Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Überraschung auf den letzten Metern
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Es geht zu Ende, was selten funktionierte. Das Bundeskabinett der Rest-Ampelkoalition kommt heute Vormittag zu seiner letzten Sitzung vor der Bundestagswahl zusammen. Die Minister von SPD und Grünen werden sich um den ovalen Tisch im sechsten Stock des Kanzleramts gruppieren, der Chef sagt ein paar Sätze, es gibt Kaffee aus silbernen Kännchen. Der schmeckt etwas fade, wie man als gelegentlicher Besucher des Hauses zu berichten weiß, aber das ist nun auch egal, es passt zu dieser Runde. Nach ihrer 128. Zusammenkunft gehen die Regierenden dann auseinander, das selbst ernannte "Fortschrittsbündnis" zerstreut sich wie der Sand im Wind. Und dann kommt etwas Neues.
Kommt wirklich etwas Neues? Die Mehrheit im Land wünscht sich einen Aufbruch, der bisherige Oppositionsführer drängt ins Kanzlerbüro ein Stockwerk über dem Kabinettssaal und verspricht einen "Politikwechsel". Alles werde anders, wenn er erst regiere, behauptet Friedrich Merz, und viele Menschen wollen es ihm glauben. Sie trauen ihm zu, die stockende Wirtschaft rasch in Fahrt zu bringen und dafür zu sorgen, dass der Staat Leistung reicher belohnt als Handaufhalten. Sie hoffen, dass er die europäische Kernallianz in Berlin, Paris und Warschau wiederbelebt und Donald Trumps mafiöser Außenpolitik ein institutionelles Stoppschild entgegensetzt. Sie erwarten, dass er das Sicherheitsproblem löst, das aus der laxen Asylpraxis, der mangelhaften Integration und dem föderalen Behördenwirrwarr resultiert. Sie setzen große Hoffnungen in den Kanzlerkandidaten von CDU und CSU, der die Fernsehdebatten recht souverän durchgestanden hat und sich heute Abend noch mal mit seinem Widersacher Olaf Scholz misst (falls Sie sich das nach all den Duellen, Quadrellen und sonstigen Mattscheiben-Dellen noch antun möchten: 20:15 Uhr bei Welt-TV).
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Hoffnung ist schön, sie kann ein ganzes Volk motivieren. Tatsächlich braucht Deutschland nichts so sehr wie eine kollektive Zuversichtsinfusion. Einen bundesweiten Energieschub, der den Pessimismus, die Depression und die Miesepeterei hinwegfegt. Das Land ist stark, hat enormes Potenzial und europaweit die besten Voraussetzungen, den vielen Krisen zu trotzen. Eine echte Fortschrittskoalition, die braucht es jetzt.
Wird die Hoffnung jedoch enttäuscht, ist der Schmerz leider meistens größer als das positive Gefühl zuvor. Das Risiko besteht, dass genau dies nach dem kommenden Sonntag geschieht. Um das zu ahnen, muss man kein Prophet sein, es genügt ein Blick auf die aktuellen Umfragen. "Ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals so unsicher und knapp war, wer überhaupt eine Koalition bilden kann", sagt der Meinungsforscher Manfred Güllner. "Es könnte bei dieser Wahl zum ersten Mal der Fall sein, dass es für eine Zweierkonstellation ohne die AfD nicht reicht." Die Zahlen der Demoskopen unterscheiden sich geringfügig, ähneln sich aber im Gesamtbild. Die Folgen sind brisant:
- Demnach werden CDU und CSU zwar stärkste Kraft, bleiben jedoch meilenweit unter früheren Zielwerten mit einer 4 vorne. Erringen sie 30 Prozent, können sie schon froh sein. Das wäre ein Sieg, aber kein großer. Mögliche Partner in Sondierungen und Koalitionsverhandlungen würden den Kanzleraspiranten Merz seine Schwäche spüren lassen. Versucht er, den schon unter Merkel gescheiterten Parteifreunden Jens Spahn und Julia Klöckner wieder zu einem Ministeramt zu verhelfen, müsste er zudem vom Start weg mit schlechter Presse rechnen.
- Die AfD könnte ihr Ergebnis von 2021 verdoppeln und mehr als 20 Prozent erringen. Dann säße im nächsten Bundestag ein großer blauer Block, in dem sich neben EU-Gegnern und Demokratieverächtern auch Verfassungsfeinde tummeln. Die Parlamentsdebatten würden noch schriller, die Ausschussarbeit noch komplizierter. Die von manchen Konservativen ersehnte Mäßigung durch institutionelle Einbindung ist von dieser Truppe nicht zu erwarten: Im Gegensatz zu rechten Parteien in Frankreich und Italien hat sich die AfD immer weiter radikalisiert. Ihre Funktionäre hetzen, lügen und hofieren Diktatoren. Seit gestern Abend gibt es Hinweise auf eine weitere Spendenaffäre. Erschreckend, dass all das vielen ihrer Wähler, die natürlich nicht alle Extremisten sind, gar nichts ausmacht.
- Der SPD droht das schlechteste Bundestagswahlergebnis ihrer Geschichte. Für Scholz wäre das eine noch größere Schmach als der Verlust des Regierungsamts und die neueste Enthüllung, dass er im Cum-Ex-Skandal gelogen haben könnte. Stehen am Ende nur mickrige 15 oder 16 Prozent zu Buche, wird neben Co-Parteichefin Saskia Esken womöglich auch Fraktionsboss Rolf Mützenich hinweggefegt. Co-Parteichef Lars Klingbeil sagt man nach, kein Manöver zu scheuen, um seine politische Karriere fortzusetzen. Vielleicht kann er sich mit Ach und Krach ins Außenministerium retten. Den Rest müssen Boris Pistorius und Anke Rehlinger zusammenfegen.
- Die Grünen könnten den Umfragen zufolge bei 12 oder 13 Prozent landen – weniger als vor drei Jahren, aber anders als bei der SPD kein Desaster. Sie haben eine starke Stammwählerklientel in Großstädten. Schaffen sie es nicht in die nächste Regierung, ist trotzdem Aufruhr zu erwarten: Dann folge die Rache der Grünen-Frauen Annalena Baerbock, Ricarda Lang und Britta Haßelmann am Spitzenkandidaten Robert Habeck, erzählt man sich in Berliner Hinterzimmern. Das kann man glauben oder nicht, interessant sind solche Gerüchte allemal, weil sie natürlich mit Absicht gestreut werden. Ob persönliche Rachefeldzüge dem Klimaschutz zuträglich sind, darf bezweifelt werden.
- Die Linkspartei ist die große Überraschung: Auf den letzten Metern des Wahlkampfs schießen ihre Umfragewerte plötzlich in die Höhe, je nach Institut auf 7 oder sogar 9 Prozent. Die Wiederauferstehung der sterbenden Partei ist einzig einer Person zu verdanken: Die Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek macht einen cleveren Online-Wahlkampf und bekommt auf TikTok mittlerweile mehr Zuspruch als die geifernde AfD. "Die Leute sind eben auch auf Social Media, allein auf TikTok gibt es über 20 Millionen deutsche Accounts", sagt sie im Interview mit meinem Kollegen Carsten Janz. "Drei Viertel der Menschen informieren sich über Kurzvideos. Da muss man präsent sein." Das erfordert Ressourcen, Ideen und Energie. Letztere hat sie: Ihre Standpauke für CDU-Chef Merz nach dessen Migrationsmanöver im Bundestag zählt zu den meistgeteilten Postings der vergangenen Wochen.
- Das BSW und die FDP krebsen an der Fünfprozenthürde herum. Beide müssen um den Einzug ins Parlament bangen, für beide könnte das Scheitern das endgültige Aus bedeuten. Sahra Wagenknecht hat angedeutet, dann nicht weiterzumachen, Christian Lindner hat vermutlich auch Besseres vor, als in der außerparlamentarischen Opposition zu fristen.
Doch noch ist nichts entschieden, noch sind es vier Tage, und die Wählerschaft tickt heute anders als früher. Viele Menschen sind sprunghafter, wenn es um Politik geht, viele sind unzufrieden mit dem Personalangebot der Parteien – und fast ein Drittel ist Umfragen zufolge auch jetzt noch unentschlossen, wem sie ihre Stimmen geben soll. In so einer Lage können mitreißende Auftritte einzelner Politiker oder brisante Nachrichtenereignisse die Stimmungslage stark verändern.
So oder so: Am Sonntagabend um 18 Uhr beginnt der schwerste Teil der Arbeit. Dann müssen die demokratischen Parteien beginnen, eine Koalition auszuloten, die hoffentlich länger hält als die Streit-Ampel. Schaffen es FDP oder BSW oder gar beide doch noch ins Parlament, dürfte es für ein schwarz-rotes oder schwarz-grünes Bündnis nicht reichen. Dann bräuchte es zum ersten Mal seit Jahrzehnten eine Vierparteienkoalition, um das Land zu regieren: CDU, CSU plus zwei Partner. Mit Durchregieren wird es dann sicher nichts. Das dürfte sogar der selbstbewusste Friedrich Merz einsehen.
Fünf Jahre danach
In diesen Wahlkampftagen, da der Diskurs in Deutschland angesichts furchtbarer von Asylbewerbern begangener Terrortaten nach rechts gerückt ist, sollte man sich auch an diesen Anschlag erinnern: Heute vor fünf Jahren, am 19. Februar 2020, schoss ein rechtsradikaler Attentäter in Hanau gezielt auf Menschen mit Migrationshintergrund. Acht junge Männer und eine Frau wurden Opfer seines rassistischen Wahns. Danach erschoss der Täter seine Mutter und sich selbst. Noch immer kämpfen Angehörige der Ermordeten um eine Wiederaufnahme der Ermittlungen, bislang vergeblich.
Heute gedenken Hanau und Hessen der Opfer, auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Ministerpräsident Boris Rhein sprechen vor Ort. Nach langem Hin und Her wurde mittlerweile der Standort für ein Mahnmal bestimmt: Es wird am geplanten Haus für Demokratie und Vielfalt errichtet, das bis 2026 fertiggestellt sein soll. Auf der Berlinale läuft unterdessen der Dokumentarfilm "Das Deutsche Volk", der Hinterbliebene und Überlebende des Attentats vier Jahre lang begleitet hat. Er macht eindringlich klar, wie wichtig es ist, die Antwort auf die Frage, wer zu Deutschland gehört, nicht der AfD zu überlassen.
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Ohrenschmaus
Gestern Abend habe ich diesen Klassiker gehört. Wieder und wieder.
Zum Schluss
Wen soll man nun wählen?
Ich wünsche Ihnen einen gut orientierten Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von unserem USA-Korrespondenten Bastian Brauns, von mir lesen Sie am Freitag wieder.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.