Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Zu überstürzt?
![Olaf Scholz (SPD), Alice Weidel (AfD), Robert Habeck (Grüne) und Friedrich Merz (CDU, v.l.n.r.): Der Wahlkampf ist extrem kurz. Olaf Scholz (SPD), Alice Weidel (AfD), Robert Habeck (Grüne) und Friedrich Merz (CDU, v.l.n.r.): Der Wahlkampf ist extrem kurz.](https://images.t-online.de/2025/02/ChQ2dB1-B8Jb/0x0:1920x1080/fit-in/1920x0/image.jpg)
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
am vergangenen Wochenende war ich mal wieder zu Besuch in der Heimat, im Westerwald. Neben den neuesten Eskapaden und Einlassungen eines gewissen Donald T. gab es bei den Gesprächen mit meinen Eltern und Brüdern insbesondere ein Thema: die in exakt zehn Tagen anstehende Bundestagswahl – und die Frage, was man denn nun wählen könnte.
Meiner Familie geht es nicht anders als mir: So schwer wie dieses Mal habe ich mich wohl noch nie bei einer Wahlentscheidung getan. Auch aktuelle Umfragen bestätigen: Etwa jeder Dritte weiß bislang nicht, was er oder sie wählen soll – oder will einfach nicht zur Wahl gehen. Lieber taktisch wählen, um eine Koalition zu ermöglichen oder zu verhindern? Lieber auf Sympathie für einen Kandidaten setzen, sollte das überhaupt möglich sein? Oder am Ende gar nicht zur Wahl gehen, weil sich politisch eh nichts ändert?
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Die allgemeine Unsicherheit und Politikverdrossenheit kommen nicht von ungefähr. Sie resultieren nicht zuletzt aus der kurzen Frist angesichts der vorgezogenen Neuwahl. Endspurt ist angesagt. Und das Zeitpolster bis zum Wahltag am 23. Februar ist ohnehin deutlich knapper als im Jahr 2021. Diese Wahl läuft unter dem Motto: hopplahopp!
Springen wir zum 6. November zurück, dem politisch wildesten Tag des vergangenen Jahres. An jenem Mittwoch wurde nicht nur Donald Trump zum zweiten Mal zum US-Präsidenten gewählt.
In Deutschland zerbrach die Ampelregierung, die Diskussion über Neuwahlen ging sogleich los. Während Union und FDP einen zeitnahen Wahltermin forderten und Kanzler Olaf Scholz (SPD) zur Vertrauensfrage drängten, wollten die Sozialdemokraten möglichst erst im März wählen. Auch weil sie sich Rückenwind von der Bürgerschaftswahl in Hamburg versprachen. Diese findet am 2. März statt und die SPD hat gute Chancen, dort weiter den Bürgermeister zu stellen.
Schließlich einigten sich die Spitzen der SPD- und Unionsfraktion auf den Termin am 23. Februar. Scholz stellte am 16. Dezember die Vertrauensfrage im Bundestag, die er erwartungsgemäß verlor.
Rückblickend muss man wohl sagen: Der Termin wurde übers Knie gebrochen. Denn die Organisatoren der wichtigsten Wahl in Deutschland stehen vor zahlreichen Problemen. Zunächst ist da die Briefwahl. Ende Januar sind die Stimmzettel in den Druck gegangen. Einen einheitlichen bundesweiten Starttag gibt es nicht. Viele Kommunen haben bereits mit dem Versand der Unterlagen begonnen – bei einigen könnte es sich derweil noch verzögern.
Besonders Deutsche, die in Übersee leben, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht wählen können. Das sagten rund ein Dutzend Betroffene meinem Kollegen Christoph Cöln und mir. Zwar bieten einige Auslandsvertretungen einen Kurierservice an. Die Konsulate warnen jedoch, dass dieser womöglich nicht schneller ist als der herkömmliche Postweg. Mehrere Verfassungsrechtler erwarten gar, dass die Wahl deshalb vor dem Bundesverfassungsgericht landet. Auch CSU-Politikerin Daniela Ludwig, die den Wahlprüfungsausschuss im 20. Bundestag leitet, räumt Probleme ein – und bestätigte die Recherche.
Wegen der knappen Frist hatten es zudem insbesondere Kleinstparteien schwer. Denn sie sitzen nicht im Bundestag oder einem Landesparlament, müssen für ihre konkreten Wahlvorschläge Unterstützungsunterschriften sammeln. Haben sie die nicht, werden sie ausgeschlossen. Diese Parteien hatten deutlich weniger Zeit, um die entsprechenden Unterschriften zusammenzubekommen.
In die allgemeine Unsicherheit spielt zudem das Hickhack um die TV-Duelle hinein: Weil es insgesamt fünf Parteien gibt, die dieses Mal einen Kanzlerkandidaten aufgestellt haben, gibt es unzählige Formate in verschiedenen Konstellationen, über die die Sender noch lange gerungen hatten.
Eigentlich ist das Zweierformat seit Jahren ein Klassiker vor der Bundestagswahl. Doch schon beim vergangenen Mal zeigten öffentlich-rechtliche Sender und das Privatfernsehen TV-Dreikämpfe ("Triell") – damals zwischen Armin Laschet (CDU), Olaf Scholz (SPD) und Annalena Baerbock (Grüne).
Schließlich lud RTL zu einer Viererrunde ein, die am kommenden Sonntag ausgestrahlt wird. Begründung des Senders: Nach dem tödlichen Messerangriff in Aschaffenburg und den sich daraus ergebenden Entwicklungen hätten sich die Voraussetzungen für ein TV-Duell geändert.
Daneben gibt es aber noch zahlreiche weitere Duelle, eines davon heute Abend im ZDF. Da kann man neben dem Überblick auch gleich das Interesse verlieren.
Sie blicken im Duell-Dschungel nicht durch? Vielleicht hilft diese Grafik weiter:
Neben der Wahlorganisation und der TV-Debatten-Debatte ist eine Folge der vorgezogenen Neuwahl auch: der extrem kurze Wahlkampf. Inhaltliche Auseinandersetzungen? Dafür bleibt wenig Zeit. Statt großer Konzepte und Ideen bestimmen vor allem taktische Spielereien und schmutzige Anwürfe den Wahlkampf. Bestes Beispiel: Merz' Asyl-Manöver im Bundestag.
Die öffentliche Diskussion dreht sich derweil seit Wochen quasi nur um die Migrationsthematik. Wie meine Kollegin Christine Holthoff letztens im Tagesanbruch schrieb, gibt es aber noch drängendere Themen. Eines hat Ihnen auch Florian Harms gestern dargebracht.
Andere Inhalte aber? Fehlanzeige. Stattdessen erregte zuletzt eine Bemerkung von Olaf Scholz Aufsehen. Er soll den Berliner Kultursenator und CDU-Politiker Joe Chialo laut Medienberichten auf einer privaten Geburtstagsfeier als "Hofnarr" der Union bezeichnet haben. Das Pikante daran: Der schwarze Chialo wurde in der Vergangenheit oftmals rassistisch angefeindet. Scholz verteidigte sich sogleich, sagte: "Der dabei von mir verwandte Begriff ist im Sprachgebrauch nicht rassistisch konnotiert und war von mir auch nie so intendiert." SPD-General Matthias Miersch sprach gar von einer "Kampagne" – und kündigte rechtliche Schritte an.
Unsäglicher Nebeneffekt der vorgezogenen Neuwahl ist auch: Derzeit kümmert sich kaum jemand in Deutschland ums Regieren – sondern nur um den Wahlkampf. Und das, während im Weißen Haus mit Trump ein Mann sitzt, der sich jeden Tag eine neue irre Idee ausdenkt. Und für den es eigentlich eine starke Regierung benötigt.
Und nach der Wahl fängt das eigentliche Chaos wohl erst an, denn derzeit zeichnet sich eine komplizierte Regierungsbildung ab. Spannend ist die Frage, ob die Linke, das BSW und die FDP den Einzug in den Bundestag schaffen.
Einige mögliche Koalitionen werden von den Beteiligten bereits im Vorfeld ausgeschlossen. Mit der in Teilen rechtsextremen AfD will niemand koalieren – aus nachvollziehbaren Gründen. Doch mit der Linken schließt die CDU ebenfalls eine Koalition aus. In Bezug auf das BSW, das von der früheren Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht gegründet wurde, gibt es indes keinen Unvereinbarkeitsbeschluss. Und die FDP? Will nicht mit den Grünen koalieren, obwohl die Liberalen das noch bis vor wenigen Monaten getan haben.
Es droht also eine schwierige Mehrheitsbildung. Ganz ähnlich wie nach der Bundestagswahl 2017, als eine mögliche Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen an den Liberalen um Christian Lindner scheiterte und erst Monate später eine neue Große Koalition aus CDU und SPD stand. Jetzt kommt im misslichen Fall nur eine Mehrheit für eine Kenia-Koalition aus Union, SPD und Grünen zustande – ein unsicheres Dreierbündnis, das es auf Bundesebene noch nie gegeben hat. Nicht weniger kompliziert wäre auch eine Minderheitsregierung, die jetzt bereits als Idee in Berlin herumgeistert. Klar ist: Ein Hängen und Würgen wird nur die AfD stärken.
Was uns zu der Frage vom Anfang führt: Wen eigentlich wählen? Gerade weil unklar ist, welche Koalition am Ende regieren wird, zählt jede Stimme mehr denn je. Wählen Sie nicht, stärken Sie indirekt Parteien, die Sie vielleicht nicht in der Regierung sehen möchten. Wir informieren Sie daher umfassend über die Bundestagswahl (hier zur Übersichtsseite). Sie können auch den Wahl-O-Mat nutzen (hier).
Und denken Sie immer daran: Eine freie Wahl ist das höchste Gut in einer Demokratie. Selbst wenn sie übers Knie gebrochen ist.
Zukunft der Ukraine?
US-Präsident Donald Trump hat mit Kremlchef Wladimir Putin telefoniert und sofortige Verhandlungen über ein Ende des russischen Kriegs gegen die Ukraine vereinbart, wie er auf seinem sozialen Netzwerk Truth Social mitteilte. Der Kreml bestätigte das Telefonat. Die beiden verständigten sich demnach auf eine enge Zusammenarbeit und ein baldiges persönliches Treffen.
Trump informierte Wolodymyr Selenskyj anschließend. Dass er mögliche Friedensverhandlungen ohne den ukrainischen Präsidenten angeht, ist höchst bedenklich – und zeigt, dass Trump offenbar ohne die Ukraine über die Zukunft des Landes entscheiden will. Außenministerin Annalena Baerbock machte derweil klar: "Es kann keine Entscheidungen über die Ukraine ohne die Ukraine geben."
Trumps Regierung legte sogleich erstmals öffentlich dar, wie sie sich einen Deal für ein Kriegsende vorstellt – und zwar gleich an mehreren Stellen ganz im Sinne Moskaus. So soll die Ukraine ihr Streben nach einem Nato-Beitritt aufgeben. Die USA sehen die Europäer indes weitgehend allein in der Pflicht, die Ukraine zu unterstützen und einen Frieden militärisch abzusichern.
US-Verteidigungsminister Pete Hegseth präsentierte Trumps Vorstellungen bei einem Ukraine-Treffen in Brüssel. Er bestätigte damit düstere Vorahnungen der Ukrainer und Europäer – und stellt die bisherige Ukraine-Politik der USA auf den Kopf. Unser USA-Korrespondent Bastian Brauns analysiert die Folgen des Vorstoßes.
Alles ist offen
Vorerst kein ultrarechter Kanzler für Österreich: FPÖ-Chef Herbert Kickl ist kurz vor dem Einzug ins Kanzleramt doch noch gescheitert. Kickl gab nach dem Platzen der Koalitionsgespräche mit der konservativen ÖVP den Auftrag zur Bildung einer Regierung zurück.
Die konservative ÖVP sieht die Verantwortung für das Scheitern der Koalitionsgespräche derweil beim FPÖ-Chef. Nicht zuletzt, dass die FPÖ auf das Innenministerium beharrte, das auch für die internationale Zusammenarbeit der Geheimdienste verantwortlich ist, sei inakzeptabel gewesen, sagte ÖVP-Chef Christian Stocker.
So drehen sich die Koalitionsverhandlungen in Österreich weiter im Kreis. Zuvor waren bereits Gespräche zwischen ÖVP, der sozialdemokratischen SPÖ und den liberalen Neos gescheitert. Bundespräsident Alexander Van der Bellen schlug mehrere mögliche Optionen vor. Neuwahlen, eine neue Minderheitsregierung oder eine Expertenregierung. Zudem schloss er nicht aus, dass sich Parteien in einem weiteren Anlauf doch noch auf eine tragfähige Koalition einigen könnten. Alles ist wieder offen.
Das Staatsoberhaupt will jetzt in Gesprächen mit den Parteichefs nach Kompromissen suchen. Davon hat man in den vergangenen Monaten in der gesamten politischen Landschaft Österreichs allerdings recht wenig sehen können.
Was steht heute an?
Islamistisch motivierter Angriff? In Stuttgart beginnt der Prozess gegen den mutmaßlichen Islamisten Sulaiman A., dem der Mord am Mannheimer Polizisten Rouven Laur sowie versuchter Mord in fünf Fällen vorgeworfen wird. Der zum Tatzeitpunkt 25-jährige Afghane hatte am 31. Mai 2024 auf dem Mannheimer Marktplatz Teilnehmer einer Kundgebung der islamkritischen Bewegung Pax Europa sowie einen Polizisten mit einem Messer verletzt. Der 29 Jahre alte Laur erlag später seinen Verletzungen.
Kahlschlag bei der Commerzbank? Beflügelt von einem Rekordgewinn, plant die von der italienischen Unicredit bedrängte Großbank für die nächsten Jahre. Die Strategie will der Frankfurter Dax-Konzern an diesem Donnerstag veröffentlichen. Auch ein großer Stellenabbau steht im Raum: bis zu 4.000 Jobs, also ein Zehntel der Beschäftigten.
"Klartext" von Kandidaten? Um 19.25 Uhr läuft im ZDF eine Debatte zwischen Olaf Scholz, Friedrich Merz, Robert Habeck und Alice Weidel. Bürgerinnen und Bürger haben in der Sendung die Gelegenheit, den Kanzlerkandidaten ihre Fragen zu stellen. Moderiert wird der Talk von Bettina Schausten und Christian Sievers. Wir tickern die Debatte für Sie mit.
Historisches Bild
Che Guevara (r.) und Fidel Castro waren fanatische Kommunisten, 1959 waren sie auf Kuba am Ziel ihrer revolutionären Träume angekommen. Mehr erfahren Sie hier.
Lesetipps
Zwar nicht direkt etwas zum Lesen – aber dennoch ein spannender Tipp: Denn am vergangenen Montag war niemand Geringerer als Altbundespräsident Christian Wulff in der Redaktion zu Gast. Meine Kollegen Florian Harms und Christoph Schwennicke haben mit ihm diskutiert, das ganze Gespräch hören Sie im Podcast.
Das Umweltbundesamt warnt derzeit vor einer "außergewöhnlich schlechten" Luftqualität in ganz Deutschland. Dies liege vor allem an der hohen Belastung mit Feinstaub. Meine Kolleginnen Melanie Rannow und Christiane Braunsdorf aus dem Gesundheitsressort erklären Ihnen, wie Sie sich schützen können.
Es ist natürlich irrwitzig, mit der Kettensäge oder Elon Musk dem Wildwuchs der Verwaltung zu begegnen. Aber der Befund stimmt. Eine edle Aufgabe für die nächste Bundesregierung. Das Werkzeug dafür steht in Bonn bereit, schreibt mein Kollege Christoph Schwennicke in seiner Kolumne.
Zum Schluss
Der US-Präsident und seine Ideen ...
Ich wünsche Ihnen einen Donnerstag, an dem Sie die richtigen Entscheidungen treffen. Morgen schreibt wieder Florian Harms für Sie.
Ihr Mauritius Kloft
Ressortleiter Politik und Wirtschaft
X: @Inselkloft
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Mit Material von dpa.
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