen Angriffskrieg müsste das auch im Berliner Regierungsviertel eigentlich jeder verstanden haben.
Die Schuldenbremse wurde 2009 beschlossen, als die Welt noch eine andere war. Sie ist grundsätzlich sinnvoll, um Politiker davon abzuhalten, für jedes Parteiprojekt und jeden Klientelwunsch immer mehr Schulden anzuhäufen. Doch die Begrenzung der Neuverschuldung des Bundes auf maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ist in Multikrisenzeiten wie heute zu strikt. Sie kann dazu führen, dass mit der nächsten Regierung dasselbe geschieht wie mit der Ampel: Weil die Bewältigung von immer mehr Krisen immer mehr Geld erfordert, streiten die Koalitionäre sich um das einbetonierte Budget. Das Restvertrauen in die demokratischen Parteien der Mitte erodiert weiter. Und die AfD sammelt die Reste auf. Nur weil da eine 0,35 statt einer 0,4 oder einer 0,5 steht.
Muss das so kommen? Sicher wissen wir es nicht, natürlich nicht. Aber die Voraussetzungen werden gerade geschaffen. Denn Merz legt nicht los. Er legt sich lieber selbst an die Leine. Statt eine Reform zu wagen, die für böse Überraschungen den dringend benötigten Handlungsspielraum schafft, blendet er die Probleme von morgen aus. Schelten Sie mich einen Unkenrufer, aber das sieht leider nach einem Fehlstart aus.
Zahl des Tages
49 Prozent Deutschen plädiert für die Lockerung der Schuldenbremse. Nur 28 Prozent sind dagegen, der Rest ist unentschlossen. Das geht aus einer exklusiven Befragung des Meinungsforschungsinstituts Insa für unsere Redaktion hervor.
Zu Gast bei der Mafia
So sieht dann wohl aus, was Donald Trump unter einem "guten Deal" versteht: Der US-Präsident schickt sich nicht nur an, der Ukraine ein Rohstoffabkommen ohne Sicherheitsgarantien abzupressen – mit weitreichenden Folgen für Europa, wie mein Kollege Patrick Diekmann schreibt. Zugleich bringt Trump auch noch eine Gold Card heraus, die es russischen Oligarchen ermöglichen soll, sich für fünf Millionen Dollar das Aufenthaltsrecht in den USA zu kaufen – um dort dann reichlich Geld zu investieren. Don Corleone hätte es nicht besser gekonnt.
Die Europäer versuchen derweil weiter, Einfluss auf den erratischen Egomanen zu nehmen. Nach dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der die Staats- und Regierungschefs der EU gestern über sein Treffen mit Trump informierte, reist heute Keir Starmer nach Washington. Auch der britische Premierminister, der vorsorglich schon mal bekannt gab, seinen Rüstungsetat aufzustocken, wird dafür werben, dass ein dauerhafter Frieden nur gemeinsam mit der ukrainischen Regierung ausgehandelt werden kann. Für das Wochenende bittet er zudem eine Reihe von Ukraine-Unterstützern zum Sondergipfel nach London. Bereits morgen reist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zum Kolonialherren ins Weiße Haus, um dort den Mineralien-Knebelvertrag zu unterschreiben.
Die nächste Wahl
Nach der Bundestagswahl ist vor der Bürgerschaftswahl: Am kommenden Sonntag sind rund 1,32 Millionen Hamburger aufgerufen, ein neues Landesparlament zu bestimmen. Dabei kann der amtierende Erste Bürgermeister und SPD-Spitzenkandidat Peter Tschentscher, der heute zur "Schlussmobilisierung" ins Klubhaus St. Pauli am Spielbudenplatz einlädt, dem Ergebnis deutlich gelassener entgegensehen als seine Partei im Bund: Er ist beliebt, in der Hansestadt gibt es keine Wechselstimmung.
Verluste allerdings wird die rot-grüne Regierungskoalition wohl auch hinnehmen müssen: Jüngste Umfragen sehen die SPD bei nur noch 32 Prozent (statt 39,2 Prozent im Jahr 2020) und die Grünen bei nur noch 18 Prozent (statt 24,2). Stärker werden dürften dafür CDU, AfD und Linke. Unser Hamburger Regionalteam um Kathi Grimm hält Sie über den Endspurt auf dem Laufenden.
Töröö!
Pünktlich um 11.11 Uhr bricht heute in den rheinischen Karnevalshochburgen der närrische Frohsinn aus. In Köln übergibt Oberbürgermeisterin Henriette Reker dem Dreigestirn symbolisch die Schlüssel der Stadt. Mehr Sorgen als das mittelprächtige Wetter bereitet nach den jüngsten Terrorattentaten die Sicherheitslage: In der Spitze will die Polizei rund 1.500 Beamte mehr aufbieten als an normalen Tagen. Unser Regionalteam West um Laura Schameitat ist auf den Straßen unterwegs und berichtet über alles Wissenswerte – in Köln genauso wie in Düsseldorf.
Bild des Tages
Geht Ihnen der lange Winter auch auf den Wecker? Dann geht es Ihnen wie mir. Aber der Frühling kündigt sich schon an, man muss nur genau hinschauen.
Lesetipps
Weiß Friedrich Merz wirklich, wie Politik funktioniert? Unser Kolumnist Christoph Schwennicke ist sich nicht mehr sicher.
Pietro Parolin ist der mächtigste Kardinal im Vatikan. Nun hat er etwas vor, schreibt meine Kollegin Ellen Ivits.
Eigentlich hätte Thilo Mischke ARD-Moderator werden sollen. Nach Kritik an einem sexistischen Buch wurde nichts daraus. Jetzt äußert sich der Journalist erstmals selbst – mit harten Vorwürfen gegen den Sender, wie meine Kollegin Agnes Wetzel berichtet.
Statt Verantwortung für die historische Wahlschlappe zu übernehmen, baut SPD-Chef Lars Klingbeil seine Macht aus. Das ruft in der Partei immer mehr Kritik hervor, weiß unser Reporter Daniel Mützel.
Zum Schluss
Ich wünsche allen, die es brauchen, Demut. Und dem Rest einen schönen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von meinem Kollegen David Digili.
Herzliche Grüße und bis Samstag
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.