Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Deutschland kann es besser als Trump
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
mag man es begrüßen oder verdammen, leugnen lässt es sich nicht: Der Amtsantritt von Amerikas Ellenbogenpräsident scheucht Politik und Gesellschaft auf – nicht nur drüben im Land der unbegrenzten Überraschungen, auch hierzulande in unserem beschaulichen, etwas angestaubten Deutschland. Fast 80 Dekrete hat Donald Trump an seinem ersten Amtstag unterschrieben, so viele wie kein Neupräsident zuvor. Seither folgen Knall auf Fall weitere administrative Erdbeben (und Erdbebchen).
Der Schaffensdrang fällt auf. "Der packt Probleme an!", raunt es anerkennend an Stammtischen zwischen Flensburg und Füssen, auf Wohnzimmersofas und Chats auf Facebook, WhatsApp und Co. "Er mag ein schräger Vogel sein, aber er macht wenigstens was!" Die Furcht vor dem Racheengel in Washington scheint sich bei vielen Bundesbürgern zu klammheimlicher Anerkennung oder gar offener Bewunderung zu wandeln: Donnerwetter, ein Teufelskerl!
Den Anschein eines Hauruckreformers erweckt der laut Selbstauskunft "beste Präsident aller Zeiten", weil sich die Probleme gegenwärtig ballen: Wenn es von der Wirtschaft über die innere und äußere Sicherheit bis zur Infrastruktur unendlich viel zu tun gibt, aber die Berliner Regierung ohne Mehrheit nichts mehr auf die Reihe kriegt, fällt ein Macher, der andernorts an wenigen Tagen ganz viel tut, umso stärker auf.
Tut Trump wirklich so viel – oder tut er nur so? Die kurze Aufmerksamkeitsspanne vieler Zeitgenossen bedingt, dass die meisten das gar nicht so genau wissen wollen. Hören sollten sie es trotzdem: Viele Erlasse, mit denen der politische Kraftprotz Tatkraft beweisen will, stoßen auf heftigen Widerstand. Es ist offen, ob sie jemals umgesetzt werden.
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Beispiele gefällig? Die Begnadigung Hunderter Krimineller, die vor vier Jahren das Kapitol in Washington stürmten, tritt zwar sofort in Kraft. Doch gegen andere Dekrete haben mehrere amerikanische Bundesstaaten und Nichtregierungsorganisationen Klagen eingereicht, weil sie Verfassungsrecht verletzen – und das kann zum Glück (noch) nicht einmal der Präsident per Federstrich außer Kraft setzen. Das gilt beispielsweise für die Abschaffung des Geburtsortsprinzips, das jedem Menschen, der in den USA das Licht der Welt erblickt, die amerikanische Staatsbürgerschaft beschert. Auch die vollmundigen Versprechen zur dauerhaften Abriegelung der Grenzen und zur Erhebung von Einfuhrzöllen müssten zunächst einmal in Gesetze gegossen werden – was angesichts der knappen Republikaner-Mehrheit im Kongress harte Verhandlungen erwarten lässt. Bisher sollen die losgeschickten zwei-, dreitausend Nationalgardisten und Armeeangehörigen an der Grenze zu Mexiko vor allem bei der Registrierung von Migranten helfen. Gelöst ist das Problem illegaler Einwanderung damit jedenfalls noch lange nicht.
Und sonst? Schnapsideen wie die Umbenennung des Golfs von Mexiko und Winkelzüge wie der Flankenschutz für die chinesische TikTok-App könnten an internationalem Recht oder wirtschaftlichen Realitäten scheitern. Langwierige Kämpfe vor Gericht dürften folgen, für die die neue Regierung "viele Ressourcen aufwenden muss", prophezeit der New Yorker Politikwissenschaftler Gerard Filitti.
Der oberste "Dealmaker" scheint sich dieser Schwierigkeiten bewusst zu sein. "Vielleicht haben Sie recht", antwortete Trump auf die Anmerkung eines Journalisten, dass einige seiner Anordnungen womöglich nie Bestand haben werden. Sein Macher-Image ist ihm erkennbar wichtiger als die tatsächliche Umsetzung seiner Pläne. "Trump hat sich immer mehr für die Show als für die Substanz interessiert. Er ist ein Verkäufer", urteilt der Washingtoner Politologe Peter Loge.
Was bedeutet das für ein Land wie Deutschland, was können wir aus dem Spektakel lernen? Nicht bei jedem Tweet und jeder Ankündigung des Donalds muss man gleich aus dem Häuschen sein, sondern sollte kühlen Kopf bewahren, das hatten wir am Dienstag schon. Die USA verändern sich unter dieser Regierung, aber diese Regierung wird sich auch unter den Gegebenheiten in den USA verändern. Und diese Gegebenheiten sind nun einmal eine gespaltene Bevölkerung, eine starke demokratische Opposition und selbstbewusste Bundesstaaten, die ohnehin ihren eigenen Stiefel machen, wer auch immer gerade im Weißen Haus residiert. Demokratisch regierte Staaten wie Kalifornien, Colorado und Illinois haben eine Allianz gegründet, um sich gegen Trumps Politik zu wehren. Sie bekommen regen Zulauf, bei einigen Streitfragen sogar von Republikaner-Staaten.
Den Schmerz über den hierzulande ausbleibenden Aufbruch lindert diese Erkenntnis jedoch nicht. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist angesichts der schwachen Wirtschaftslage aus triftigen Gründen der Meinung, dass es "grundlegende Reformen" brauche. So ist es einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa für die deutschen Arbeitgeberverbände zu entnehmen, die unserer Redaktion exklusiv vorliegt. Demnach halten nur zwei Prozent das Land "alles in allem gut für die Zukunft gerüstet" – aber 76 Prozent sehen grundlegenden Reformbedarf: vor allem bei der Bildung, der Energieversorgung und im Gesundheitssystem. Auch die Bundeswehr und die Reparatur von Straßen, Brücken und Bahnstrecken erfordert schnell einen Batzen Geld.
Dass der reguläre Bundeshaushalt dafür nicht ausreicht, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Sogar Deutschlands oberster Kassenwart, Bundesbankpräsident Joachim Nagel, plädiert nun für eine Lockerung der Schuldenbremse: "Die nächste Bundesregierung, wer immer sie bilden wird, sollte die Schuldenbremse reformieren. Das wäre unser Rat", hat Nagel den Kollegen des "Spiegel" gesagt. Deutschland habe angesichts der niedrigen Schuldenquote durchaus Spielraum: "Wir sollten nicht die Augen davor schließen, dass wir für die Aufgaben der Zukunft mehr Geld benötigen."
Noch wichtiger als Geld ist jedoch etwas anderes: Ein echter Aufbruch erfordert politischen Mut, eingeschliffene Missstände wirklich zu überwinden. Taten statt Worte. Nicht als zweifelhafte Show, sondern mit durchdachten und langfristig wirksamen Gesetzen. Es lohnt sich, sorgfältig zu planen und alle Instanzen der demokratischen Entscheidungsfindung einzubeziehen. So gewinnt man Know-how und schafft gesellschaftliche Akzeptanz über Milieus und politische Lager hinweg. Deshalb ist es so wichtig, dass der nächste Bundestag eine stabile Regierungsmehrheit ermöglicht, die anschließend klug mit dem Bundesrat verhandelt. Spätestens in der Länderkammer würden Schnellschüsse nämlich versanden.
Und das ist gut so. Die Republik braucht dringend einen Ruck. Hauruckverfahren braucht sie nicht.
Entsetzen nach Doppelmord
Die Messerattacke in Aschaffenburg löst bundesweit Trauer und Fassungslosigkeit aus: Ein zwei Jahre alter Junge und ein 41-jähriger Mann wurden gestern erstochen, zwei weitere Menschen schwer verletzt. Von einem "entsetzlichen Tag für ganz Bayern" spricht Ministerpräsident Markus Söder, Kanzler Olaf Scholz rief noch gestern Abend die Chefs der Sicherheitsdienste ins Kanzleramt und kündigte "Konsequenzen" an. Der mutmaßliche Täter, ein 28-jähriger Afghane, hatte eine Kindergartengruppe angegriffen, der er in einen Park gefolgt war.
Frappierend sind die Parallelen zu den anderen Bluttaten der jüngeren Vergangenheit: Wie beim Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt war der Tatverdächtige offenbar psychisch krank, bereits mehrfach auffällig geworden und den Sicherheitsbehörden bekannt. Und wie bei den Messermorden von Solingen handelt es sich um einen Asylbewerber, dessen Verfahren eingestellt wurde und der offenbar ausreisepflichtig war.
Noch immer funktionieren die deutschen Behördenverfahren nicht zuverlässig. Das macht tatsächlich fassungslos. Unschwer zu erahnen, wer die Gräueltat im Wahlkampf gnadenlos ausschlachten wird.
Pistorius in Paris
Fast könnte man meinen, im deutsch-französischen Verhältnis stünde alles zum Besten: Gestern weilte Kanzler Olaf Scholz zum 62. Jahrestag des Élysée-Vertrags in Paris und betonte mit Präsident Emmanuel Macron die Wichtigkeit eines geeinten Europas. Heute reist schon das nächste Regierungsmitglied an die Seine: Verteidigungsminister Boris Pistorius eilt nach Stippvisiten in Litauen und Polen zu einem Treffen mit seinem französischen Amtskollegen Sébastien Lecornu, am Abend wird er mit dem Verdienstorden der Ehrenlegion ausgezeichnet.
Tatsächlich kann die rege Reisetätigkeit nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zwischen beiden Ländern heftig ruckelt: Nicht nur stehen die Regierungschefs schwer angeschlagen ohne eigene parlamentarische Mehrheit da. Auch in wichtigen Fragen wie der Ukraine-Hilfe oder dem Freihandelsabkommen mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten herrscht Dissens.
Aber es nützt ja nichts: Will sich die EU gegen die Attacken des Donalds behaupten, müssen ihre beiden wichtigsten Mitgliedsstaaten mit einer Zunge sprechen. Einige Anknüpfungspunkte gibt es ja: Beim Bürokratieabbau etwa haben Berlin und Paris zusammen eine Initiative gestartet. Und die Verteidigungsminister haben den Weg für ein gemeinsames Rüstungsprojekt geebnet.
Goldene Kandidaten
Nach einer Verschiebung wegen der Brände in Los Angeles ist es heute so weit: Die Academy der Filmschaffenden verkündet ihre Oscar-Nominierungen. Zu den Favoriten zählen Steifen wie "Konklave", "The Brutalist" und die Bob-Dylan-Eloge "Like A Complete Unknown". Deutscherseits ruhen die Hoffnungen auf "Die Saat des heiligen Feigenbaums", der in der Sparte "International Feature Film" Chancen hat. Die größere Show findet aber vermutlich in Davos statt: Showmaster Trump schaltet sich per Video beim Weltwirtschaftsforum dazu und will wieder ein paar starke Sprüche klopfen.
Ohrenschmaus
Bei großen Shows fällt mir ein anderer ein. Der konnte es wirklich.
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Zum Schluss
Toll, diese Dekrete!
Ich wünsche Ihnen einen entspannten Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.