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Fünf Jahre Brexit: Der Weg führt ins Nichts


Tagesanbruch
Bei dem Gedanken läuft es einem kalt den Rücken runter

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 30.01.2025 - 08:37 UhrLesedauer: 8 Min.
"Das ist ein Tabubruch", sagt Olaf Scholz über Merz' Machtmanöver.Vergrößern des Bildes
"Das ist ein Tabubruch", sagt Olaf Scholz über Merz' Machtmanöver. (Quelle: Liesa Johannssen/REUTERS)
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Guten Morgen am Tag danach, liebe Leserin, lieber Leser,

egal, welchem politischen Lager Sie zuneigen, diese Januarwoche ist für alle Bürger eine Zäsur: Gestern haben CDU und CSU erstmals mithilfe der AfD sowie der FDP und einigen fraktionslosen Abgeordneten einen Antrag im Bundestag durchgesetzt: An den deutschen Landesgrenzen soll es ein faktisches Einreiseverbot für Menschen geben, die keine gültigen Einreisedokumente besitzen und nicht unter die europäische Freizügigkeit fallen. Gelten soll dies auch für alle, die einen Asylantrag stellen wollen.

Das bedeutet viererlei. Erstens sendet es ein schroffes Signal an die EU-Partnerländer: Deutschland schottet sich ab, es vertraut in einem zentralen Politikfeld nicht mehr auf gemeinsame europäische Regeln, es geht wie Ungarn, Dänemark und Italien den nationalen Weg. Die Folge wird sein, dass auch die restlichen EU-Länder sich einigeln, die Union wird geschwächt. Unter Angela Merkel hat die Bundesrepublik die freizügige (manche würden sagen laxe) Flüchtlingspolitik begründet. Nun ist es die Bundesrepublik, die als mächtigstes Land auf dem Kontinent die Re-Nationalisierung beschleunigt.

Zweitens hat die Union ihre Brandmauer gegen die AfD eingerissen. "Es ist ein historischer Bruch", kommentiert unser Reporter Daniel Mützel. Kanzlerkandidat Friedrich Merz grenzte sich zwar verbal von der rechtsextremistisch geprägten Partei ab, legte aber keinen Wert auf eine Verständigung mit den anderen demokratischen Lagern, sondern beharrte auf seinem Plan zur Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitik. Die AfD stimmte ihm feixend zu und feiert nun die vermeintliche "bürgerliche Mehrheit", die sie seit Jahren ersehnt. Denn was einmal geschieht, kann auch ein zweites, drittes, viertes Mal geschehen: Sollte Merz der nächste Bundeskanzler werden, wonach es gegenwärtig aussieht, muss man damit rechnen, dass er sich auch in anderen Fragen taktisch gegenüber der AfD verhält. Bei dem Gedanken läuft es Demokraten kalt den Rücken herunter.

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Drittens ist die rot-grüne Macht im Bund endgültig passé. Die FDP hat die linksliberale Politik aufgekündigt; CDU, CSU und AfD haben ihr nun den Rest gegeben. Die nächste Bundesregierung wird andere Prioritäten setzen als die Ampel, auch der Zeitgeist dreht sich ins Konservative. Das muss per se nicht schlecht sein, eine stringente Ordnungspolitik und eine verlässliche Wirtschaftspolitik könnten das Land nach dem Merkel-Stillstand und dem Ampelchaos voranbringen. Ein Korrektiv wird der Merz'sche Neuanfang jedoch brauchen. Die SPD wird sich wieder in die ungeliebte Rolle der Juniorpartnerin fügen müssen, womöglich kommen auch die Grünen oder sogar die FDP wieder ins Spiel. Das mag manchen Alleingängen des selbstbewussten CDU-Chefs vorbeugen, macht das Regieren aber nicht leichter. Durchaus möglich, dass sich manche in ein, zwei Jahren nach der Ampel zurücksehnen.

Viertens lässt die Polarisierung der politischen Debatten einen erklecklichen Teil der Wähler orientierungslos zurück. Wer genug hat von der Ampel, aber Merz' Machtmanöver mit der AfD ebenso verurteilt wie Wagenknechts Kuschelkurs gegenüber Putin, fühlt sich politisch heimatlos. Viele Leser schreiben mir und fragen, welche Partei sie denn nun wählen sollen? Eine Parteiempfehlung bekommen sie von mir nicht, aber einen Rat: Wählen Sie stabile Demokraten. Die finden Sie mit Ausnahme der AfD in allen Lagern. Lassen Sie sich nicht von Scharfmachern einreden, das Land stehe kurz vor dem Zusammenbruch. Lassen Sie sich nicht weismachen, dass die da oben alle unfähig und korrupt seien. Oder dass alle Ausländer potenzielle Kriminelle seien. Oder dass es Deutschland besser ginge, wenn es sich von Europa abnabele. Denn was dann geschieht, endet nicht gut. Dazu möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen.


Es war einmal ein Land, in dem viele Leute sehr unzufrieden waren. Sie wollten, dass keine Fremden mehr kommen. Sie verlangten nach Schlagbäumen an den Grenzen, und überhaupt sollte alles anders werden. Eines Tages verließen sie ihre Häuser und begaben sich an Orte, an denen landauf, landab Kästen aufgestellt waren. Dort warfen sie kleine Zettel hinein. Jeder hatte darauf seinen Wunsch angekreuzt. Als sie mit dem Zählen der Zettel fertig waren, trauten sie ihren Augen nicht.

Oh, ein Märchen, denken Sie nun vielleicht, der Harms tischt uns heute eine Geschichte zu den Wahlen auf. Soweit korrekt. Wahrscheinlich denken Sie an eine Abstimmung über strikte neue Grenzkontrollen (auch richtig), an eine emotionale Debatte über Migration (stimmt) und an Wahlkämpfer, die Merz, Scholz, Habeck, Weidel heißen. Aber da liegen Sie falsch. Den Menschen, um die es heute geht, wurde tatsächlich ein gewaltiges Märchen aufgetischt. Sie lebten auf einer Insel, und die Story voller wundersamer Versprechungen, die nun wahr werden sollten, hieß Brexit.

Morgen ist es fünf Jahre her, dass Großbritannien das gemeinsame Europa schließlich verlassen hat, um sein eigenes Ding zu machen. Jahre der Verhandlungen waren vorangegangen, um den Ausstieg wenigstens nicht zu einem kompletten Desaster geraten zu lassen. Zwei Premiers, David Cameron und Theresa May, hatten sich daran die Zähne ausgebissen und ihren Hut nehmen müssen, dem dritten schließlich waren Zähne, Schmerzen und hässliche Bissspuren egal: Boris Johnson machte die Tür zu, koste es, was es wolle.

Und gekostet hat es. Der Brexit hat Großbritannien in eine Dauerkrise gestürzt, aus der es bis heute nicht herausfindet. Will man dem britischen Experiment einen positiven Anstrich geben, ist es dieser: Der verantwortungslose Großversuch am lebenden Objekt hat einen ganzen Schwung an wertvollen Erkenntnissen hervorgebracht. Schön war es nicht, lehrreich aber schon.

Die erste Lektion ließ nicht lange auf sich warten. Als die Stimmen ausgezählt waren und das Votum stand, war unter den Briten nicht die Freude groß, sondern der Schock. Von Jubel keine Spur, Katerstimmung allerorten: Der Tag danach geriet selbst für jene, die ihr Kreuzchen für den Ausstieg gemacht hatten, zum bösen Erwachen. Um die seltsame Reaktion zu verstehen, muss man in die gesellschaftliche Atmosphäre eintauchen, die damals in Großbritannien herrschte, aber mittlerweile längst auch anderswo zur Gewohnheit geworden ist: geprägt von Verachtung, Wut und Misstrauen.

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Als die Briten die Weichen stellten, war es um das Ansehen von Politikern und Parlament schlecht bestellt. Einige Jahre zuvor war schamlose Selbstbedienung ans Licht gekommen: Gewählte Volksvertreter, über Parteigrenzen hinweg, hatten sich auf Kosten der Steuerzahler bereichert und hemmungslos Spesen abgerechnet. Am anderen Ende der Gesellschaft, bei denen, die zu knapsen hatten, hatte sich zugleich das Gefühl breitgemacht, abgehängt und vergessen worden zu sein, ohne dass sich die politische Klasse darum scherte. Wenn in den Abendnachrichten ins ferne London geschaltet wurde, erlebten sie zynische und inkompetente Volksvertreter. Unter den Zuschauern beflügelte das allerdings nicht die Sehnsucht nach mehr Seriosität, sondern das Verlangen nach einer Zäsur.

Es waren die größten Schreihälse und die windigsten Typen, die eine radikale Alternative versprachen. Sie hetzten gegen Europa und Migranten, stellten eine leuchtende Zukunft voller Wohlstand in Aussicht. Dass sie dabei das Blaue vom Himmel herunterlogen, hat in den verbitterten, einer Perspektive beraubten Teilen der Gesellschaft nicht mehr wirklich interessiert. Denn die Brexit-Propaganda bediente den Frust und bot den Betroffenen den besten aller Gründe für ihre miese Lage an: dass sie ausgenutzt würden und andere daran schuld seien. All die Ausländer und Brüssel, klar, daran musste es liegen. Wenn die Story die Bedürfnisse befriedigt, dann ist es egal, ob sie stimmt. Jedenfalls vor der Abstimmung.

Schon am Tag nach ihrem Überraschungssieg kassierten die Brexit-Propagandisten ihre wichtigste Lüge: Sie hatten behauptet, dass die niederträchtige EU Woche für Woche 350 Millionen Pfund aus Großbritannien herauspumpe – eine Riesensumme, die nach dem Ausstieg endlich wieder den Briten und vor allem dem völlig maroden Gesundheitssystem zugutekomme. Versprechungen wie diese zerbröselten in atemberaubendem Tempo. Binnen Stunden, nachdem das Ergebnis des Referendums bekannt war, verwandelte sich die vermeintlich traumhafte Zukunft in einen Albtraum. Es stimmt schon: Nicht nur bei den Briten nehmen es Wahlkämpfer mit der Wahrheit nicht so genau. Aber dass so hemmungslos und so effektiv gelogen wurde, läutete eine neue Ära ein.

Zu den Lektionen der darauffolgenden Jahre gehört, dass nichts besser wird, wenn der populistische Furor seinen Anhängern einen Sieg beschert. Die Spaltung der britischen Gesellschaft: ist geblieben. Die Probleme: auch. Das Vertrauen in die Politik: so beschädigt wie zuvor. Jahrelang hat sich der Brexit-Prozess zur Ziellinie gequält und nach dem endlich vollzogenen Ausstieg seit nunmehr fünf Jahren weitergeschleppt – aber der Ballast ist nicht weniger geworden. Global Britain, "globales Britannien" lautete eines der Versprechen: Das Land werde von den Fesseln der EU mit ihren unzähligen Regeln und Vorschriften befreit sein, unbeschwert Handelsabkommen rund um die Welt abschließen und einen ganz neuen Weg zum Wohlstand erschließen.

Das war Populismus pur: Klang gut, war Unfug. Die Luftblase ist geplatzt, der Geldsegen ausgeblieben, die Integration in den gewaltigen Markt der EU ist jetzt aber auch futsch. Die Zollschranken sind zurück, andere Schranken auch. Die Debatten über Migration sind so toxisch wie eh und je, gestoppt ist der Zustrom auch durch die selbstverwaltete Grenze nicht. Die weiteren Aussichten sind trübe. Der Brexit und seine Folgen liegen wie Blei auf der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Armutsquote in Großbritannien ist so hoch wie noch nie im 21. Jahrhundert. Mehr als jedes dritte Kind lebt in Armut.

Der Brexit demonstriert aber auch, wie wenig späte Erkenntnis nützt. Die alten Mehrheiten sind Geschichte, die Reue ist groß. 55 Prozent der Briten halten den Brexit heute für einen Fehler, nur magere 30 Prozent können ihm noch etwas abgewinnen. Die übrigen 15 Prozent verstehen die Welt bis heute nicht. Selbst die Chefin der Tories, also der Partei, die sich das Referendum ausgedacht und den Brexit dann auf Biegen und Brechen durchgezogen hat, gesteht nun öffentlich ein, wie haarsträubend ihr Verein vorgegangen ist. Man habe den EU-Ausstieg verkündet, ohne einen Plan zu haben: "Wir sagten den Leuten erst mal, was sie hören wollten." Immerhin: In der Opposition kann sie das über die Lippen bringen.

Doch an der Macht ist das Eisen zu heiß. Premier Keir Starmer beschwört seine roten Linien: kein gemeinsamer Markt, keine Zollunion, keine freie Wahl des Aufenthalts zwischen Großbritannien und der EU. Einen Neuanfang mit Brüssel wünscht er sich – aber bloß keinen Neustart der zerrüttenden Brexit-Debatte. Dann kehren die Schreihälse nämlich doppelt so laut zurück. Der Brexit war ein Fehler, da sind sich die meisten Briten mit ihren Politikern einig. Einen Weg zurück gibt es trotzdem nicht.

Deshalb sollten wir im aufgewühlten Deutschland eine Lehre daraus ziehen: Wer wie die AfD pauschal gegen Migranten hetzt, demokratische Institutionen in den Dreck zieht und aus der EU austreten will, zerstört den gesellschaftlichen Frieden und gefährdet den wirtschaftlichen Wohlstand. Auf den Landkarten Europas sollte über der Insel da oben eigentlich nicht mehr "Großbritannien" stehen. Sondern ein Tipp für alle Wähler: "Nachdenken. Vorher."


Ohrenschmaus

Der Brexit ist eine endlose Irrfahrt. Und das hier ist die inoffizielle Hymne der Briten.


Lesetipps

"Die AfD arbeitet systematisch daran, Deutschland in einen autoritären, völkischen Albtraum zu verwandeln": Das Buch zur Stunde haben Michael Kraske und Dirk Labs verfasst. In "Angriff auf Deutschland" beschreiben sie eine alarmierende Entwicklung.




Bei einem Unglück nahe dem US-Hauptstadtflughafen in Washington ist eine Passagiermaschine in der Luft mit einem Militärhelikopter kollidiert. An Bord des Flugzeugs sollen mehr als 60 Personen gewesen sein. Mein Kollege Bastian Brauns, der sich in Washington einen ersten Überblick über die Lage verschafft hat, berichtet von einem riesigen Rettungseinsatz.


Zum Schluss

Das Schiff hat Schlagseite.

Ich wünsche Ihnen einen stabilen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von David Schafbuch.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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Mit Material von dpa.

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